Dienstag, 30 April
Ebenezer Browning nahm den Frühzug Richtung Rennes. Er fuhr mit dem Auto nicht mehr gerne über Land. Dazu kam, daß sein alter Morris nicht so richtig zu seinem geliebten Gentleman-Outfit passen wollte. Und ein wenig hatte Ebenezer auch die Befürchtung, daß das klapprige Gefährt bei einer solchen Unternehmung endgültig der Schlag treffen könnte, was denn eine schmerzliche Trennung zur Unzeit zur Folge haben mußte.
Seine normale Ausgeh-Ausrüstung hatte er um einen hellen Trenchcoat und ein schwarzes Aktenköfferchen erweitert, so daß er jetzt -jeder Zoll ein britischer Broker- genau das Maß an Aufsehen erregte, das seinem Seelenheil gut tat.
Er fuhr erster Klasse und las in einer zwei Tage alten Ausgabe der Times. Diese hatte er abonniert, und zu seinem Bedauern war jede Ausgabe, die er erhielt, wegen der Transportwege von vorgestern. Der Conducteur, der kurz vor Lamballe die Fahrscheine kontrollierte, war von Ebenezers Show so beeindruckt, daß er ihn auf Englisch ansprach und radebrechend darauf aufmerksam machte, daß er in Lamballe umsteigen mußte, um nach St.Malo zu gelangen. Browning verzog keine Mine und dankte ebenfalls auf Englisch.
Auf seiner Fahrt nach St.Malo mußte er ein zweites mal umsteigen, nämlich in Dol-de-Bretagne. Beide Male hatte er einige Minuten auf seine Anschlußzüge zu warten und beide Male zelebrierte er die Umsteigevorgänge höchst britisch. Einige Minuten vor der Ankunft in den Umsteigebahnhöfen verstaute er umständlich die Zeitung im Aktenkoffer, zog ebenso umständlich den Mantel an und stülpte den Bowler auf das Haupt. Koffer und Schirm aufgenommen, verließ er darauf das Abteil und stand steif wie ein stummer Diener im Flur des Waggons, bis der Zug vollständig hielt. Ausgestiegen hielt er zunächst nach dem nächsten Bahnbediensteten Ausschau, den er dann mit erhobener Schirmspitze ansteuerte. Er erkundigte sich näselnd, zwar auf französisch, aber mit bewußt unterlegter englischer Aussprache, nach Abfahrtszeit und -bahnsteig seines Anschlußzuges.
Das war ihm zwar alles bereits bekannt, aber für ihn gehörte es nun mal zum Ritual einer Bahnreise. Er erregte genau das Maß an Aufsehen, das einem unauffälligen britischen Gentleman seiner Meinung nach zustand.
Am Bahnhof von St.Malo nahm er ein Taxi, um sich zur Gendarmerie bringen zu lassen, obwohl es dorthin nur wenige hundert Meter waren. Den Einwand des Taxifahrers, es lohne sich weder für den Fahrgast noch für ihn, überhaupt einzusteigen, überhörte er vornehm. Statt dessen blickte er den Fahrer derart strafend an, daß dieser nicht wußte, wie ihm geschah und kleinlaut die unattraktive Fahrt erledigte.
*****
Kommissar Berteau und Korporal Berger trafen sich zufällig am Eigang des Commissariats Central, als sie beide an diesem Morgen ihren Dienst antraten. "Oh, mein Albert ist doch ein guter Junge. Er besucht mich regelmäßig.", ahmte der Kommissar die alte Madame Didier vom Vorabend nach. Berger fand den Scherz am frühen Morgen für unpassend und bekam einen roten Kopf. Verbissen schwieg er und folgte dem Vorgesetzten über die Treppe nach oben.
Als sie jedoch des Kommissars Büro betraten, entfuhr ihm entgeistert ein "Heiliger Strohsack!". Aus dem neuen Faxgerät war seit ihrer letzten Anwesenheit eine gut fünf Meter lange Papierschlange gequollen, die sich jetzt in einem wirren Haufen über Tisch, Stühle und Fußboden ausgebreitet hatte. Berteau suchte in dem Chaos nach dem Anfang der Schlange, fand es und wollte sofort anfangen zu lesen. Dabei lief er in Gefahr, das Knäuel zusätzlich zu verknoten.
Berger, der pragmatischere von beiden, nahm ihm das Ende aus der Hand und trennte das andere vom Faxgerät. Dann bestand er darauf, die ganze Chose vor der Sichtung in schreibmaschinenseitengroße Blätter zu zerteilen, zu sortieren und zu heften. Dabei grummelte er etwas vom "Fluch der modernen Technik" vor sich hin.
Berteau, der für den Moment nichts mit sich anzufangen wußte, sah ihm interessiert zu, nahm mal hier ein Blatt auf, mal da. Irgend wann legte der Korporal den benutzten Locher aus der Hand und sah den Kommissar grimmig an: "Monsieur le Commissaire, wenn Sie mir dauernd meine Sortierfolge durcheinanderbringen, wird das hier nie was! Anstatt den arbeitenden Teil der Bevölkerung an der Ausübung seiner Tätigkeit zu hindern, sollten Sie sich nützlich machen!"
Er zeigte auf die Tür zum Vorzimmer: " Da draußen steht eine Kaffeemaschine, die auf ihren Einsatz wartet. Vorausgesetzt, daß man in Ihrer Besoldungsgruppe das nicht schon wieder verlernt hat, würde ich vorschlagen, Sie bringen das Ding in Gang. Das hätte immerhin den Vorteil, daß uns ausreichend Geistesnahrung zur Verfügung steht, wenn wir nachher versuchen, das hier alles zu lesen."
