Mittwoch, 1. Mai
Ein Unglück kommt selten allein.
Das erste Unglück dieses Morgens spielte sich in Berteaus Gefühlsleben ab, als er gegen acht Uhr erwachte. Zunächst wunderte er sich darüber, wie er mit Hut und Mantel ins Bett geraten war. Als er sich aufrichtete, stellte er fest, daß sein Kopf über Nacht erheblich gewachsen sein mußte. Gefühlsmäßig mußte dieser mindestens den Durchmesser von Berteaus Bauch haben und wohl eine Tonne wiegen. Der Kommissar starrte feindselig die Tür zum Bad an und hielt es für unmöglich, mit diesem, seinem Kopf durch jenen engen Türrahmen zu kommen. Irgendwie schaffte er es, auf die Beine zu kommen und das Waschbecken im Bad zu erreichen. In seinem gequälten Haupt machte sich sofort eine Kolonne Bauarbeiter mit Presslufthämmern ans Werk.
Berteau entledigte sich mühsam seiner Klamotten und stieg unter die Dusche. Er hatte jetzt die Wahl: Benutzte er heißes Wasser, verstärkten sich in seinem Kopf die Vibrationen der Presslufthämmer. Drehte er den Kaltwasserhahn auf, griff die Baubrigade in seiner Denkwarze zur Abrißbirne. Beim Beleneus, das konnte ein Tag werden.
Nach einigen Versuchen entschied er, daß der hallende Schlag der Abrißbirne leichter zu ertragen war als die Presslufthämmer. So kühlte er eine Viertelstunde seine heißgelaufene Biomechanik auf ein erträgliches Maß herab. Beim Rasieren vor den Spiegel mußte er jedoch einsehen, daß heute selbst die Außenrenovierung nur ein unvollkommenes Stückwerk bleiben mußte. Selbst in frischen Klamotten fühlte er sich wie eine entkernte Altbauruine.
Das zweite Unglück, das ihm widerfuhr, war die Tatsache, daß der Nachtportier gerade dabei war, seinen Dienst an die Tagschicht zu übergeben, als er an der Rezeption erschien, wo er um einige Kopfschmerztabletten bitten wollte. Der vernichtende Blick, mit dem der Portier ihm einen Streifen Aspirin aushändigte, verursachte körperliche Schmerzen.
Beim Frühstück beschränkte er sich auf eben jene Aspirin und ein großes Glas Wasser. Er kam zu dem Schluß, daß es an der Zeit wäre, ein altes Hausmittel auszuprobieren, von dessen Wirksamkeit sein seeliger Großvater überzeugt gewesen war. So ließ er sich von der Bedienung im Frühstückszimmer in einen halben Liter schwarzen, ungesüßten Café den Saft einer ganzen Zitrone pressen und trank dieses fürchterliche Gesöff in einem Zug. Die anderen Frühstücksgäste sahenīs mit Schaudern.
Für Berteau hatte die Roßkur zunächst nur die Wirkung, daß sein Magen ruckte, als befände er sich in einem bremsenden Expresslift. Er verließ fluchtartig das Hotel und sog draußen die frische Luft tief in seine Lungen.
Verglich er selbst seinen Zustand mit einer Bauruine, so glich Berger an diesem Morgen einer Katze, die man nach dem Schleudergang aus einer Waschmaschine gerettet hatte. Beide litten unsäglich, und nach einer flauen Begrüßung im Bureau schworen sie sich gegenseitig, nie mehr über das Grundsätzliche an der Kunst zu diskutieren.
Das dritte Unglück ereilte die beiden Beamten in Form des Telephons.
Das von Berteau ansonsten als durchaus melodisch empfundene synthetische Düdeldü des neuen Apparates, erwies sich jetzt als unerträglich ruhestörender Lärm. Der Korporal preßte beide Hände an die Ohren, und der Kommissar spielte kurz mit dem Gedanken, einfach den Stecker aus der Wand zu ziehen. Dann hob er doch ab, und am anderen Ende meldete sich zunächst ein Kollege von der Spurensicherung.
Er befände sich in der Galerie du Midi, gab der Beamte zur Kenntnis, es habe hier einen Einbruch gegeben, der wohl in Berteaus Zuständigkeitsbereich fiele. Ja, irgend ein Bild sei gestohlen worden, und hier in der Galerie herrsche ziemliche Aufregung. Man hätte die Kollegen von der Kunst ja gerne früher informiert, aber irgendwie seien sie wohl nicht erreichbar gewesen.
Dann wurde dem Beamten wohl unsanft der Hörer aus der Hand genommen, und die keifende Stimme von Yves-Marie le Breton quäkte aus der Muschel. Berteau hielt seinen Hörer angewidert eine Armeslänge vom Kopf ab, so daß auch Berger ohne Lautsprecher jedes Wort verstehen konnte
Der Autohändler-Galerist beschwerte sich zunächst heftig über die Praxis der Polizei, daß die richtigen Leute immer dann nicht erreichbar wären, wenn man sie brauche. Dann erwähnte er mehr beiläufig, <la Tempête> sei verschwunden, ehe er sein Lamento fortsetzte. Jetzt sei bereits der Zweite Phototermin geplatzt und auch ein Pressetermin und wie man denn da als Galerist denn noch vernünftig arbeiten solle.
Berteau versuchte mehrmals, seinen Gesprächspartner zu unterbrechen, kam aber nicht zu Wort, denn le Breton sprach ohne Punkt und Komma. Als dieser dann doch einmal Luft holen mußte, sagte der Kommissar nur knapp: "Ist ja gut, wir kommen!" und legte auf, ehe der andere seine Anklage fortsetzen konnte.
Bergers Weitsicht, den Volvo durch seine Kollegen zum Commissariat bringen zu lassen, erwies sich jetzt als nützlich. Sie holten den Wagenschlüssel an der Pforte ab, und Berteau entschloß sich, das kurze Stück bis zur Rue Marechal Foch selbst zu fahren. Bergers Fähigkeiten in dieser Richtung schienen ihm im Moment doch zu sehr eingeschränkt.
Als sie kurz nach zehn Uhr die Galerie betraten, waren die Kollegen von der Spurensicherung gerade dabei, ihre Utensilien zusammenzupacken. Der Autohändler lief wie ein gereizter Tiger hin und her und bedachte die ankommenden mit einigen unfreundlichen Worten. Madame saß auf einem Stuhl vor der Stelle an der Wand, an der anscheinend <la Tempête> hätte hängen sollen. Sie wischte sich demonstrativ ein Tränchen ab, sorgfältig darauf achtend, das Make-up nicht unnötig zu ruinieren.
Zwischen ihr und ihrem Gemahl mußte es wohl einen heftigen Disput gegeben haben, denn der Verlust des Bildes allein konnte ihr kaum solchen Seelenschmerz einflößen.
Der Wilde war auch anwesend. Man hatte ihn in einen dunklen, einreihigen Anzug gesteckt, zu dem er ein weißes Hemd mit offenem Kragen trug. Mit seiner kaum gebändigten Mähne wirkte er so deplaciert, wie einer der zwölf Apostel, der sich in ein Autokino verirrt hatte. Le Sauvage ging die Geschichte sichtlich mehr an die Nieren, als Berteau verstehen konnte. Er stand mitten im Raum an einem hohen Aschenbecher und brachte das Kunststück fertig, mit der rechten Hand eine Zigarette zu Mund zu führen und gleichzeitig nervös an den Nägeln der linken zu kauen.
Berteau warf einen kurzen Blick in den Aschenbecher. Er konnte sich nicht erinnern, Kasurintin jemals rauchend gesehen zu haben, aber derzeit schien er Kettenraucher zu sein.
