Sonntag, 5. Mai
Er wurde kurz nach vier Uhr von Henriette geweckt: "Aufstehen, Monsieur le Commissaire, es tut sich was."
Berteau kroch verschlafen aus dem Zelt und bemühte sich, wach zu werden. Henriette trug einen hellen, vermutlich weißen Bademantel und sah ein wenig aus, wie die weiße Frau vom Fort Bloqué. "Was ist", fragte er, "hat man Sie etwa auch zum Beobachtungsdienst eingeteilt?"
"Ach, Quatsch!", sie lachte, "Ich mußte nur mal. Und da sah ich da drüben" sie deutete in die Richtung der Landspitze, auf der die gegenüberliegenden Landzunge liegen mußte "die Scheinwerfer eines Fahrzeugs, das dicht an die Küste heranfuhr und dann Lichtsignale auf die See hinaus abgab. Und eine Minute später wurden die Signale aus dieser Richtung" sie zeigte jetzt dorthin, wo die Ile Oublieé zu suchen war, "beantwortet, und zwar mit einer sehr starken Lampe. Zweimal kurz, zweimal lang. Albert ist jetzt auf Beobachtungsposten. Ich hab mit ihm gesprochen, und er meinte, ich solle Sie wecken."
Sie tappten gemeinsam durch die Nacht zum Ausguck. So ganz ohne Mondlicht war das Camp so dunkel, daß Berteau zweimal über gespannte Zeltschnüre stolperte und unwirsche Reaktionen der Zeltinhaber auslöste. Sie benutzten keine Taschenlampe,da sie wußten, daß deren Schein meilenweit über das offene Meer zu sehen sein mußte, und sie wollten keine Aufmerksamkeit erregen.
Wenn Berger sie nicht angerufen hätte, wären sie im Dunkeln glatt an ihm vorbeigestolpert.. Der Flic bestätigte Henriettes Schilderung und fügte hinzu: "Die Lichtsignale muß das Fahrzeug ungefähr von der Stelle abgegeben haben, an der Sie gestern ihre Staffelei aufgestellt hatten. Eine andere Möglichkeit, mit freiem Blick nach Westen direkt an die Kante heranzufahren, gibt es ja fast nicht.
Danach hat das Fahrzeug gewendet und ist auf die Straße zurück weiter nach Norden zum Kap gefahren. Dort hat man es wohl auf dem bewußten Parkplatz abgestellt. Eine so finstere Nacht hat immerhin den Vorteil, daß man jeden Lichtkegel erkennen kann, den ein Fahrzeug da hinten auf der Straße erzeugt. Was ist, sollen wir die Kollegen von der Gendarmerie da oben zugreifen lassen?"
Berteau schüttelte den Kopf, obwohl Berger das im Dunkeln nicht sehen konnte: "Nein, noch nicht. Es ist so finster, daß die Kameraden dort auf der Insel, selbst, wenn sie nach Kompaß fahren, leicht die Landspitze verfehlen könnten. Ich denke, sobald sie freies Gewässer erreichen, wird ihnen der Kumpel da oben ein Peilsignal geben, und das wollen wir doch nicht verhindern, so lange es noch so dunkel ist."
Sie warteten ungefähr eine halbe Stunde, dann sah man drüben, wo sich die Insel befinden mußte, den zitternden Lichtfinger eines Handscheinwerfers über das Wasser huschen. Berteau nickte: "Na, wenigstens versuchen sie das nicht ganz ohne Licht. Das Unternehmen ist so schon gefährlich genug. Berger, eine Verbindung zum östlichen Küstenwachboot!"
Berger drehte dem Meer den Rücken zu. Er benutzte eine Taschenlampe mit Tarnblende, um die Tastatur des Handys erkennen zu können. Er wählte und reichte Berteau das Gerät.
Der Kommandant des Küstenwachboots meldete sich. Berteau sprach völlig unnötigerweise mit gedämpfter Stimme: "Sie kommen! Haben Sie sie auf dem Schirm?"
Es dauerte einige Sekunden, dann antwortete der Kommandant: "Oui, Monsieur le Commissaire, klar und deutlich. Wie sollen wir vorgehen?"