Berteau holte tief Luft, um zu protestieren. Dann überlegte er es sich anders und zog ab, nicht ohne einen Satz über "die Jugend von heute" loszuwerden. In der folgenden Viertelstunde hörte ihn Berger im Vorzimmer rumoren als gälte es, das Zimmer neu einzurichten.
Der Flic heftete gerade das letzte Blatt in einen Schnellhefter ein und schloß den Deckel, als Berteau den Kopf durch die Tür steckte: "Na schön, Berger," ,sagte er grinsend, " Eins zu Eins unentschieden für heute. Wollen wir das Kriegsbeil vorerst begraben?"
Berger mimte den Nachdenklichen. Dann nickte er gnädig, und Berteau trat ein und brachte Kaffeekanne und Bols gleich mit.
Die Nachtproduktion des Faxgeräts erwies sich als die angeforderten Daten aus dem Archiv in Rennes. Im Wesentlichen enthielt der Akt das, was Berteau schon vom Maître de Kergac wußte, ergänzt um zahllose Fakten über Tatorte und -zeiten, die Umstände der Verhaftung der Didier-Brüder, sowie Listen über ursprünglich geklaute, wieder aufgetauchte und noch vermißte Gegenstände. Wie nicht anders erwartet, enthielt letztere auch einen Hinweis auf die von Berger bereits erwähnte goldene Madonna von Riec-sur-Balon.
Der Korporal bemühte sich, noch während des Studiums die wichtigsten Handlungsorte des Manuskripts auf der Karte zu markieren. "Und was fangen wir jetzt mit der neuen Weisheit an?" fragte er, als sie fertig waren.
Berteau trat an die Karte heran und betrachtete sie sinnend: "Zuerst einmal die Fakten: Erstens, die Vorgehensweise der Bande von damals und von der heute sind im Wesentlichen identisch. Es fällt lediglich auf, daß die Tatorte insgesamt weiter nach Westen verschoben sind. Das mag bedeuten, daß" ,er kreiste mit einer Handbewegung die Gegend zwischen Quimper und Lorient ein, "die Gegend hier abgegrast ist oder die Leute sensibler geworden sind und unsere Ganoven sich hier nicht mehr trauen.
Nimmt man die Aussage des Maître de Kergac und die Tatsache dazu, daß sich die Brüder Didier auf freiem Fuß befinden, so drängt sich die Hypothese eins auf: Die Bande von damals und die von heute ist identisch, zumindest, was den Kopf betrifft. Und das dürfte Charles Didier sein.
Fakt zwei bringt uns zu Hypothese zwei. Die früher wiedergefundenen Gegenstände tauchten ausnahmslos im Umkreis von fünfzig Kilometern um St.Brieuc auf. Das läßt darauf schließen, daß das Depot der Bande, von dem aus der Verkauf organisiert wurde, sich dort befunden haben mag. Wenn ich nun ganz gewagt ihre These von le Sauvages Momentaufnahme mit einfließen lasse, lag das Depot an der Küste etwa in diesem Bereich." Er zeigte mit der Linken auf Perros-Guirec und mit der Rechten auf St. Malo.
Er nahm einen Schluck Café und fuhr dann fort: "Hypothese drei stützt sich auf die Tatsache, daß nur ein kleiner Teil des damaligen Diebesguts im Zuge der Ermittlungen wieder aufgetaucht ist. Sicher kann der Großteil über bisher unbekannte Hehler verscheuert worden sein, aber ich halte das eher für unwahrscheinlich. Die Bande scheint nach dem Eichhörnchenprinzip Vorräte anzuschaffen. Das bringt mich zu der Annahme, daß ein Teil der alten Sore sich noch im Depot befindet, ja sogar, daß dieses heute wieder benutzt wird.
Fakt vier und fünf führen zu Hypothese vier: Die Didiers sind seit einigen Monaten auf freiem Fuß, haben keinen bekannten festen Wohnsitz und gehen anscheinend, außer der hier, keiner geregelten Beschäftigung nach. Es steht also zu vermuten, daß sie Geld brauchen, denn ich denke, ihre neuen Freunde dürften kaum bereit sein, sie lange über Wasser zu halten. Beim Geld hört schließlich auch die Ganovenfreundschaft auf. Also denke ich, daß der Verkauf der Vorräte demnächst anläuft oder schon angelaufen ist, und zwar über die alten Kanäle. Dabei kann man diejenigen Hehler, die vor vier Jahren schon aufgeflogen sind, ausschließen, denn die geraten ja zuerst in Verdacht und werden sich hüten.
Ich denke, wir werden zunächst alle verschwundenen Gegenstände aus beiden Serien in einer Suchliste zusammenfassen und diese per Fax an alle entsprechend ausgerüsteten Gendarmerieposten und Kripodienststellen in fünfzig Kilometer Umkreis von St.Brieuc senden. Und das gleich mit der Bitte um Weitergabe an all jene Gendarmerieposten, die noch nicht so neumodisch ausgestattet sind. Fürs Erste müssen wir dann wohl auf Kommissar Zufall hoffen."
Er sah Berger bedeutungsschwer an: "Am Besten, Korporal, Sie machen sich gleich an die Arbeit!"
Der kratzte sich zweifelnd am Kopf: " Und Sie," ,fragte er, "was gedenken sie zu unternehmen?"
"Oh", grinste Berteau, "ich übernehme den logistischen Teil unserer Arbeit. Ich besorge uns ein paar belegte Baguette. Ich habe nämlich Hunger!" . Er sprachs und verschwand.
*****
Kommissar Zufall hieß in dieser Angelegenheit Ebenezer Browning. Es war für ihn eine reine Formsache, Brieftasche und Schlüsselbund als sein Eigentum zu identifizieren und zurückzubekommen, steckte doch in der Brieftasche noch sein Ausweis. Er unterschrieb eine Quittung und hinterließ beim Diensthabenden einen fünfzig FF-Schein für den Finder.