Bei ihm stand unentschlossen ein junger Mann in Jeans und Pullover . Mehrere um den Hals gehängte Kameras wiesen ihn als Photographen aus. Sein kahlrasierter Kopf, seine scharfgeschnittene Hakennase und sein deutlich hervorspringender Kehlkopf erinnerten Berteau an einen nach Futter Ausschau haltenden Geier. Sichtlich wartete er darauf, daß ihm jemand Aufträge gab, aber weder der aufgebrachte Autohändler, noch der nervöse Wilde schien dazu in der Lage zu sein.
Im zweiten Raum der Galerie hatte ein Handwerker sein Werkzeug ausgebreitet und war ungerührt damit beschäftigt, den zum größten Teil noch ungerahmten Bildern Rahmen zu verpassen.
Hund, die schwarzweisgefleckte Dogge des Wilden, lag quer vor dem Durchgang zum Nebenraum und betrachtete die Szene mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. Die Tatsache, daß der Handwerker mehrmals fluchend über ihn hinwegsteigen mußte, störte den Rüden nicht im Entferntesten. Den Neuankömmlingen schenkte Hund ein herzhaftes Gähnen, ehe er erschöpft den Kopf auf die Vorderpfoten sinken ließ und die Augen schloß.
Zu guter Letzt flitzte noch ein kleines, dickliches Männchen durch die Räume. Es trug einen korrekten, mausgrauen Zweireiher mit Weste. Was dem Kommissar auffiel, war das Gesicht des Kleinen. Mit den hängenden Wangen, der etwas kaschierten Stirnglatze und dem Spitzbart erinnerte er ihn an einen längst verstorbenen, ostdeutschen Politiker. Berteau hatte das Gefühl, en Mausgrauen irgendwoher zu kennen, konnte ihn aber im Moment nicht einordnen. Das Gefühl wurde dadurch noch bestärkt, daß der Kleine Berteau bei dessen Erscheinen wie einem alten Bekannten zugenickt hatte.
Der Kommissar unterhielt sich kurz mit dem Leiter der Spurensicherung, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Gegen null Uhr fünfzehn in der Nacht waren zwei Männer in die Galerie eingedrungen und hatten sich gezielt daran gemacht, dieses bewußte, eine Bild zu stehlen. Man wußte den Zeitpunkt deshalb so genau, weil die eingeschaltete Videoüberwachungsanlage den Vorgang aufgezeichnet hatte. Ja, die Aufnahmen waren recht gut, man würde anhand der Kartei die Ganoven sicher identifizieren können, sofern sie denn dort erfaßt waren. Nein, die vorhandene Alarmanlage sei nicht in Betrieb gewesen, Madame habe erklärt, man würde diese nur einschalten, wenn Ausstellungsstücke von bedeutendem Wert in der Galerie wären.. Dies sei aber hier nicht der Fall gewesen. Der Spurensucher wunderte sich deshalb auch etwas über die allgemeine Aufregung, die der Einbruch ausgelöst hatte. Er nahm die Videobänder mit zur Auswertung und versprach, Berteau baldmöglichst einen Bericht zukommen zu lassen.
Nachdem die Beamten von der Spurensicherung sich verabschiedet hatten, suchte der mausgraue eine Chance, Berteau anzusprechen: "Monsieur le Commissaire, ich..." ,setzte er an, aber der Kommissar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
"Moment, Monsieur, ich beschäftige mich gleich mit Ihnen", sagte er , und der Kleine wollte sich schon abwenden. Berteau hielt ihn an der Schulter zurück: "Sagen Sie, kennen wir uns nicht irgendwo her?"
Der Graue zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Jacketts und überreichte sie Berteau. Der hatte jedoch bereits wieder das Interesse an ihm verloren und steckte die Karte achtlos ein. Mit erhobener Stimme wandte er sich an alle Anwesenden: "Madame, Messieurs, es ist hier ein Einbruch, also ein Verbrechen begangen worden, und, da es sich im allgemeinen Umfeld der bildenden Kunst abspielte, fällt die Aufklärung in meine Zuständigkeit.
Ich kann nun nicht umhin, Sie alle einzeln zu befragen. Um ihre wertvolle Zeit nicht allzulange in Anspruch zu nehmen, werden mein Assistent, Monsieur Berger, und ich uns diese Aufgabe teilen. Monsieur Berger wird den Rahmenschreiner, den Photographen und Sie, Monsieur", er richtete den Blick auf den kleinen Grauen, "befragen. Äh, wie war doch gleich Ihr Name?"
"Monpas, Hercule Monpas, ich..." der kleine schnappte nach Luft. Doch Berteau sprach bereits weiter. "Ich selbst werde die Sippe le Breton übernehmen, und zwar in folgender Reihenfolge: zuerst der Maler, dann Madame und zuletzt Monsieur. Madame hat sicher die Freundlichkeit, mir ihr Bureau zur Verfügung zu stellen."
Madame nickte schwach. Der Kommissar nahm le Sauvage am Arm und schob ihn in das kleine Bureau, schloß die Tür hinter sich und nahm am Schreibtisch der Galeristin Platz.
"Also, Kasurintin, nun machen Sie Ihrem Herzen mal Luft. Ich kenne Sie ja nun schon so lange, daß ich mich einigermaßen darüber wundere, wie nahe Ihnen der Verlust von <la Tempête> geht. Das Bild ist zwar zugegebenermaßen das Beste von dem, was da draußen hängen sollte, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie ein Verlust von fünfzehn oder zwanzigtausend Francs so aus der Fassung bringt. Da sind Sie doch andere Größenordnungen gewohnt"
Der Wilde wand sich: " Was Sie sagen, Commissaire, ist richtig und auch wieder nicht. Wenn statt diesem Bild <la Tempête> II gestohlen worden wäre, würde mich das nicht weiter kratzen. Aber <la Tempête> I gehört mir nicht mehr, und mein Auftraggeber wird mir die Rübe abreißen, wenn er erfährt, auf was ich mich da eingelassen habe. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum, aber für ihn ist <la Tempête> sehr viel mehr wert, als der von ihnen taxierte Preis. Und ich kann ihm auch nicht das Duplikat unterjubeln, er würde auf kurz oder lang dahinter kommen, und dann möchte ich nicht in meiner eigenen Haut stecken."
"Was mir nicht ganz klar ist" , Berteau wiegte den Kopf, "ist, warum das Bild denn überhaupt hierher gebracht wurde, wenn es gar nicht zum Verkauf bei der Ausstellung vorgesehen war?"
Le Breton zündete sich eine neue Zigarette an. "Ich ärgere mich maßlos über mich selbst, und darüber, daß ich mich darauf eingelassen habe. Eigentlich sollte ja La Tempête II hier zum Verkauf ausgestellt werden, aber das ist noch nicht ganz fertig. Also habe ich mich überreden lassen, das Original leihweise hierherzubringen, damit Yves Marie Material für seinen Katalog hat. Die Bilder sollten noch vor der Eröffnung der Ausstellung wieder ausgetauscht werden. Und nun stehe ich mit beiden Füßen im Mist, und es besteht die Gefahr, daß der mir die Stiefel auszieht."
Berteau sah seinen Gegenüber betrübt an: "Ich denke, Sie sollten die Katze aus dem Sack lassen! Was, beim Teufel, ist an <la Tempête> so wichtig, daß Sie um Ihr Seelenheil fürchten. Sie wollen doch, daß ich Ihnen das Bild möglichst wiederbeschaffe, also könnten Sie ruhig etwas mehr kooperieren."
"Tut mit leid, Monsieur le Commissaire," der Wilde schüttelte traurig den Kopf, " Ich muß sowieso befürchten, daß Sie zur Unzeit hinter das Geheimnis des Bildes kommen. Von keinem Hühnerdieb wird verlangt, daß er sich selbst anzeigt. Außerdem stehe ich bei meinem Auftraggeber im Wort. Und dennoch", sein Blick nahm einen fast flehentlichen Ausdruck an, "ich muß <la Tempête> wiederhaben!"