"Erst einmal abwarten!", Berteau bediente sich jetzt eines normalen Tonfalls, "Lassen Sie unsere Freunde die Hälfte ihrer Strecke zurücklegen, damit sie es sich nicht noch mal anders überlegen. Erst dann fahren Sie ihnen entgegen und stellen sie vielleicht einen halben Kilometer vor der Küste. Bringen Sie das Boot auf und schleppen sie es nach St. Malo. Und geben sie acht, daß ihnen die Leute nicht durch die Lappen gehen. Es müssen drei Mann sein. Verständigen sie das andere Boot. Es soll Fahrt aufnehmen und um die Insel herumkommen und so unseren Freunden den Rückweg abschneiden. Sobald es diesseits der Insel ist, soll es volle Christbaumbeleuchtung setzen, damit die Brüder erst gar nicht auf die Idee kommen, abzudrehen.
Noch was: Wenn die Banditen aus dem Bereich der Riffe heraus sind, werden sie sicher ohne Licht fahren. Sie mit ihrem Radar sind also unser Auge. Verständigen Sie uns, wenn Sie Fahrt aufnehmen"
Der Kommandant bestätigte, und Berteau schaltete ab. "Hoffentlich dämmert es bald.", knurrte er, "Es ist zum Mäusemelken, daß man so überhaupt nichts sehen kann."
Die Zeit verging quälend langsam, bis sich der Kommandant des Küstenwachboots wieder meldete. " Objekt hat jetzt vorgesehene Position erreicht", berichtete er, "wir setzen uns in Marsch. Das zweite Boot muß gleich in Ihr Blickfeld kommen!"
Tatsächlich tauchten wenige Minuten später etwas querab des Punktes, an dem die Insel liegen mußte, die Lichter eines Schiffes auf. Wie vereinbart, hatte der Kommandant volle Beleuchtung gesetzt. Suchscheinwerfer glitten über das Wasser. Selbst die blaue Polizei- Rundumleuchte warf ihre Reflexe. " Gut," , nickte Berteau, "gut, wenn auch ein klein wenig übertrieben."
Von Norden her waren jetzt auch die Positionslichter des Bootes zu erkennen, mit dessen Kommandant der Kommissar gesprochen hatte. Zielstrebig bewegten sie sich auf einen imaginären Punkt zu, bei dem das Rendezvous stattfinden sollte.
Berteau hätte fast das Fahrzeug am Kap vergessen. Eilig ließ er sich eine Verbindung mit der Gendarmeriegruppe geben. "Zugriff", befahl er, "verbleiben Sie aber an Ort und Stelle, bis wir wissen, wie es draußen auf dem Wasser geendet hat."
Zwanzig Minuten später flammten auch an dem aus Norden anfahrenden Boot Suchscheinwerfer auf. Man konnte hören, daß über einen Lautsprecher Anweisungen gebrüllt wurden, ohne sie allerdings verstehen zu können.
Wiederum zehn Minuten später meldete sich der Kommandant des Polizeibootes. "Aktion beendet, Monsieur le Commissaire. Der Kutter ist aufgebracht. Kein Widerstand von der Besatzung!"
Berteau fragte nach: "Was mich in erster Linie interessiert, ist, ob Diebesgut an Bord war"
"Oui, Monsieur", berichtete der Kommandant, " etwa zwanzig hölzerne Heilige, allesamt sorgfältig in Folie eingeschweißt, dazu jede Menge Kirchensilber. Aber..."er zögerte einen Moment "es waren nur zwei Personen an Bord. Der Eine ist Albert Didier, wir kennen ihn von den Fahndungsunterlagen. Der andere heißt mit Vornahmen Joel, seinen Nachnamen müssen wir erst noch ermitteln. Von der dritten Person sind nur noch die Klamotten auf dem Boot. Wir mußten Albert schon ziemlich kitzeln, bis er zugegeben hat, daß sich sein Bruder Charles entschlossen hat, über Bord zu gehen und an Land zu schwimmen. Der Kerl hat vielleicht Nerven! In einer halben Stunde setzt die Ebbe wieder ein, und wenn der auch nur zehn Minuten zu spät dran ist, hat er keine Chance, gegen die Strömung anzukommen."