Ein für seine Rückfahrt geeigneter Zug fuhr erst in zwei Stunden, so daß er die Zeit bis dahin irgendwie totschlagen mußte. Er beschloß, in einem Bistro im Zentrum einen Tee zu trinken und seine geliebte Times zu lesen.
"Sir Ebenezer" umrundete zu Fuß den Place Central auf der Suche nach einem geeigneten Lokal. An der Einmündung einer stark befahrenen Seitenstraße mit Fußgängerampel mußte er stehenbleiben, und so fiel sein Blick mehr zufällig in die Auslage des Antiquitätengeschäfts an der Ecke. Es traf ihn fast der Schlag. Dort lag sie, seine geliebte und geklaute Taschenuhr. Es war kein Zweifel möglich. Er konnte an der feinen Ziselierung des Deckels sogar den Kratzer entdecken, den er der Uhr in einem unachtsamen Moment vor vielen Jahren beigebracht hatte.
Er studierte zögernd das Schild an der Ladentür, das auswies, daß der Laden einem gewissen Jaques Laudec gehörte. Dann gab er sich einen Ruck und betrat das Geschäft.
Laudec erwies sich als ein vierschrötiger, untersetzter Typ, der schlurfend aus den hinteren Räumen nach vorne in den Laden kam und Browning unfreundlich nach seinen Wünschen fragte.
Ebenezer Browning vergaß vor Aufregung, seiner Stimme den englisch- sonoren Tonfall unterzulegen: "Monsieur, Sie haben da in Ihrer Auslage eine wunderschöne alte goldene Taschenuhr, die mich sehr interessiert. Kann ich das gute Stück einmal aus der Nähe betrachten?"
Laudec, ein Geschäft witternd, wurde eine Spur freundlicher, schlurfte um seinen Tresen herum und entnahm die Uhr dem Schaufenster. "Fürwahr, Monsieur" ,quetschte er zwischen den Zähnen hervor, "Sie sagen es, ein wunderbares Stück. Bestes Schweizer Fabrikat, schon fast hundert Jahre alt. Und funktioniert noch wie neu!" Er zog die Uhr auf und hielt sie dem vermeintlichen Kunden ans Ohr, damit dieser sie ticken hören konnte. Dann legte er sie auf den Tresen.
Browning nahm die Uhr in die Hand und klappte den Deckel auf. Das Zifferblatt stimmte, es war seine Uhr. Er sah jedoch ein, daß er Schwierigkeiten bekommen würde, sollte er jetzt gegenüber Laudec die Uhr als sein Eigentum bezeichnen. Der war ihm körperlich weit überlegen und sah auch so aus, als hätte er keine Bedenken, unliebsame Kunden handgreiflich an die Luft zu befördern. Deshalb fragte er: "Was soll das gute Stück denn kosten?"
Laudecs Mine wurde noch eine Spur freundlicher: " Eine einmalige Gelegenheit, Monsieur, nur viertausend FF"
Ebenezer lächelte säuerlich. Für einen anständigen Preis hätte er vielleicht seine eigene Uhr ohne großes Aufsehen zurückgekauft. Aber viertausend Franc waren nun doch zu stark. Er hielt dem Händler die Uhr unter die Nase: "Mon dieu, so ein häßlicher Kratzer! und dann viertausend Franc?"
Der Freundlichkeitsgrad des Antiquitätenhändlers wurde um einen Gang zurückgeschaltet. "Mit mir handelst Du nicht, Du alter Knacker" dachte er bei sich, aber laut sagte er: "Deshalb ja auch nur viertausend! Wäre die Uhr einwandfrei, könnte ich doch glatt einen Tausender mehr verlangen."
Browning beschloß, die Taktik zu ändern. So kam er hier nicht klar. Er zückte die Brieftasche und tat so, als wolle er seine Barschaft zählen. Dann steckte er sie wieder ein und wandte sich an Laudec: "Monsieur, bedauerlicherweise habe ich im Moment nicht so viel Geld einstecken. Würden sie die Freundlichkeit besitzen, mir die Uhr für einige Minuten zu reservieren. Ich husche nur schnell über die Straße zur Banque National, um mir das nötige Geld zu besorgen. ich bin gleich zurück. Aber bitte nicht mittlerweile anderweitig verkaufen!"
Laudec strahlte jetzt förmlich: "Kein Problem, Monsieur, bis sie wiederkommen, kommt die Uhr da hinein, da ist sie sicher",, und er packte das gute Stück in die Glasvitrine unter seinem Tresen.
Ebenezer Browning verließ den Laden eilig. Glücklicherweise konnte Laudec von seinem Platz aus nicht einsehen, in welche Richtung sich der schrullige Alte wandte. Es hätte ihn doch sehr nachdenklich gestimmt, hätte er bemerkt, daß dieser eilends anstatt der Banque National dem Gendarmerieposten zustrebte.
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Kasurintin le Breton hatte das unbestimmte Gefühl, der Autohändler würde bereits heute auftauchen, um die Bilder für die Ausstellung abholen zu lassen. Er schätzte den fordernden Charakter des Anderen so ein, daß dieser bei einer Terminierung, die einen Spielraum offen ließ, eher den frühestmöglichen, als den letztmöglichen Zeitpunkt wahrnahm.
Der Wilde hatte nun aber keine Lust, auf Verdacht in seiner Behausung auf der Lauer zu liegen.. Wenn er mit seiner Einschätzung falsch lag, konnte es auch Donnerstag werden, und das hätte für ihn eine unerträgliche Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit bedeutet.