Der Rest der Unterhaltung drehte sich um die Umstände des Transports der Bilder zur Ausstellung. Nachdem le Sauvage selbst daran nicht beteiligt gewesen war, waren seine Angaben dazu recht dürftig. Kasurintin war bereits im Begriff, den Raum zu verlassen, als Berteau noch die Frage nachschob, wie weit denn <la Tempête> II gediehen sei.
"Nun, Monsieur le Commissaire," der Wilde zuckte mit den Schultern, "nachdem die Komposition ja an sich steht, arbeite ich wie alle Rechtshänder von links oben nach rechts unten. Und ich brauche noch gut einen Tag, um das Bild rechts unten fertigzustellen. Warum fragen Sie?"
Berteau winkte ab. "Nur so ein Gedanke. Ich werde eventuell darauf zurückkommen."
Als le Sauvage den Raum verlassen hatte, steckte Monpas den Kopf durch die Tür: "Monsieur, ich.....". Berteau fand den Kleinen langsam lästig. "Monsieur, ich muß Sie doch bitten, sich in Geduld zu fassen! Sagen Sie, woher kennen wir uns denn?" Der Mausgraue zog sich empört zurück und knallte die Tür zu. Der Kommissar zuckte zusammen. Seine Kopfschmerzen machten sich wieder bemerkbar.
Madame le Breton hatte den Einbruch gegen acht Uhr bemerkt, als sie die Galerie öffnete, um den Rahmenschreiner einzulassen und hatte die Polizei benachrichtigt. Die anderen Anwesenden waren fast gleichzeitig mit der Polizei eingetroffen, da ein Presse- und Phototermin angestanden httte. Deshalb sei auch ihr Mann so aufgebracht, weil zumindest der Phototermin nun zum zweitenmal platze. Und an eine vernünftige Rezension in der Ouest France sei jetzt auch nicht mehr zu denken.
Auf Berteaus Frage, wer denn davon gewußt habe, daß die Alarmanlage nicht in Betrieb war, antwortete sie erst, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß niemand zuhören konnte. Ja, ihr Mann und sie selbst hätten das natürlich gewußt, außerdem die Putzfrau, die zweimal die Woche saubermache. Und dann erzählte sie mit gesenkter Stimme davon, daß sie wohl so leichtsinnig gewesen war, mit den beiden Transporteuren Joel und Josephe am Vortag darüber zu sprechen. Nein, die Videoüberwachungsanlage habe sie dabei nicht erwähnt. Sie gab aber zu, daß sie keine Bedenken gehabt hätte, mit Joel und Josephe darüber zu sprechen, hätten diese danach gefragt. Sie kenne die beiden ja schon seit langem, und sie und ihr Gemahl arbeiteten ja häufiger zusammen. Sie hatte mit den Beamten der Spurensicherung die Videobänder angesehen und konnte so ausschließen, daß die Spediteure mit den Einbrechern identisch waren.
Berteau dachte sich seinen Teil, besonders als sie bat, er möchte doch tunlichst vermeiden, ihrem Mann mitzuteilen, daß sie mit Außenstehenden über die Alarmanlage gesprochen hatte.
Yves-Marie le Breton war immer noch in Fahrt, als gelte es verbal die Rallye Monte Carlo zu gewinnen. Er lamentierte über die Unfähigkeit und Unverschämtheit der Polizei, die Unverfrorenheit des Ganovenpacks und über die Unmöglichkeit, als Geschäftsmann ordentlich arbeiten zu können, wenn einem das Schicksal dauernd Knüppel zwischen die Beine warf. Berteau hörte zum dritten Mal an diesem Tag die Geschichte mit den geplatzten Terminen, und die einzige für ihn verwertbare Information, nämlich die über die Autopanne der beiden Spediteure am Vortag, ging im allgemeinen Lamento fast unter.
Der Autohändler entschied selbst, wann er, seiner Auffassung nach, dem Kommissar genug vorgetragen hatte, und schickte sich an, abzurauschen. Berteau ersuchte ihn jedoch, sich noch einige Minuten zu seiner Verfügung zu halten und fragte beiläufig, als der andere bereits unter der Tür war: "Sagen sie, Monsieur le Breton, was für ein Typ Fahrzeug ist das denn, mit dem Ihr Spediteur den Bildertransport durchgeführt hat?"
Yves-Marie, der schon nicht mehr damit gerechnet hatte, überhaupt eine Frage gestellt zu bekommen, war verblüfft.
"Ich sehe zwar nicht ein,was das mit unserem Fall zu tun hat, aber wenn Sie meinen... Es ist ein uralter Citroen, so eine rollende Wellblechhütte. Klapprig, aber zuverlässig. Wieso fragen Sie?"
Der Kommissar nickte: "Ich habe mir schon so etwas gedacht." .Er ließ den Autohändler allerdings im Unklaren darüber, was er sich weshalb gedacht hatte.
Das vierte Unglück an diesem Tag schwebte über Berteau, seit er die Galerie betreten hatte. Er hatte es zwar bemerkt, aber nicht als solches registriert. Jetzt näherte es sich ihm in Gestalt von Hercule Monpas, dem kleinen Mausgrauen. Der stürmte jetzt in Madame le Bretons Bureau und ging mit zornrotem Kopf auf den Kommissar los.
"Commissaire, jetzt reicht es aber," giftete er, "ich bin Hercule Monpas, Kulturredakteur der hiesigen Niederlassung der Ouest France. Und ich bin hier, weil mich Monsieur le Breton um eine Rezension seiner zukünftigen Ausstellung gebeten hat. Und jetzt fragt mich dieser schwachköpfige Korporal da draußen, wo ich heute Nacht zwischen null und ein Uhr gewesen bin!"
Die keifende Stimme des Kleinen war nicht dazu angetan, Berteaus Kopfschmerzen zu lindern. Er hielt beide Hände abwehrend von sich: "Dieser schwachköpfige Korporal ist das Beste, was die hiesige Polizei zu bieten hat, Monsieur, also halten Sie sich zurück!" Er betrachtete en Grauen interessiert. "Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem längst verstorbenen ostdeutschen Politiker haben? Übrigens, wo waren Sie heute nacht zwischen null und ein Uhr?"
Der Redakteur war kurz vor der Explosion. Zornbebend knallte er ein Notizbuch auf den Tisch und quäkte: "Nun gut, nachdem ich hier ja doch nicht mehr genug Material für eine Ausstellungskritik zusammenbekomme, und nachdem ich mir schon zwei Spalten in der morgigen Ausgabe habe reservieren lassen, werde ich ersatzweise eine Rezension über einen sehr aufschlußreichen, kulturhistorischen Vortrag veröffentlichen, den ich das Vergnügen hatte, heute Nacht zwischen null und ein Uhr an der Bar des Hotel Mercure zu hören. Zwar war das mehr eine Podiumsdiskussion, aber die beiden Akteure, keine hiesigen, aber mittlerweile doch stadtbekannte Suffköppe, waren offenbar auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit. Damit wäre wohl auch das mit meinem Alibi geklärt!"
Armand Berteau fiel es wie Schuppen von den Augen. "Au, Merde", entfuhr es ihm gequält. Der Mausgraue war ihr zeitweiliger Gesprächsteilnehmer von vergangener Nacht. Und noch schlimmer, die Kröte mußte jener Redakteur sein, der ihn in den letzten Tagen wiederholt in der Ouest France so in die Pfanne gehauen hatte. Er überlegte fieberhaft, wie er mit Anstand aus der Situation herauskommen sollte.