Berteau unterbrach die Verbindung und reichte Berger das Handy. "Merde, ausgerechnet der Chefgangster hat sich dünnegemacht. Der Kerl hält sich wohl für einen ganz großen Hai! Verständigen sie die Kollegen am Parkplatz, sie sollen noch eine halbe Stunde warten, aber versteckt. Denkbar, daß sie gleich noch Besuch in Unterhosen bekommen. Sie sollen aber vorsichtig sein. Charles Didier ist zuzutrauen, daß er einen Revolver für das wichtigste Kleidungsstück überhaupt hält. Sagen Sie mir Bescheid, wenn es etwas Neues gibt. Ich bin im Zelt, meinen Krempel packen."
*****
Josephe Daladier saß im Führerhaus seines Lastwagens und sah mit traurigen Augen aufs Meer hinaus. Er hatte von seinem Standort aus zwar die Lichterspiele draußen auf dem Meer nicht verfolgen können, aber er ahnte, daß das beabsichtigte Geschäft wohl geplatzt war. Es würde wohl nichts werden mit dem neuen Lastwagen und wahrscheinlich würde er in der nächsten Zeit den alten auch nicht mehr brauchen.
Die Flics hatten ihm die Wagenschlüssel weggenommen. Nicht, daß er es nicht geschafft hätte, den Wagen trotzdem zu starten, aber mit durch die Speichen des Lenkrads gezogenen Handschellen ließ es sich schlecht lenken. Außerdem bestanden da gewisse Zweifel, ob er mit seinen alten, klapprigen Wellblech-Citroen eine Chance gegen die Streifenwagen hatte, die bestimmt irgendwo versteckt in den Dünen standen.
Im Rückspiegel beobachtete er, wie die einsetzende Dämmerung den Himmel rot färbte. Er fragte sich, worauf die Flics eigentlich noch warteten. Sie hatten ihm eingeschärft, sich ja ruhig zu verhalten und waren vor einigen Minuten zwischen den Hügeln veschwunden.
Vorne am Pfad wurde jetzt eine halbnackte Gestalt sichtbar, die sichtlich abgekämpft auf den LKW zustolperte. Josephe erkannte Charles Didier und war versucht ihn zu warnen. Aber durch die geschlossenen Fenster verstand Charles seinen Zuruf nicht.
Er riß die Beifahrertür auf und schwang sich triefend naß in den Wagen: "Fahr los", zischte er, "nichts wie weg. Die anderen sind aufgeflogen!"
Josephe hob beide Hände, soweit es die Handschellen zuließen: "Wir leider auch, Charles, wir auch."
In diesem Augenblick wurde auf Charles Seite die Tür aufgerissen, und ein Gendarm preßte ihm die Mündung einer Maschinenpistole in die Seite: "Das wars wohl, Charles Didier, Sie sind verhaftet."
*****
Berteau war mit dem Volvo allein nach St. Malo gefahren. Berger, der sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen hatte, sollte so rechtzeitig nachkommen, daß er den Wilden vom Bahnhof abholen konnte. Zwar war dessen Einsatz jetzt nicht mehr notwendig, aber man konnte den Maler ja nicht einfach stehen lassen.
Es wurde zehn Uhr, bis Berteau, ein Staatsanwalt, ein Untersuchungsrichter, die vier Verhafteten und das sichergestellte Diebesgut einträchtig in Berteaus Behelfsbüro auf der Gendarmerie in St. Malo versammelt waren.
Eine zunächst anberaumte gemeinsame Vernehmung der Ganoven erbrachte kein Ergebnis.. Charles Didier schwieg verstockt und aus Prinzip, die anderen drei fürchteten sich offensichtlich vor ihm und wagten nicht, in seiner Gegenwart den Mund aufzutun.
Die folgenden Einzelvernehmungen waren zunächst auch unergiebig, bis es Monsieur de Luc, der Staatsanwalt schaffte, Josephe Daladier die Zähne zu lockern. "Was glauben Sie, Josephe, was jetzt passiert? Sie, ihr Bruder und die Didiers sind des Kirchenraubs überführt, das ist Fakt. Kommen Sie mir nicht auf die Idee, behaupten zu wollen, sie hätten den ganzen Krempel hier", er zeigte auf die aufgestapelte Beute, "zufällig auf der Ile oubliée gefunden und ihn nur bei den Behörden abliefern wollen! Dazu fährt man nicht bei Nacht und Nebel im unbeleuchteten Boot quer über den Golf. Und außerdem ist die Ile Sperrgebiet, Sie konnten also nicht zufällig da draußen sein!