Er wußte, daß Yves-Marie sich auch in seiner Abwesenheit bedienen würde, schließlich hatten sie eine Abmachung. Um sicher zu gehen, daß der Umfang der abzutransportierenden Bilder sich im Rahmen der Abmachungen hielt, entfernte le Sauvage den Teil seiner Habseligkeiten aus dem Atelier, den er hinterher wieder vorzufinden wünschte und brachte ihn im einzigen verschließbaren Raum seiner Hütte, einem windschiefen Anbau an deren Rückseite unter.
Zu dem, was er in Sicherheit brachte, gehörte das noch unfertige "<la Tempête> II", das Portrait von Edith Leblanc und seine letzten fünf Flaschen Calvados aus Guehenno. Er wußte, daß die Transporteure sich üblicherweise hemmungslos bedienten, sah man ihnen nicht auf die Finger.
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Der diensthabende Gendarm auf der Wache von St.Malo war nicht wenig erstaunt, Ebenezer Browning so schnell wiederzusehen. Zunächst schmunzelnd, dann immer ernster werdend, nahm er die Anzeige des Alten entgegen.
Ebenezer erzählte blumig, was ihm in den letzten Minuten widerfahren war. Er hatte ein lausiges Namensgedächtnis, und der Name des Antiquitätenhändlers war ihm bereits wieder entfallen. Er beschrieb aber die Lage des Geschäfts so präzise, daß der Diensthabende schnell erkannte, um welchen Laden es sich handelte.
" Ah, Jaques Laudac, Monsieur. Der Mann ist hier bei uns bekannt. Er fischt schon ab und zu im Trüben, wenn sich die Gelegenheit bietet. Wir werden uns sofort darum kümmern". Er rief zwei Gendarmen aus dem Bereitschaftsraum und besprach mit ihnen die Angelegenheit. Die beiden bewaffneten sich mit ihrer üblichen Ausrüstung und zogen mit Ebenezer Browning los.
Als sie in die Nähe des Antiquitätenladens kamen, bedeuteten sie Brownig, er möchte mit Ihnen einen kleinen Umweg machen, Laudac sollte sie nicht schon von Weitem kommen sehen und die Zeit haben, das Beweisstück wegzuräumen.
Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unbegründet. Als sie das Geschäft betraten, war Laudac am hinteren Ende des Tresens damit beschäftigt, mit einem Kunden über den Preis für eine Madonna zu verhandeln, die zwischen ihnen auf der Theke aufgebaut war. Als er Browning mit den beiden Flics eintreten sah, wechselte er sichtbar die Farbe. Er ließ schnell die Statue hinter der Theke verschwinden und warf seinem Gegenüber einen warnenden Blick zu, worauf sich dieser hastig verabschiedete und an den Gendarmen vorbei ins Freie drückte.
Browning steuerte eilig auf die Vitrine zu, um sich zu überzeugen, daß seine Uhr noch da war. Die Flics hielten sich vorläufig im Hintergrund und musterten gelangweilt den Nippes, der in der Nähe der Tür aufgebaut war.
Laudac kam zu Brownig herüber. Feine Schweißperlen zierten jetzt seine Stirn, obwohl er nicht den Eindruck machte, sich überarbeitet zu haben.
"Monsieur, da bin ich wieder", Ebenezer gab sich hoheitsvoll, "Es bleibt also dabei, daß sie mir diese Taschenuhr", er zeigte auf die Vitrine, "für viertausend Franc verkaufen wollen?"
Jaques Laudac war unverfroren genug, einen Versuch zu wagen. "Verkaufen schon, Monsieur, nur mit dem Preis ist das so eine Sache. In Ihrer Abwesenheit war ein anderer Interessent da, und der hat mir auf die Hand viertausendfünfhundert geboten. Aber ich habe gesehen, wie sehr Sie sich für die Uhr interessieren, so daß ich es nicht übers Herz gebracht habe, sie wegzugeben. Aber Sie wissen ja, man muß leben....."
"Sir Ebenezer" war erzürnt. Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und sagte steif: " "Monsieur Laudac, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie mir die Uhr gar nicht verkaufen können, nicht für viertausend und auch nicht für fünf. Diese Uhr gehört mir nämlich seit mehr als vierzig Jahren und war davor noch länger im Besitz meiner Familie. Sie ist mir am vergangenen Samstag in St.Brieuc gestohlen worden und der Diebstahl wurde von mir bei der dortigen Gendarmerie angezeigt. Ich bin schon sehr erstaunt, Monsieur, daß mein Eigentum ohne mein Einverständnis hier bei Ihnen zum Verkauf angeboten wird."
Der Händler wollte aufbrausen: "Unverschämtheit", schnappte er, wurde aber von dem älteren der beiden Flics unterbrochen.
" Sachte, sachte, Jaques", sagte der und kam näher. Er nannte den anderen nur beim Vornamen. "Wenn der Herr hier so eine schwerwiegende Behauptung aufstellt, so denke ich, daß er auch einen Beweis hat. Nicht wahr, Monsieur?" er wandte sich an Ebenezer.
Der war jetzt in seinem Element: "Oui, Monsieur, ich denke schon. Dazu muß Monsieur Laudac aber die Uhr zuerst einmal aus der Vitrine nehmen."
Laudac zögerte, aber als der Gendarm energisch mit dem Kinn zuckte, beeilte er sich, das umstrittene Stück auf die Theke zu legen.
"Sie haben mir gesagt, die Uhr sei ein Schweizer Fabrikat und fast hundert Jahre alt, ist das richtig ?", Browning fixierte den Händler scharf. Der wußte nicht, worauf der andere hinauswollte und nickte.