Der Kleine sah so aus, als ob er leiblichen Genüssen nicht abgeneigt wäre. Berteau setzte voraus, daß der andere wie die meisten Gourmets, bis zu einem gewissen Grade auch bestechlich war. Also machte er einfach einen Versuch.
"Monsieur Monpas, ich kann Ihre Verärgerung ja verstehen, aber ich muß Sie dennoch um eine Viertelstunde Geduld bitten. Als Entschädigung lade ich Sie danach auch zu einem ausgiebigen zweiten Frühstück in einem Bistro ihrer Wahl ein. Unter Umständen würde ich Ihnen sogar einen Deal anbieten, der für uns beide durchaus von Vorteil sein dürfte."
Monpas schien noch nicht ganz überzeugt zu sein. "Welchen Vorteil denken Sie, könnte ich aus Ihrer konfusen Arbeitsweise ziehen?"
Berteau hüstelte: "Nun, irgendwann, dessen bin ich mir sicher, wird meine konfuse Arbeit irgendwelche Ergebnisse bringen. Nun, es ist zwar nicht ganz legal, aber wenn wir uns einig werden, könnte ich mir vorstellen, daß ich Sie, zwar inoffiziell, aber exklusiv, unterrichte, wenn es denn so weit ist."
Der Kleine zögerte. Dann verzog er das Gesicht zu einem spitzbübischen Grinsen. "Versprochen?" fragte er nach.
"Versprochen", der Kommissar nickte gottergeben.
Er besprach sich kurz mit seinem Assistenten über das Ergebnis von dessen Befragung und stellte fest, daß die Aussagen von dessen Vernommenen für die Lösung des Falls nicht sehr ergiebig waren.
Danach bat er alle Anwesenden in den großen Ausstellungsraum, um einige Worte an sie zu richten. "Madame, Messieurs", sagte er mit erhobener Stimme, "ich weiß, daß bei Agatha Christie solche Versammlungen immer erst stattfinden, wenn der Detektiv in der Lage ist, den Versammelten auch den Täter zu präsentieren. So weit sind wir in unserem Falle leider noch nicht. Ich habe Sie dennoch hierhergebeten, um Sie einerseits über den Stand der Dinge zu unterrichten und andererseits den Einen oder Anderen von Ihnen um seine Mitarbeit zu bitten.
Dabei möchte ich Sie alle zunächst darum bitten, daß Sie die Tatsache, daß es von dem hier gestohlenen Bild ein fast identisches Duplikat gibt, vorerst für sich behalten. Dasselbe gilt auch für unsere Schlußfolgerungen, die ich Ihnen gleich mitteilen werde, sowie für die Absprachen, die wir eventuell untereinander treffen werden.
Was Sie betrifft", er nickte dem Schreiner zu, der sich an die Türfüllung lehnte, " sind damit meine Bitten um Mitarbeit bereits zusammengefaßt.
Kommen wir zunächst zu unseren Schlußfolgerungen. Wie Ihnen sicher bekannt ist, gibt es zwei Gründe für meine Abstellung aus Paris hierher. Der eine Grund ist eine Serie von Diebstählen von wertvollen Bildern alter Meister in den letzten Monaten, und ich habe mein Standquartier hier in Lorient aufgeschlagen, weil einige der bisher immer noch dürftigen Spuren hierher führen. Neun Bilder stehen in diesem Zusammenhang auf der Verlustliste, und auf den ersten Blick könnte man den Eindruck haben, daß es sich bei unserem heutigen Ereignis um den zehnten Fall dieser Serie handelt. Aber ich bin ziemlich sicher, daß dem nicht so ist.
Ich denke eher, daß es sich beim Verschwinden von <la Tempête> um eine Sache handelt, die in den zweiten Grund meines Hierseins hineinfällt, auch wenn meine Annahme auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar zu sein mag. Es handelt sich dabei um jene Serie von Kirchenräubereien im Westen der Halbinsel, die vor vierzehn Tagen begonnen hat, und die, so unsere Annahmen zutreffen, übermorgen ein vorlaufiges Ende finden werden, ehe sie, gelingt uns nicht vorher ein Zugriff, in etwa zwei Wochen ihre Fortsetzung finden wird.
Zunächst meine Begründung dafür, warum der Diebstahl von <la Tempête> nicht in meine Serie mit den Alten Meistern passt. Alle neun gestohlenene Werke stellten durchweg einen erheblichen Wert in der Größenordnung oberhalb einer viertelmillion Franc dar. <la Tempête> dürfte nach meiner Einschätzung selbst einem großzügigen Mäzen nicht einmal ein Zehntel davon wert sein. Dabei", er wandte sich an den Wilden, " will ich nichts über die Qualität Ihres Bildes gesagt haben, aber Sie kennen ja die Spielregeln des Kunsthandels mindestens ebensogut wie ich.
Der zweite Grund, warum unser Verlust nicht in das übrige Schema passt, ist die Art des Verschwindens. Erinnern Sie sich? Alle Alten Meister sind nicht bei ihren Besitzern oder den Galerien abhanden gekommen, in denen sie zum Verkauf angeboten wurden, sondern stets nach dem Verkauf und immer aus den gutgesicherten Depots der mit dem Transport betrauten Speditionen.
Den Schaden hatte in allen Fällen weder der alte noch der neue Besitzer, sondern immer ein und dieselbe Versicherungsgesellschaft, die, soweit ich weiß, in allen Fällen ohne großen Widerstand, ihren Verpflichtungen nachgekommen ist.
Auch wenn <la Tempête> auf eine mir noch unbekannte Art und Weise mit dieser Geschichte verknüpft zu sein scheint - ich hoffe, daß ich das noch herausfinden werde- , bin ich mir ziemlich sicher, daß sein jetziges Verschwinden eher mit den Kirchendiebstählen zu tun hat.
Zu diesem Fall sei jetzt Folgendes angemerkt: Wir haben Verdächtige. Es sind dieselben, die eine solche Aktion vor vier Jahren schon einmal in der hiesigen Gegend durchgeführt haben. Bedauerlicherweise sind sie abgetaucht, und wir können derzeit weder Ihner, noch dem Diebesgut habhaft werden.
Es gibt in diesem Fall allerdings Spuren, die darauf hinweisen, daß die Ganoven irgendwo an der Nordküste ein Depot unterhalten, in dem sie nicht nur die Beute dieser Serie, sondern auch die Reste der Serie von vor vier Jahren verstecken. Und hier kommt <la Tempête> ins Spiel.
Nach einer Besichtigung des Bildes hat mein Assistent, Monsieur Berger, eine Hypothese entwickelt, von der ich mehr und mehr überzeugt bin. Monsieur le Breton hat unbewußt bei seiner Motivssuche in sein Gedächtnis eine Szene aufgenommen und im Bild wiedergegeben, und dabei offensichtlich die Details so gut getroffen, daß das Bild, wird es von den richtigen Leuten betrachtet, eine Gefahr für die Bande oder ihr Versteck darstellt. Deshalb mußte es verschwinden, ehe es diese zu Gesicht bekamen und Schlüsse daraus zogen.
Was die Diebe offensichtlich nicht wußten, ist, daß sie damit nicht aus dem Schneider sind, denn es existiert von <la Tempête> ein zwar noch unvollendetes, aber ansonsten nahezu identisches Exemplar. Und darauf baut im Augenblick mein Plan auf.
Ich möchte dreierlei erreichen. Zum Ersten, daß die Diebe erkennen, daß der Diebstahl des Bildes nutzlos war, weil es dennoch jedermann, wenn auch nur als Photographie besichtigen kann. Ich will sie dadurch nervös machen, und, das ist der zweite Zweck, den ich verfolge, sie dazu bewegen, daß sie ihr Depot aufgeben und ihr Diebesgut entweder an den Mann zu bringen suchen oder umlagern. Nachdem wir eine grobe Vorstellung davon haben, wo sich das Versteck befindet, sollte es möglich sein, sie bei dieser Aktivität aufzuspüren.