Die Gebrüder Didier haben wegen derselben Sache schon vier Jahre abgesessen, und mindestens dasselbe kommt für sie als Wiederholungstäter wieder heraus. Dazu kommt, daß wir bei Charles eine geladene Waffe gefunden haben, da lässt sich die Sache leicht zum bewaffneten Raub aufbohren und noch ein Jahr draufpacken.
Es liegt jetzt ganz an mir als Anklagevertreter, ob ich Euch Daladiers nun als Ersttäter und Mitläufer mit geringerem Strafantrag einstufe oder als vollwertige und damit auch gleich zu bestrafende Bandenmitglieder.
Dazu kommt vorsätzliche Gefährdung der Küstenschiffahrt, wie gesagt, wegen fehlender Beleuchtung des Bootes. Und dann wissen Sie, so gut wie ich, zweierlei: Erstens, von dem, was Sie und die Didiers zusammengeklaut haben, fehlt noch mehr als die Hälfte. Wir müssen also wenn Sie den Mund nicht aufmachen, die Insel auf den Kopf stellen. Zweitens, die Insel ist verseucht. Erstens würde also bedingen, daß wir für unbestimmte Zeit eine Hundertschaft von
Kollegen einer unbestimmten, aber ernsten Gefahr aussetzen müßten.
Ein einziger Infektionsfall, mein Guter, und ich hänge Euch auch noch vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch Verschleppen einer Seuche an. Ich sage Euch, Ihr werdet alt und grau, ehe Ihr euch wieder ungesiebte Luft um die Nase wehen lassen könnt, wenn ich erst richtig hinlange!"
Josephe war während des Vortrags des Staatsanwalts immer kleiner geworden. Jetzt gab er kleinbei: "Bon, Sie haben gewonnen. In den alten Marinekasematten lagert noch einmal etwa dieselbe Menge. Wenn Sie wollen, führe ich Ihre Leute hin."
Berteau, der den Ausführungen de Lucs schweigend gefolgt war, atmete auf. Er ließ den Kommandanten des Küstenwachbootes rufen, von dem er wußte, daß er irgendwo im Gebäude auf neue Anweisungen wartete.
" Unser Freund hier", informierte er den Kommandanten, "ist bereit, Ihnen zu zeigen, wo sich der Rest der Sore auf der Insel befindet. Frage: wie lange denken Sie, wird es dauern, bis Sie das Diebesgut hierhergeschafft haben?"
Der Kommandant zog ein saures Gesicht. "Hören sie, Monsieur le Commissaire, wir sind jetzt dieses Wochenende den dritten Tag ununterbrochen wegen Ihrer Heiligen im Einsatz! Aber wenn es denn unbedingt sein muß! Gerechnet vom Auslaufen, also heute nachmittag kurz vor sechzehn Uhr, ist das eine Dreißig-Stunden-Aktion, denn wir können mit unserem Boot drüben auf der Insel nur bei Flut und Helligkeit rein und auch wieder raus. So ein Manöver, wie die da", er zeigte auf Josephe, "können wir bei unserem Tiefgang nicht riskieren. Und nachdem wir zwischen Einlaufen und Auslaufen ja auch noch was arbeiten sollten, hängen wir einen Tag lang auf der Insel fest."
Berteau setzte ein mitfühlendes Gesicht auf: "Ich kann Ihre Laune verstehen, Kommandant, aber aus Gründen, die ich hier nicht erläutern darf, kann ich nicht einen weiteren Tag warten". Er log, weil er nicht in Gefahr laufen wollte, noch einmal einen Tag auf dem Nudistenstrand verbringen zu müssen. " Eigentlich sind mir die von Ihnen avisierten dreißig Stunden schon zu viel. Unter den Gegenständen, die Sie von der Insel holen sollen, muß unter anderem ein Gemälde sein, in den Abmessungen einszehn mal einssiebzig ungefähr, eine Strandszene mit einem Boot und Gwitterstimmung" , er sah Josephe Daladier fragend an: "Ist das so?"