"Nun, Monsieur," der Engländer nahm die Uhr auf und hielt sie dem Polizisten unter die Nase, "wenn sie den hinteren Deckel öffnen, werden sie feststellen, daß das schöne Stück bei der Manufactur Woolbridge in Southampton gefertigt wurde. Außerdem werden sie auf der Deckelinnenseite eine Gravur finden mit dem Text "In Love - Diana and Charles Browning und die Jahreszahl 1875. Die Uhr ist also bereits einhundertzwanzig Jahre alt und war das Verlobungsgeschenk meiner Großmutter an meinen Großvater!"
Der Gendarm nahm die Uhr an sich und suchte nach einem Öffnungsmechanismus für den hinteren Deckel, konnte aber keinen finden. Nach einigen Versuchen gab er die Uhr an Laudac weiter, er solle sie öffnen. Ach der versuchte sich vergebens und begann bereits zu triumphieren, weil er dachte, die Uhr ließe sich nicht öffnen.
"Sehen Sie," dozierte Ebenezer Browning, "wenn es noch eines weiteren Beweises bedarf, so ist es dieser. Monsieur Laudac weiß nicht einmal, wie man die Uhr öffnet." Er nahm sie wieder an sich und zeigte dem Gendarmen eine winzige Vertiefung in der Verzierung des Deckels. "Mein Großvater hat, aus welchen Gründen auch immer, den hinteren Hohlraum als eine Art Geheimfach benutzt. Sie brauchen einen spitzen Gegenstand, Moment,", er nahm einen Korkenzieher aus dem Nippesregal und drückte mit dessen Spitze in die Vertiefung. Der Deckel sprang auf. "Hier bitte!" Browning überreichte die Uhr wieder dem Gendarmen.
Der hielt sie schräg ins Licht, um die Gravuren erkennen zu können und gab sie dann an Laudac weiter, damit der sich auch überzeugen konnte: "Das wär’s wohl , Jaques," ,knurrte er, "Monsieur Browning hat unwiderlegbar sein Eigentum identifiziert. Und Sie haben wir wieder einmal dabei erwischt, wie Sie Dinge verkaufen, die Ihnen nicht gehören. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie geben dem Herrn seine Uhr zurück und schreiben den erhofften Gewinn in den Schornstein, oder wir beschlagnahmen Sie. Sie, Monsieur," fuhr er an Browning gewandt fort, "müssen wir bitten, noch einmal zur Anfertigung eines Protokolls aufs Revier zu kommen."
Ebenezer nickte. Der andere Flic war mittlerweile scheinbar gelangweilt durch den Laden geschlendert. Jetzt umrundete er den Tresen am anderen Ende, und bückte sich nach der Madonnenfigur, die Laudac bei ihrem Eintreten so auffällig-unauffällig hatte verschwinden lassen.
"Dasselbe gilt übrigens auch für Monsieur Laudac", ließ er sich nun aus dem Hintergrund hören. "Eh, Antoine," rief er seinem Kollegen zu und hielt die Madonna hoch, "ich denke, wir sollten bei dieser Gelegenheit auch das hier vorläufig beschlagnahmen und identifizieren lassen. Ich denke, die Kollegen in Brest und Lorient suchen zur Zeit massenhaft solchen Krempel"
Er klemmte sich die Figur unter den Arm und kam zu den anderen. "Laudac, am besten hängen Sie gleich ein Schild an die Tür : Wegen Inventur geschlossen. Denn wenn Sie nicht eine sehr einleuchtende Erklärung dafür haben, wo dieses Dings hier herstammt, verspreche ich Ihnen, daß WIR hier Inventur machen werden, aber gründlich. Gehen wir!"
*****
Gegen elf Uhr hatte Berger seine Suchliste zusammengestellt und begann, sie entsprechend Berteaus Anweisung an die Dienststellen im Norden der Halbinsel zu faxen. Um eine Systematik in die Angelegenheit zu bringen, begann er ganz im Norden und arbeitete sich nach und nach zu den südlicheren Orten durch.
So geschah es mehr zufällig, daß die Suchliste just zu dem Zeitpunkt in der Gendarmerie von St.Malo aus dem Faxgerät kam, als im benachbarten Vernehmungszimmer die Befragung von Jaques Laudac ihren Höhepunkt erreichte. Der Diensthabende, der die Vernehmung mit halbem Ohr durch die angelehnte Tür verfolgte, las das Fax oberflächlich mit, noch während es aus der Maschine quoll. Die beschlagnahmte Marienstatue stand auf seinem Schreibtisch, und mehr routinemäßig verglich er jede erscheinende Position mit der Skulptur. Es gab mehrere Gegenstände, die nach der verbalen Beschreibung hätten auf seine Figur zutreffen können, aber in den meisten Fällen fehlte das eine oder andere Detail. Erst bei der vorletzten Position wurde er richtig aufmerksam. Seine Madonna trug einen Rosenkranz um den Hals, und genau ein solches Stück wurde gesucht.
Er trennte das Fax von der Maschine und ging damit in den Nebenraum. "Volltreffer, Jungs," Er winkte mit der Papierfahne, "unsere kleine Marie stammt vermutlich aus St. Guénolé am Pointe de Penmarch und ist dort vor knapp zwei Wochen ausgerissen, ohne den Pfarrer um Erlaubnis zu fragen. Sicher kann uns Monsieur Laudac erzählen, wie das hölzerne Mädchen die zweihundert Kilometer bist in seinen Laden zurückgelegt hat, um ihm dort käuflich dienstbar zu sein?"
Der Händler, der bisher zum X-ten male seine Ahnungslosigkeit beteuert und lauthals gegen die ihm angediehene Behandlung protestiert hatte, schwieg verbissen. Das änderte sich auch nicht, als der bisher eher gemäßigte Umgangston der Vernehmungsbeamten nun deutlich rüder wurde. Nach einer weiteren halben Stunde winkte der Diensthabende ab. "Soll sich doch dieser Spezialist, dieser Kommissar aus Lorient oder wo der sonst herkommen mag, damit befassen.