Dabei würde es uns sehr nützen, wenn jemand herausfinden könnte, wo sich jene Bucht befindet, die Le Sauvage als geistige Vorlage für sein Bild ausgesucht hat. Er nimmt auf seinen Eid, daß die Bucht tatsächlich existiert, kann sich aber nicht erinnern, wo.
Den dritten Zweck, den ich verfolge, ist der, daß verhindert wird, daß unsere Diebe in einer Kurzschlußreaktion <la Tempête> einfach vernichten. Abgesehen davon, daß Le Sauvages Herz ziemlich an disem Bild zu hängen scheint, habe ich, wie schon angedeutet, das Gefühl, daß sich in ihm auch ein entscheidender Hinweis auf meinen anderen Fall verbirgt. Kurz gesagt, wir müssen es wiederhaben. Ich habe deshalb die Absicht, den Dieben über Monsieur Monpas und seine Zeitung versteckt mittzuteilen, daß das Bild doch von solchem Wert ist, daß es sich lohnt, es an den Mann zu bringen.
Ich würde Sie also bitten wie folgt zu verfahren:"
Er wandte sich an den Autohändler: " Monsieur le Breton, schnappen Sie sich den Maler und den Photographen. Fahren sie hinaus zu des Wilden Hütte und machen Sie dort von <la Tempête> II die Aufnahmen für Ihren Katalog. Stellen Sie dabei den Maler so vor das Bild, daß der noch nicht fertiggestellte Teil verdeckt wird. Das Motiv "Der Maler vor seinem Werk" macht sich gut für den Katalog und die Zeitung."
Berteau holte einen Moment Luft, dann zeigte er auf den Photographen. "Sie Monsieur", er stellte fest,daß er bisher den Namen des Geiergesichtigen nicht kannte und dieser beeilte sich, sich vorzustellen.
"Guerinnne, Paul Guerinne", sagte er beflissen und übergab dem Kommissar seine Geschäftskarte.
Der nickte: "Also Sie, Monsieur Guerinne, möchte ich bitten, unserem Monsieur Monpas hier für seine Zeitung schnellstmöglichst einen klischeefähigen Abzug des eben besprochenen Bildes zukommen zu lassen, damit dieser einen Artikel veröffentlichen kann, dessen Inhalt wir nachher absprechen wollen. Sie denken noch an unsere Verabredung, Monsieur Monpas?"
Der grinste verschmitzt und nickte.
Berteau wandte sich wieder an die ganze Versammlung. "Wenn Sie alle mit dem Besprochenen einverstanden sind, schlage ich vor, daß wir an die Arbeit gehen. Ach ja, die Herren le Breton: Ich schlage vor, wenn Sie <la Tempête> II hierher zur Ausstellung transportieren lassen, suchen Sie sich einen anderen Transporteur. Die Vermutung liegt nahe, daß unsere Diebe ihren Tip von den Spediteuren hatten. Denken Sie an die Reifenpanne direkt neben der Telephonzelle!
Und noch Eines: Le Sauvage ersuche ich dringend, sich die nächsten vierundzwanzig Stunden bei seiner Hütte aufzuhalten. Einerseits kann es sein, daß ich Sie noch brauche, und ich würde Sie ungerne suchen lassen, und andererseits wollen wir doch verhindern, daß <la Tempête> II auch noch verschwindet."
*****
Das fünfte und vorerst letzte Unglück, das Berteau an diesem Tage widerfuhr, beruhte auf der Tatsache, daß es bereits zwölf Uhr dreißig war, als sie, begleitet von dem Redakteur, die Galerie verliessen..
Monpas zog eine altmodische Taschenuhr hervor, warf einen Blick darauf und stellte fest, daß es für ein zweites Frühstück nun ja doch reichlich spät sei. Er würde aber eine Einladung zu einem richtigen Mittagessen auch nicht ausschlagen, da doch der Kommissar so dringend noch etwas mit ihm zu besprechen hätte. Er kenne da ein fabelhaftes Restaurant am Cours de la Bôve, ganz in der Nähe.
Berteau hob anklagend die Augen zum Himmel. Er dachte an Alphonse Leroux, seinen Präfekten in Paris und an den Disput, den er mit diesem haben würde, wenn der seine Spesenabrechnung zur Genehmigung auf den Tisch bekam. Aber er mußte da durch.
Berger grinste verständnissinnig. Er bat, ihn für die Dauer der Mittagspause zu beurlauben, er ziehe es vor, zuhause bei seinen Eltern zu essen. Er setzte den Kommissar und den Redakteur vor dem Restaurant, dem " la République" am Cours de la Bôve ab, und Berteau war es sofort klar, warum Berger es vorzog, zuhause zu essen. Das "la République" gehörte zu jenen Lokalen, die man sich mit dem Gehalt eines Gendarmen nur im Ausnahmefall leisten konnte.
Monpas war in dem Lokal bekannt und schien erwartet worden zu sein. Ein Kellner führte sie nach kurzer Begrüßung an einen reservierten Tisch in einer Nische mit Blick auf die Straße.
Ohne die Karte auch nur anzufassen, orderte der Redakteur das "Menu normal", und Berteau blieb nichts anderes übrig, als sich dieser Bestellung anzuschließen.
Das "Menu normal" erwies sich als eine Speisefolge aus Jakobsmuscheln in Buttersauce, Dorade in Muscadet, ferner Boef a la mode und bretonischem Kuchen mit Backpflaumen und Café. Dazu entkorkte der Kellner ungefragt eine Flasche neunundachziger Baron de Rothschild und goß ein. Berteau war sich sicher, diesmal zur Begleichung der Rechnung auf seine Kreditkarte zurückgreifen zu müssen. Glücklicherweise hatte er bereits an der Tür den dezenten Hinweis gesehen, daß alle möglichen Kreditkarten akzeptiert würden, so daß er sich das lästige Nachfragen ersparen konnte.
Monpas kaute mit vollen Backen und sichtlichem Vergnügen. "Nun, Monsieur le Commissaire, was kann ich für Sie tun?"
Berteau bemühte sich, Fassung zu bewahren: " Nun, eigentlich wollte ich Sie bitten, für mich genau das zu tun, was Sie mir schon mehrfach angetan haben. Sie sind doch der, der diese üblen Geschichten über den verfressenen Kommissar aus Paris verbrochen hat. Sie haben das gerade nötig! Aber tun Sie genau dasselbe noch einmal, nur mit dem Hintergrund der Ereignisse von heute."
Der Redakteur legte den Kopf schief und schaute Berteau abschätzend an: "Na, na, wir werden da doch wohl nicht eine masochistische Ader entdecken?"
Berteau winkte müde ab: "Was glauben Sie, werden Ihre Leser von Ihnen denken, wenn Sie plötzlich meine Genialität entdecken würden? Jeder dächte doch gleich an abgekartete Sachen. Und wir wollen doch den Schein waren." Er stach mit der Gabel in Monpas Richtung. "Die Diebe wollen offensichtlich, daß wir <la Tempête> in die Reihe der gestohlenen alten Meister einreihen. Also tun Sie ihnen den Gefallen. Bringen Sie <la Tempête> in einem entsprechenden Artikel in den gewünschten Zusammenhang. Zerreißen Sie mich, so gut Sie können, das ist am Unauffälligsten. Messen Sie dem Bild einen pekuniären Wert zu, der in unseren Dieben Begehrlichkeiten weckt und sie davon abhält, es zu zerstören. Und schreiben Sie um Gottes Willen kein Wort über meine tatsächlichen Vermutungen. Veröffentlichen Sie das Bild, das Ihnen Guerinne zustellen wird und von dem die Gauner annehmen müssen, daß es eine Photographie des gemopsten Gemäldes ist.