Der Gefragte nickte schwach. Berteau fuhr, wieder an den Kommandanten gewandt, fort: "Dieses Bild muß unbedingt schnellstens in meinen Besitz kommen. Es gehört nämlich zu einer anderen, weit wichtigeren Geschichte, als all diese Heiligen."
Der Kommandant nickte grimmig und zog Josephe vom Stuhl hoch: "Na dann," knurrte er, "gehen wir. Monsieur le Commissaire, Sie hören von mir."
*****
Henriette de Lacroix, Korporal Berger und Kasurintin le Breton, den die beiden direkt vom Bahnhof abgeholt hatten, schneiten kurz nach Mittag herein. Der Wilde zeigte sich zunächst erfreut über die Tatsache, daß der Komplex Kircheneinbrüche gelöst war, ohne daß er für einen weiteren Undercover-Einsatz herangezogen werden mußte. Er zeigte sich allerdings herb enttäuscht, als er hörte, daß sich <la Tempête> noch nicht unter den sichergestellten Gegenständen befand. Berteau beruhigte ihn mit dem Hinweis, das Bild befände sich laut Daladiers Aussage im Depot draußen auf der Insel und würde im Laufe der nächsten sechsunddreißig Stunden geborgen werden.
Le Sauvage atmete auf. Eigentlich hatte er umgehend wieder nach Lorient zurückfahren wollen, aber unter diesen Umständen bat er, bis zur Sicherstellung des Bildes hierbleiben zu können.
Berteau seufzte und sah auf die Uhr. Es war Zeit, Essen zu gehen, und er schlug vor, gemeinsam ins Hôtel du Port zu fahren und dort während einer Mahlzeit das Vorgehen der nächsten Stunden zu besprechen.
Berteau gestattete Berger, die folgende Nacht noch einmal bei Henriette auf dem Campingplatz zu verbringen und brachte le Sauvage ersatzweise in dessen Zimmer im Hotel unter. Der Portier mokierte sich zuerst etwas über die neuerliche Änderung, meinte dann aber, solange die Rechnung beglichen würde, könne der Kommissar halb Frankreich oder wie bisher, auch niemand in den angemieteten Zimmern einquartieren.
Henriettes ständige Anwesenheit irritierte Berteau. So versuchte er, beim Café diplomatisch zu sein. Er sah auf die Uhr und sagte bedächtig: "Mademoiselle, Ihr Albert und ich, wir haben jetzt noch einige Zeit zu arbeiten. Ich schlage vor, Sie holen ihn gegen siebzehn Uhr bei der Gendarmerie ab und bringen ihn mir morgen um neun wieder."
Henriette verstand den Wink und schmollte. " Nun gut, schlagen wir uns die Zeit eben anderweitig um die Ohren. Wie ist das, Monsieur le Breton, geben Sie mir die Ehre, mich auf einem Stadtbummel zu begleiten?"
Der Angesprochene blickte zögernd von Einem zum Anderen. Erst als er sah, daß Berger unmerklich nickte, erklärte er sich mit Henriettes Vorschlag einverstanden, und die beiden zogen ab.
Die beiden Beamten fuhren zurück zur Gendarmerie. Berteau ließ vorsichtshalber zwei paar Gummihandschuhe besorgen, ehe sie sich an die Sichtung des sichergestellten Materials machten. Sie zählten und hakten auf ihrer Suchliste sechsundzwanzig Skulpturen, darunter auch die vermißten Heiligen von Ste. Anne-la-Palud, sowie vierzig verschiedene Teile Altarsilber ab.
Berteau mußte den Ganoven widerwillig eine gewisse Sorgfalt in der Behandlung der geklauten Gegenstände zubilligen. Stück für Stück war sorgfältig luftdicht in Plastikfolie verschweißt und jede Verpackung enthielt ein kleines Säckchen mit Kieselgel, ein Trockenmittel, das die Feuchtigkeit aus der in der Verpackung verbliebenen Luft abzog.