Ich rufe dort gleich mal an. Schafft den Kerl einstweilen in eine Zelle, damit er sich abreagieren kann."
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Um die Mittagszeit herum tauchte Yves-Marie le Breton mit seinem Abholkommando bei der Hütte des Wilden auf. Er hatte für den Transport einen ihm bekannten Kleinunternehmer aus Quimperlé beauftragt, den er kannte und der für ihn schon bei einigen seiner zahlreichen Umzügen tätig gewesen war. Er führte seine Transporte mit einem uralten, eineinhalbtonner Citroen-Kastenwagen durch, dessen wellblechartiger Aufbau früher einmal blau gewesen sein mochte, jetzt aber unter einer dicken Staubschicht eher grau wirkte.
Es hatte am Vormittag etwas geregnet, und der Fahrer quälte sein Fahrzeug fluchend und mit knatterndem Motor über das Ende des Feldwegs hinaus auf die Wiese. Diese war glitschig und leicht abschüssig, so daß der Transporter immer wieder wegzurutschen drohte. Nach zehn Minuten und etlichem Flurschaden war es geschafft und das Fahrzeug stand parallel zur Hütte des Malers. Der Fahrer stellte schimpfend den Motor ab und stieg zusammen mit seinem Beifahrer aus.
Der Autohändler, der vom Ende des Feldwegs aus die Fahrkünste des Anderen kopfschüttelnd beobachtet hatte, ließ seinen Wagen dort stehen und kam zu Fuß herauf. Die beiden Transporteure erwarteten ihn mit grimmiger Mine und in den Taschen vergrabenen Händen.
Le Sauvage war nicht anwesend. Yves-Marie hatte es befürchtet, aber es war ihm egal. Er führte seine Helfer in das sogenannte Atelier und beauftragte sie, alles aufzuladen, was nach Bild aussah. Als einer der beiden nach einer jungfräulichen Leinwand griff, tippte er sich an die Stirn. Nein , so etwas natürlich nicht!
Der Arbeiter gab sich beleidigt. Na gut, dann eben nicht. Woher er denn wissen sollte, was diese Modernen denn heutzutage als Bild bezeichneten und was nicht. Le Breton erklärte, daß etwas Farbe seiner Auffassung nach schon zu einem Gemälde gehörte.
Die Packer machten sich ans Werk. Stück für Stück trugen sie nach draußen und wickelten die Bilder zwar wenig fachmännisch, aber nichts desto trotz sorgfältig in Decken ein , ehe sie sie auf dem Laster verstauten.
Yves-Marie le Breton überwachte die Arbeit eine zeitlang. Er hatte sich vorgenommen, heute noch mit le Sauvage zu sprechen, um mit ihm einige Termine zu vereinbaren. Er war nicht gewillt, sich derart versetzen zu lassen. Er wußte, daß sich der Maler normalerweise am Strand oder in Guidel Plage herumtrieb, und beschloß diesen zu suchen. So verabschiedete er sich mit dem Hinweis, man wolle sich in zwei Stunden in Lorient in der Rue Marechal Foch vor der Galerie treffen.
Die Transporteure nickten, maulten aber über die Unart, ein Haus auszuräumen, dessen Eigentümer nicht anwesend sei. Und außerdem sei es unverantwortlich, hart arbeitenden Menschen nicht einmal etwas zu Trinken anzubieten. Le Breton überhörte den Einwand und machte sich auf die Socken.
Er war noch in Sichtweite, da zog einer der beiden Zurückbleibenden eine Flasche Bejaulais aus dem Regal über der Kochstelle in der Hütte, die er schon bei der ersten Inspektion entdeckt hatte. Le Sauvage hatte die Flasche absichtlich dort zurückgelassen, in der Hoffnung, die Packer würden nicht allzuneugierig suchen, wenn er es ihnen zu einfach machte.
Die Flasche wurde entkorkt und im Rahmen einer Pause zunächst halb geleert. Der Fahrer inspizierte deren restlichen Inhalt und stellte fest, das könne man ja so nicht zurücklassen, das sei doch unordentlich. Also deponierte er den Rest im Fahrerhaus des Transporters, während der andere sich daran machte, <la Tempête> ins Freie zu transportieren. Er lehnte das Bild an die Hüttenwand und machte sich daran, geeignete Decken zum Einpacken zu suchen.
Der Fahrer kam zurück, den Blick wildentschlossen auf die wartende Arbeit gerichtet. Zwei Meter vor <la Tempête> blieb er wie vom Donner gerührt stehen.
"Joseph, komm einmal her", rief er den anderen, "Sieh Dir das Bild an. Fällt Dir daran nichts auf?"
Der Andere kam herbei und musterte das Bild. "Was soll damit schon sein? Ziemlich schwülstiger Schinken, würde ich sagen. Eine Bucht, ein Boot, eine Insel und schlechtes Wetter. Was soll daran besonderes sein.?"
"Mein Gott, Joseph, bist Du blind?", der Fahrer hieb sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Das ist die Bucht von St.Briac, unsere Bucht. Das da der Calvarie von St. Antoine. Da hinten die vergessene Insel, unsere Insel. Und das ist unser Boot. Wenn es nicht unmöglich wäre, würde ich sagen, die Männer da unten am Boot sind wir!"
Joseph legte den Kopf schief und betrachtete das Bild scharf. Er trat zwei Schritte zurück, dann wieder vor. Dann beugte er sich herunter, um Details besser erkennen zu können.
"Merde", sagte er und richtete sich auf. "Joel , ich weiß nicht, wie das sein kann, aber Du hast recht. Ich denke, Charles muß das Bild sehen!"
"Richtig," nickte Joel, "und zwar noch ehe es die Galerie erreicht. Ich denke, das wird Einfluß auf unsere Pläne nehmen."