Wenn es in Ihrer Macht steht, sorgen Sie dafür, daß der Artikel samt Bild im gesamten Verbreitungsgebiet der Ouest France erscheint. Ich möchte sicher sein, daß unsere Freunde ihn auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen, und ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhalten."
Monpas rieb sich die Hände: " Keine Sorge, es gibt nichts im Bereich der Ouest France, was Monpas nicht durchsetzen könnte. Immerhin gehört mir der Laden zum Teil. Oder glauben Sie", er machte eine weitausholende, auf das Ambiente des Lokals deutende Bewegung, "so etwas könnte man sich vom Gehalt eines Kulturredakteurs leisten? Wieso schreiben wir nicht einfach unter das Photo in großen Lettern "Wer kennt diese Bucht?"
Der Kommissar wehrte mit beiden Händen ab: "Bloß nicht, die Brüder könnten in Panik verfallen und in der Aufregung ihre gesamte Beute in Brand stecken, um die Beweise zu vernichten. Das wäre ein nicht wieder gut zu machender Schaden. Nervös sollen sie werden und auch ein wenig hektisch. Bei dem, was wir wissen, sollten sie uns auffallen, wenn sie sich gezwungen sehen, unplanmäßige Aktivitäten zu entfalten"
Monpas war nicht überzeugt. Berteau gab deshalb unter der Auflage der vorläufigen Nichtveröffentlichung so viele Details seiner Erkenntnisse und Vermutungen preis, wie nötig waren, um den Anderen zu überzeugen, daß die Unternehmung wenigstens einen Versuch wert war.
Dennoch fragte Monpas noch einmal nach: "Was macht Sie eigentlich so sicher, daß die Kirchendiebe sich <la Tempête> geholt haben und nicht irgendeiner, der die günstige Gelegenheit sah und sie nutzen wollte"
"Nun, es ist natürlich ein Gutteil Spekulation dabei, und ich kann mich fürchterlich blamieren", gab der Kommissar zu, "aber wenn es noch einer Erhärtung meiner Vermutung bedurft hätte, so ist es gerade dieser unerwartete Einbruch in der Galerie heute Nacht.
Unsere Madonnnenliebhaber arbeiteten in den letzten Wochen präzise im Zwei-Tage-Rhytmus. Eigentlich hätte ich
heute zu Dienstbeginn eine Nachricht erwartet, die besagt, daß irgendwo bei Brest wieder ein Kirchlein oder eine Kapelle geplündert worden ist. Denn es war wieder einmal die zweite Nacht. Doch Fehlanzeige! Statt dessen weint nun Madame le Breton über die Schlechtigkeit der Welt. Sehen Sie, niemand kann an zwei mehr als hundert Kilometer entfernten Punkten zugleich sein, auch unsere Einbrecher nicht."
Zuguterletzt hatte Berteau noch etwas auf dem Herzen: " Es wäre mir gelegen, wenn Sie in Ihrem Artikel erwähnen würden, daß ich, und von mir aus, genauso erfolglos, auch mit diesen Kirchenräubereien befaßt bin. Und dann sollten Sie noch erwähnen, daß jetzt auch noch der sechste Apostel von Ste. Anne la Palud in Plougastel verschwunden ist. Den armen Balzac, den Pfarrer, wird zwar der Schlag treffen, wenn er davon hört, aber einen, der von Berufs wegen nicht lügen darf, kann ich ja kaum in den wahren Sachverhalt einweihen. Die Figur soll mir als weiterer Angelhaken dienen, an dem sich eines unserer Fischlein verschlucken soll."
Er klärte Monpas darüber auf, daß St. Pierre in Wirklichkeit bei ihm im Commissariat wohl verwahrt war, er es allerdings für eine sinnvolle taktische Maßnahme hielt, die Öffenlichkeit - und damit hoffentlich auch die Diebe damit zu täuschen.
Monpas, dem das Detektivspielen zu gefallen begann, versprach, dafür zu sorgen, daß am folgenden, spätestens am übernächsten Tag im gesamten Verbreitungsgebiet der Ouest France der besprochen Artikel veröffentlicht werden sollte.
Als Berteau nach vollendetem Mahl und beendeter Besprechung beim Kellner nach der Rechnung verlangte, sah dieser den Redakteur fragend an. Dieser hob mit verschwörerischer Mine beide Hände und spreizte alle zehn Finger ab, nickte dem Kellner zu. Als wenige Minuten später der Kellner diskret die Rechnung auf den Tisch legte, war Berteau verblüfft: Zwei mal Menu normal â 10.- FF = 20.- FF stand da zu lesen.
" Ah, ja", sagte Monpas vergnügt, " ich vergaß zu erwähnen, daß mir der Laden hier gehört. Eigentlich könnte ich mir durchaus das Leben eines reichen Nichtsnutzes leisten, aber das füllt mich nicht so recht aus. Meine Tätigkeit als Redakteur ist also eher eine Art Zeitvertreib, wenn Sie so wollen. Betrachten Sie sich also, bis auf den kleinen Rest hier, als mein Gast. Ihr Angstschweis auf der Stirn, als wir das "Republique" betreten haben, war mir Rache genug für die Mißachtung, die Sie mir heute schon haben zuteil werden lassen."
*****
Für diesen Tag hatte der Kommissar für seinen Geschmack schon genug moralische Tiefschläge einstecken müssen. Er beschloß, daß es an der Zeit war, selbst wieder zu agieren. So fuhr er mit Berger gegen fünfzehn Uhr hinaus nach Guidel Plage, um dem Maler noch einmal auf den Zahn zu fühlen und vor Allem, um diesem eine aktive Rolle in dem Spiel zuzuweisen, das er die nächsten Tage zu spielen gedachte.
Le Sauvage hatte einigermaßen seine Fassung wiedererlangt und war, als die beiden Beamten bei ihm auftauchten, damit beschäftigt, <la Tempête> II fertigzustellen. Auf Berteaus Fragen, nach den Besonderheiten des gestohlenen Bildes, antwortete er ausweichend. Im Kopf des Kommissars verfestigte sich immer mehr der Verdacht, das Gemälde könne, ja müsse der Schlüssel zu all seinen ungelösten Fragen sein. Insbesondere ein Argument des Wilden bestärkte ihn in seiner Ansicht: "Commissaire, Sie können nicht verlangen, daß ein Delinquent den Strick, mit dem man ihn hängt, auch noch selbst liefert."
Berteau war ein wenig ärgerlich über den Verlauf des Gesprächs, und beschloß, in die Offensive zu gehen: "Nun gut, ich werde schon noch herausfinden, was an <la Tempête> so Besonderes ist, gesetzt den Fall, wir kriegen das Bild jemals wieder zu Gesicht. Und, nachdem Ihnen ja mindestens so viel daran liegt, wie mir, ersuche ich Sie, uns in unserer Arbeit zu unterstützen.
Wie Sie wissen, gehen wir davon aus, daß Ihr Gemälde von den Kirchenräubern gemopst wurde, weil es für sie eine Gefahr darstellt. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich hinter den Einbrechern in erster Linie die Gebrüder Didier aus Lochmariaquer verbergen, den Berichten nach zu urteilen, ein recht rabiates Pärchen. Wüßten wir, wo sie sich derzeit aufhalten, könnten wir sie aus dem Verkehr ziehen, was uns aber nicht unbedingt an ihre Beute bringen würde. Wie wir von früher her wissen, geben die Didiers ihr Versteck nicht freiwillig preis.