Über letzteren Umstand hatte er gemischte Gefühle. Bei Figuren,deren Holz gesund und trockenen war, hatte das Verfahren sicher den Vorteil, daß bei längerer Lagerung nicht die Gefahr bestand, daß Feuchtigkeit und Moder von den Skulpturen Besitz ergriff.
Anders sah es dagegen mit Gegenständen aus, bei denen infolge von unsachgemäßer Aufstellung bereits vor dem Diebstahl die Fäulnis schon im Holz saß. Hier mochte allzu intensive Trocknung dazu führen, daß die Skulptur bei kräftigerer Berührung zu Staub zerfiel. Nun, damit mochten sich nach Freigabe des Diebesguts Restauratoren beschäftigen.
Berteau war unklar, ob die Diebe diese Verpackungsart als Konservierungsmaßnahme oder zum Schutz vor befürchteter Verseuchung mit Milzbranderregern gewählt hatten. Zumindest bedurfte diese Vorgehensweise einer gewissen Logistik.
Die Didier-Brüder zeigten sich auf eine dahingehende Befragung nach wie vor verstockt und schwiegen hartnäckig. Joel Daladier, dem mittlerweile klar geworden war, daß sein Bruder eine Lücke in die Front des Schweigens gebrochen hatte, gab jedoch so nach und nach Einzelheiten preis.
Ja, die Didiers hatten das Problem mit der möglichen Verseuchung schon bei Ihrer früheren Einbruchsserie erkannt. Der bei der ersten Verhaftung umgekommene Didier-Bruder hatte seine Militärzeit bei einer Abteilung abgedient, die sich mit dem Einsatz und der Abwehr von chemischen und biologischen Waffen beschäftigte, und wußte was zu tun war.
Die Ganoven hatten sich auf der Insel nur in hohen, dichten Wathosen bewegt, wie sie die Angler tragen, wenn sie bis zur Hüfte im Wasser stehen. Etwas angefasst hatten sie nur mit Gummihandschuhen. Sie hatten sogar daran gedacht, ihre Ausrüstung, die sie in einem getarnten Geräteschuppen im alten Hafen lagerten, jedesmal nach Benutzung zu dekontaminieren. Sie benutzten dazu eine stark verdünnte Chlorkalklösung, selbst die Verpackung der jetzt abtransportierten Gegenstände waren Stück für Stück damit abgewaschen worden, ehe sie aufs Boot verladen wurden.
Die als Lagerraum ausgesuchten Kasematten seien staubtrocken, von dieser Seite her war an konservierende Maßnahmen nicht gedacht.
Berteau war einigermaßen beruhigt, beschloß aber dennoch, die sichergestellten Gegenstände stichprobenweise untersuchen zu lassen. Ansonsten ließ er sich mit dem Kommandanten des Küstenwachbootes verbinden und empfahl diesem, dasselbe Verfahren anzuwenden, dessen sich die Gauner bedient hatten.
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Er verbrachte zusammen mit Kasurintin, der sich auf seine Kosten hemmungslos betrank, einen eintönigen Abend an der Bar des Hotel du Port. Le Sauvage war nach wie vor nicht bereit, von sich aus das Geheimnis um <la Tempête> zu lüften. Berteau, der gehofft hatte, daß der Alkohol im Laufe des Abends die Zunge des Malers etwas lockern würde, sah sich jedoch enttäuscht. So trauerte er all den 50 FF-Scheinen nach, die sich in verflüssigter Form durch des Wilden Kehle verabschiedeten.
Le Breton war mangels an Möglichkeiten wohl allzu intensive Alkohol-Exzesse nicht mehr gewöhnt, und der Blackout kam bereits kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Ohne Vorwarnung verdrehte er plötzlich die Augen nach oben und sank wie vom Blitz getroffen vom Barhocker. Berteau opferte seufzend weitere hundert Franc, um die Schnapsleiche durch Angestellte des Hauses in ihr Zimmer verfrachten zu lassen.
Der Kommissar zog sich ebenfalls zurück. Trotz seines Erfolges war er mit dem heutigen Tag nicht so recht zufrieden. Es blieben noch zu viele unbeantwortete Fragen übrig. Na, wenigstens hatte er die Aussicht, diese Nacht in einem ordentlichen Bett zu verbringen.
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