Sie setzten ihre Verladearbeiten hastig fort. Nach gut einer halben Stunde waren sie fertig und fuhren zur Straße zurück.
Joseph dachte laut nach: "Nach Quimperlé können wir jetzt nicht fahren, das würde zu lange dauern und auffallen. Also muß Charles zu uns stoßen, aber das dauert. Irgendwas muß uns einfallen."
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Berteau und Berger waren gerade im Begriff, Essen zu gehen, als das Telephon klingelte. Berteau, bereits im Mantel hob ab und meldete sich, schaltete zugleich den Lautsprecher ein, damit Berger mithören konnte.
Sie waren baß erstaunt, als sich am anderen Ende der Leiter der Gendarmerie von St.Malo meldete und verkündete, es sei vermutlich einer gesuchten Sakralgegenstände aufgetaucht, eine hölzerne Madonna. nein, man könne keine verbindliche Zuordnung treffen, nehme aber an, daß die Figur aus St. Guenolé stamme. Ob nicht vielleicht der Kommissar mit seinen sicher besseren Möglichkeiten......
Es folgte eine Schilderung der Umstände, unter denen die Figur entdeckt worden war. Berteau und Berger beschlossen, ihre Pläne zu ändern und umgehend nach St.Malo zu fahren. Sie baten darum, den Antiquitätenhändler bis zur Einvernahme durch Kommissar Berteau festzuhalten. Außerdem regte Berteau an, umgehend beim zuständigen Untersuchungsrichter einen Durchsuchungsbefehl zu beantragen und Laudecs Räume durchsuchen zu lassen.
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Die Straße zwischen Guidel-Plage und Fort Bloqué folgt auf ihrer ganzen Länge der Küstenlinie zwischen beiden Dörfern. Auf halbem Wege, mitten in sonst nichts als Landschaft, steht direkt am Straßenrand eine vereinsamte Telephonzelle. Ihr Vorhandensein ergibt nur dann einen Sinn, wenn man weiß, wie die Bretonen dieser Region das Ritual abziehen, das sie "visite la mer" nennen.
An warmen Sommertagen, vornehmlich an den Wochenenden, gehört es für die Bevölkerung zum festen Programm, ans Meer zu fahren. Sie zockeln dann so lange an der Küstenstraße entlang, bis sie für ihren Wagen eine Parklücke direkt am Rand der Klippen finden. In diese biegen sie vorwärts ein und dirigieren den Wagen so dicht an den Steilabfall heran, bis es wirklich nicht mehr weiter geht. So steht an gut besuchten Tagen kilometerweit Fahrzeug an Fahrzeug, die Vorderfront stramm auf das tieferliegende Wasser ausgerichtet.
Nicht, daß die Bretonen aussteigen würden, es sei denn, es muß mal einer pinkeln. Wenn man jemand zu Fuß unten an der Wasserlinie sieht, sind das todsicher entweder Fischer, die Muscheln sammeln oder ausländische Touristen.
Die Einheimischen bleiben in ihren Fahrzeugen sitzen, öffnen links und rechts die Türen weit und drehen die Stereoanlage auf volle Pulle. Nachdem kaum einmal zwei Nachbarn denselben Sender hören, herrscht ein unbeschreiblicher Lärm. Die Bretonen verzehren ihre mitgebrachten Salamibaguettes und trinken Cola aus der Dose und starren ansonsten verzückt aufs Meer.
Nach durchschnittlich zwei Stunden schließen sie wieder die Türen, werfen ihren Abfall aus dem Fenster und setzen ihr Fahrzeug zurück auf die Straße um nach hause zu fahren. Die so entstandene Lücke wird bis etwa zwanzig Uhr in sekundenschnelle durch einen neuen "la mer"-Besucher geschlossen.
Ab und zu rollt ein Auto wegen Unachtsamkeit oder Unvermögen des Fahrers mit den Vorderrädern über den Klippenrand, sitzt dann mit der Wanne auf und bleibt hängen. Oder ein Wagen springt nicht mehr an, weil die stromfressende Stereoanlage die Batterie leergesaugt hat.Dann benötigen die Fahrzeugbesitzer einen Abschleppdienst. Und nur dem Zweck, diesen herbeizurufen, dient die Telephonzelle.
Den Transporteuren von le Bretons Bildern kam die Zelle gerade recht. Sie hielten ihr gegenüber an, und Joseph stieg aus, um zu telephonieren. Der andere ließ die Luft aus dem rechten Vorderreifen ab, um eine Panne vorzutäuschen. Sie mußten damit rechnen, daß in Kürze der Autohändler vorbeikommen konnte. Einen Motordefekt konnten sie dem nicht simulieren, dazu verstand der zu viel von Autos. Aber ein platter Reifen, der dauerte seine Zeit, besonders, wenn das Ersatzrad auch platt war und man erst eine Werkstatt konsultieren mußte.
Joseph hatte mittlerweile seine Verbindung und sprach hektisch ins Mikrophon. "Hallo, Charles, wir haben hier ein Problem, Du mußt unbedingt herkommen. Frag jetzt nicht, ich kann Dir das am Telephon nicht erklären. setz Dich aufs Motorrad und pack einen Ersatzreifen für den Transporter in den Beiwagen und komm her. Ja , es ist wirklich wichtig."
Er beschrieb seinem Gesprächspartner, wo sie zu finden waren, und der Andere versprach, in etwa einer halben Stunde da zu sein. Joseph hängte ein.
Joel ging etwa dreißig Meter am Straßenrand zurück und zertrümmerte dort die mittlerweile leere Weinflasche. Joseph hatte den Wagenheber ausgepackt und angesetzt, machte jedoch keine Anstalten, den Laster hochzubocken.