Nun habe ich zwar Maßnahmen getroffen, mit denen ich hoffe, sie aufzuscheuchen. Aber das Netz, das ich ausgelegt habe, ist noch etwas weitmaschig, und sie könnten im ungünstigsten Fall durchschlüpfen. Also helfen Sie uns, die Maschen enger zu ziehen."
Er zog die Photographie des Petrus von Ste. Anne la Palud aus der Tasche und hielt sie le Breton unter die Nase.
"Dieser seltsame Heilige hier ist der letzte Übriggebliebene aus einem Ensemble von ursprünglich sechs Figuren, und er befindet sich derzeit vorübergehend in meinem Gewahrsam. Ich denke, daß er den Einbruch in seinem Stammsitz nur deswegen unbeschadet überstanden hat, weil die Diebe gestört worden sind.
Nun, die Figuren stellen sicher jede für sich einen ziemlichen Wert dar, aber so richtig saftig wird das erst, wenn es einem dubiosen Sammler gelingt, das Ensemble wieder zusammenzuführen. Als geschlossene Gruppe schätze ich den Liebhaberpreis auf etwa ein halbe Million Francs."
Der Maler nickte: " Sie mögen recht haben, aber ich sehe nicht, wie ich Ihnen behilflich sein könnte. Ich bin kein Bildhauer, der Ihnen Kopien der fehlenden Figuren anfertigen könnte."
"Langsam, langsam", der Kommissar machte eine weitausholende Bewegung, "dem Besucher von Ste.Anne la Palud wird auffallen, daß jetzt auch diese Figur fehlt. Was also, wenn auch der gute Petrus geklaut worden wäre und zwar von anderen Leuten. Und was wäre, wenn diese Skulptur nun bereits in die Hände eines sowohl betuchten, als auch fanatischen Sammlers geraten wäre, der sich in den Kopf gesetzt hat, das Set wieder zusammenzuführen?
Er müßte wohl Erkundigungen auf dem grauen Markt einholen, wo denn die fehlenden Stücke abgeblieben sind und gegebenenfalls angeboten werden. Es bedarf dann also nur noch eines attraktiven Angebots, sagen wir, zweihunderttausend Francs für die komplette Runde, und es müßte mit dem Teufel zu gehen, wenn die Didiers nicht anbeißen sollten. Dazumal wir davon ausgehen können, daß die Brüder, nachdem <la Tempête> morgen oder übermorgen überall in der Presse zu bestaunen sein wird, es eilig haben werden, ihr Lager aufzulösen und sich von einem Teil der Ware zu trennen.
Nun, Berger und ich können in der Szene schlecht als Interessenten auftreten, denn gewerbsmäßige Hehler haben einen Riecher dafür, wenn bei ihnen die Polizei auftaucht. Aber Sie, le Breton, haben doch von früher her von Berufs wegen Kontakte zu Leuten mit nicht ganz sauberen Geschäftspraktiken. Wenn Sie ihren Body in den Einreiher von heute vormittag stecken und eines Ihrer alten Pseudonyme wieder auflegen, sollte es Ihnen ein Leichtes sein, alte Verbindungen aufleben zu lassen.
Was ich von Ihnen möchte, ist Folgendes: Nehmen Sie diese Photographie und die Aufnahmen der anderen gestohlenen Figuren und gehen Sie damit hausieren. Erzählen Sie ihren alten Bekannten, daß Sie einen Interessenten an der Hand haben, der für die fünf fehlenden Figuren zweihunderttausend Francs bietet. Er habe den Petrus, wolle aber die ganze Apostelschar. Bestehen Sie aber darauf, daß Sie wegen der Provision als Kontaktmann im Spiel bleiben.
Klappern Sie jede Adresse, die Sie im Norden der Halbinsel kennen, ab. Wenn einer Ihrer alten Geschäftspartner Kontakte zu den Didiers hat und ein Geschäft wittert, beißt er sicher an. Bedenken Sie, wenn wir die übrige Beute finden, haben wir mit einiger Sicherheit auch Ihr Bild."
Le Sauvage sah die Stichhaltigkeit von Berteaus Argumenten ein. Dennoch erbat er sich eine halbe Stunde Bedenkzeit. Er rief seinen Hund und schickte sich an, mit diesem zwischen den Hügeln zu verschwinden.
Berteau und Berger, die keine Lust hatten, auf den Wilden in der Einöde seiner Hütte zu warten, verabredeten mit ihm, sich nach dem Ablauf einer halben Stunde auf der Café-Terasse des Strandhotels zu treffen.
Sie suchten sich einen Tisch gleich neben dem Treppenaufgang zur Terasse, genossen die Nachmittagssonne und tranken Café noir.
Le Sauvage war wider Erwarten pünktlich. Er kam angeschlendert, stieg die Treppe zur Terasse hinauf und setzte sich auf die oberste Treppenstufe. Die Einladung des Kommissars, doch an den Tisch zu kommen, lehnte er ab. Man könne sich auch so unterhalten.
"O.K., ich machīs", brummte er, " aber Sie, Commissaire, müssen schon für meinen Transport sorgen. Wie Sie wissen, habe ich kein Auto, und mit der Bahn verplempere ich zuviel Zeit, wenn ich alle meine alten Bekannten abklappern soll. Abgesehen davon, daß mir für die Fahrkarten das nötige Bare fehlt und auch etwas unglaubwürdig wäre.. Und weil es sich um die Didiers handelt: Ich weiß, daß die Brüder ausgesprochen jähzornig und gewalttätig sind. Wenn die herausfinden, daß sie von einem ehemaligen Kollegen gelinkt werden, kann ich meines Lebens nicht mehr sicher sein. Ich fürchte, wenn ich etwas herausfinde, werden Sie mich zum Schein verhaften müssen!"
Berteau nickte gelassen: "Ich habe daran schon gedacht. Und Sie wissen doch, daß ich im Leben nichts lieber täte, als Sie zu verhaften."
Der Wilde blickte wütend zu ihm hoch: "In Kriminalgeschichten kann man zwar öfters lesen, daß sich zwischen Jäger und Gejagtem ein besonderes Verhältnis entwickelt. Aber Sie sollten mir gelegentlich mal erklären, wieso Sie ausgerechnet mir gegenüber eine so ausgeprägte Affinität entwickelt haben. Ich denke mal, für ein persönliches Hobby bin ich dann doch nicht ergiebig genug?"
"Nun, das ist eine andere Geschichte", des Kommissars Blick verfinsterte sich für einen Moment, "vielleicht werde ich Sie Ihnen bei passender Gelegenheit ausführlich erzählen. Für jetzt nur so viel: Ihresgleichen haben vor langer Zeit meine Familie in den Ruin getrieben, und ich verwette meinen Hut drauf, daß Sie sogar mittelbar daran beteiligt waren. Nun gut", er winkte dem Kellner, um zu bezahlen, " das ist hier jedoch nicht unser Thema. Berger wird Sie morgen, sagen wir, gegen neun, in Ihrem Palast abholen und nach Ihrer Weisung herumkutschieren. Ich selbst muß mich mal wieder etwas um Gauguin und Konsorten kümmern. Wenn sich was bei Ihnen ergeben sollte, rufen Sie mich an. Berger und ich werden uns aus Präfekt Pompidous unerschöpflichem Requisitenfundus je ein Handy besorgen, so daß wir gegenseitig ständig erreichbar sind."
*****
Als die beiden Beamten gegen achtzehn Uhr noch einmal ihr Büro betraten, eigentlich nur um nachzusehen, ob irgendwelche Nachrichten für sie eingegangen waren, fanden sie einen wartenden Besucher vor, mit dem sie nun wirklich nicht gerechnet hatten. Paul Guerinne, der geierschnäbelige Photograph, saß wie ein Häufchen Unglück auf einem Hocker im Flur gegenüber Bergers Bürotür.
Statt seiner Kameras war er jetzt mit einem Stockschirm bewaffnet, den er zwischen die Knie geklemmt hatte und auf dessen Griff er die gefalteten Hände stützte. Er trug einen hellen Trenchcoat und neben seinem Stuhl hatte er ein schwarzes Aktenköfferchen abgestellt. Berger dachte bei seinem Anblick unwillkürlich an einen Buchhalter vor einem Bewerbungsgespräch.
Berteau, der eigentlich für heute Feierabend hatte machen wollen, dachte daran, den Photographen abzuwimmeln, aber dessen nervös hüpfender Adamsapfel zeigte ihm an, daß der Geiergesichtige etwas Dringendes auf dem Herzen hatte. So bat er ihn in sein Bureau, wo der Besucher sich sofort umständlich daran machte, sein Köfferchen zu öffnen.
"Monsieur le Commissaire", begann er mit seltsam schnarrender Stimme zu sprechen, " wie Sie sich sicher denken können, kann ein Berufsphotograph, wie ich, nicht allein davon leben, für Leute wie Monsier le Breton gelegentlich einige Auftragsarbeiten durchzuführen. Einen Teil meiner Einnahmen beziehe ich daraus, daß ich für einen Verlag, der Ansichtspostkarten für Touristen herstellt, möglichst kitschige Landschaftsaufnahmen mache. Erst letzte Woche war ich mit einem solchen Auftrag im Bereich St. Malo unterwegs.
Nun habe ich heute während Ihrer Ausführungen in der Galerie mitbekommen, daß sie gerne wüßten, wo le Sauvage das Motiv für <la Tempête> herhat. Als ich dann Ihrer Anweisung entsprechend den Künstler mit seinem Werk aufnahm - hier ist übrigens ein Abzug davon", er hielt Berteau eine Aufnahme hin. Der nahm sie entgegen und betrachtete sie kurz. Kasurintin le Breton und sein Werk waren wirklich gut getroffen.
"Also, als ich diese Aufnahme machte" ,fuhr Guerinne fort, "wußte ich gleich, das kennst du. Das hast du schon mal gesehen, und zwar erst vor Kurzem. Also habe ich gleich zuhause mein Archiv durchstöbert und bin tatsächlich fündig geworden. Sehen Sie, hier", er durchwühlte seinen Aktenkoffer, fischte eine Postkarte heraus und schwang sie triumphierend, " die Details stimmen zwar nicht ganz, aber ich trinke freiwillig einen Liter Fixierbad, wenn das nicht die Motivvorlage für le Breton war."
Dann knallte er die Postkarte vor Berteau auf den Tisch. Der verglich interessiert die beiden Aufnahmen. Die Perspektive stimmte nicht ganz überein, aber Guinerres Schlußfolgerung mochte stimmen. Die Formen der Bucht und der Klippen waren sehr ähnlich, man hatte lediglich den Eindruck, daß der Photograph einen weiter rechts liegenden Standort für seine Aufnahme gewählt hatte, als der Maler. Die Insel war auf beiden Bildern, auf dem Photo fehlte natürlich das Boot und es fehlte auch der Calvarienberg aus dem Gemälde.
Darauf angesprochen schüttelte Guerinne den Kopf. " Nun, da hat sich le Breton wohl etwas künstlerische Freiheiten genommen. Es gibt einen solchen tatsächlich in der Gegend, aber der liegt etwas weiter links und dürfte bei der Perspektive eigentlich nicht im Bild sein. Und es gibt einen handfesten Grund anzunehmen, daß diese Insel - eigentlich sind es zwei, durch einen ganz schmalen Kanal voneinander getrennt- das von Ihnen vermutete Versteck sein könnte. Sehen sie hier", er drehte die Karte um und deutete auf den Aufdruck.
Berteau las: " Die Bucht von St.Briac mit der Ile oubliée im Hintergrund". Er hob fragend den Kopf: "Ile oubliée, vergessene Insel, was hat das nun schon wieder zu bedeuten?"
Guerinne hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere: " Sie verstehen nicht! Ile oubliée heißt unter anderem, daß seit zweihundert Jahren kein Einheimischer mehr freiwillig einen Fuß auf die Insel gesetzt hat, weil sie angeblich verflucht ist. Und meine etwas abergläubischen Landsleute nehmen es damit sehr genau. Vor etwa vierhundert Jahren wurde auf der von uns aus gesehen hinteren Insel eine Abtei errichtet und der Abgrund zwischen beiden Inseln mit
einem Steg überbrückt. Deshalb werden beide auch bis heute nur als eine Einzige angesehen. Die Mönche hielten sich allerdings nicht sehr lange da draußen, aber vor zweihundert Jahren lebten auf der näher zu uns liegenden Teilinsel etwa dreißig Leute, arme Fischer und Bauern mit etwas Vieh, allesamt Leibeigene eines Landadeligen, der sich in der alten Abtei niedergelassen hatte.
Die Leute waren etwas merkwürdig und nahmen kaum Kontakt mit der Küstenbevölkerung auf, weshalb sie bei dieser so nach und nach buchstäblich in Vergessenheit gerieten. Bis dann eines Tages ein paar Planken an die Küste getrieben wurden, die zu einem der beiden Boote der Inselleute gehörten. Der Hafenkommandant von St.Malo ließ daraufhin einige Leute übersetzen, die nach dem Rechten sehen sollten. Was soll ich sagen? Das Vieh der Inselbewohner lag halb verwest auf den Wiesen, die Inselleute waren bis auf zwei Gerippe spurlos verschwunden, der Steg über den Kanal abgebrannt, vom zweiten Boot keine Spur.
Maurice Leblanc, der Schriftsteller, der Arsène Lupin geschrieben hat, hat die Geschichte so fasziniert, daß er daraus "das Geheimnis der dreißig Särge" gemacht hat. Allerdings hat er seine Insel Sarque hierher an die Südküste verlegt und die Handlung in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Aber, wie dem auch sei, seit der grausigen Entdeckung damals, gilt die Ile oubliée als verflucht, und niemand, der die Geschichte kennt, betritt sie freiwillig.
Ich behaupte, für weniger zart besaitete Gemüter der ideale Platz, um etwas zu verstecken."
Berteau hatte Guerinnes Ausführungen gespannt zugehört. Er bat den Photographen, die fragliche Stelle möglichst präzise auf der Karte an der Wand zu markieren, was dieser nach kurzem Suchen denn auch zufriedenstellend tat.
Jetzt nickte Berteau zustimmend. "Monsieur Guerinne, immer unterstellend, daß unsere Hypothesen zutreffend sind, haben Sie uns unter Umständen soeben einen sehr wichtigen Hinweis geliefert. Wir müssen das natürlich alles erst überprüfen, aber ihre Überlegungen erscheinen so schlüssig, daß ich nicht daran vorbei kann.
Wir machen jetzt Folgendes: Korporal Berger wird morgen mit le Sauvage nach St. Brieuc fahren und anhand ihrer Postkarte den in Frage kommenden Küstenabschnitt besichtigen. Wenn le Sauvage auch zu dem Ergebnis kommt, daß die Bucht sein Motiv war, dann werden wir uns, aber ganz subtil, um die Ile oubliée kümmern Bis dahin, Monsieur Guerinne, darf ich Sie jedoch darum bitten, niemandem über Ihre Entdeckung zu reden. Ich verspreche Ihnen, Sie über den Fortgang der Dinge zu unterrichten."
Der Photograph fühlte sich sichtlich geschmeichelt, derart konspirativ in die Ermittlungen des Kommissars einbezogen zu werden und verabschiedete sich mit stolzgeschwellter Brust. Berteau und Berger trafen noch Absprachen für den nächsten Tag und organiserten die beabsichtigten Handys, ehe sie endgültig Feierabend machten.