Es vergingen einige Minuten, dann kam le Bretons schwerer Citroen die Straße entlangedonnert. Er hielt mit quietschenden Reifen vor dem Transporter an und der Autohändler stieg schimpfend aus.
"Was ist los?", bellte er herüber
Joseph trat mit dem Fuß gegen das platte Rad: "Reifenpanne!" rief er zurück.
Le Breton kam näher: "Wie kommt den so was?", wollte er wissen. Der Fahrer zeigte die Straße zurück: " Da hinten muß so ein Idiot eine Flasche aus dem Auto geworfen haben und wir sind in die Scherben hineingefahren. Pech, so was."
"Und warum wechselt Ihr nicht ganz einfach das Rad?"
"Geht nicht," Joseph zuckte mit den Schultern, "das ist schon der zweite platte Reifen innerhalb von vier Tagen. Der Platten vom Samstag ist noch nicht geflickt. Aber ich habe schon um Hilfe telephoniert. Wird wohl ne Stunde dauern!"
Yves- Marie besah sich erbost die fast profillosen Pneus des Transporters. "Merde," schimpfte er, "wie kann man nur mit solchen Glatzen herumfahren." Er sah auf die Uhr: " In zwanzig Minuten ist der Photograph in der Galerie, um die Aufnahmen für den Katalog zu machen. Jetzt kann ich lostoben, und mit ihm einen neuen Termin vereinbaren. Unsereins hat ja schließlich nicht ewig Zeit. Kommt also nach, so schnell es geht!"
Er schwang sich in seinen Wagen und fuhr mit jaulenden Reifen davon.
*****
Es dauerte eine knappe halbe Stunde, dann knatterte mit ohrenbetäubendem Lärm und etlichen Fehlzündungen aus Richtung Guidel kommend ein uraltes Motorrad mit Seitenwagen heran. Der Fahrer, ein stämmiger Mann in kariertem Hemd und Latzhose, trug anstatt eines Helms eine jener altertümlichen Lederkappen, wie sie bis in die fünfziger Jahre üblich waren und eine überdimensionale Schutzbrille. Den Mund schützte er mit einem schmutzigen Halstuch. Aus dem Seitenwagen ragte ein Ersatzrad für den Transporter.
Der Fahrer brachte das Motorrad unmittelbar hinter dem Laster zum Stehen, stieg ab und demaskierte sich. Ein rundes, feistes Gesicht mit dünnem Oberlippenbart und stechenden Augen kamen zum Vorschein. Wäre Kommissar Berteau anwesend gewesen, so hätte er den Ankömmling zweifelsfrei als den gesuchten Charles Didier identifiziert.
Die Drei begrüßten sich kurz. Dann öffneten die beiden Transporteure die Hecktür des Kastenwagens und zogen das großformatige Bild hervor. Joseph schlug die Decke zurück, und Didier besah sich das Kunstwerk.
Er war offensichtlich der schnellste Denker der Gruppe und begriff sofort. Die Straße war um diese Zeit nur schwach befahren, dennoch kamen von Zeit zu Zeit Fahrzeuge vorbei. Didier gab den anderen einen Wink, das Bild vorerst wieder zu verstauen. Es mochte auf Vorbeifahrende doch einen merkwürdigen Eindruck machen, wenn mitten auf der Landstraße eine Kunstausstellung betrachtet wurde.
Die drei machten sich an den Radwechsel und unterhielten sich nebenbei.
"Das ist stark.", sagte Didier, " fragt mich nicht wie so was kommt. Normalerweise waren wir beim Übersetzen immer sehr vorsichtig. Ich kann mich auch nur an ein einziges Mal erinnern, daß wir bei Sturm hinausgefahren sind. Ist schon ein paar Jahre her, war noch bevor Sie uns damals am Arsch hatten. Mein Gott, es war fünf Uhr früh und lausiges Wetter. Wer hätte damals damit gerechnet, Zuschauer zu haben?"
Sie hoben das defekte Rad von der Achse, und Joel rollte es beiseite.
Didier richtete sich auf und faßte sich an den Rücken: "Sei es, wie es sei! Das Bild ist zu genau und muß verschwinden. Solange es bei dem Maler in der Hütte schimmelte, war es unproblematisch. Aber wenn es jetzt öffentlich ausgestellt wird, findet sich bestimmt so ein Naseweis, der den Strandabschnitt erkennt. Im ungünstigsten Fall will so ein kunstsinniger Spinner die Gefühlswelt des Malers in der Natur nachempfinden und fährt womöglich zur Ile oublié hinaus, dann hätten wir den Salat! Und so auf die Schnelle finden wir kaum ein geeignetes Versteck."
Joseph hatte das neue Rad auf die Achse gehoben und setzte jetzt von Hand die Radmuttern an:"Wie sollen wir es machen?", fragte er, "vernichten wir es sofort?"
Charles tippte sich an die Stirn: " Spinnst Du? Wenn der Schinken hier vom Lastwagen verschwindet, stehen Sie uns gleich auf den Füßen. Non, er muß aus der Galerie verschwinden, dann hat dieser fette Kommissar, den die Ouest France so liebevoll behandelt, einfach einen neuen Fall." Er reichte Joel den Radmutterschlüssel. "Außerdem bist Du kein Geschäftsmann. Wenn Gras über die Sache gewachsen ist, bringt der Schinken bei Laudac oder einem der anderen Betrüger mindestens zehntausend Franc. Was werden wir so einen Schatz vernichten!"
Joel hatte die Radmuttern angezogen und Joseph drehte den Wagenheber herunter. Didier selbst hatte die Arbeit eingestellt und dozierte weiter. " Wir bringen das Bild zu den anderen Sachen ins Depot auf die Insel. Liefert es jetzt mal schön brav in der Galerie ab und versucht herauszufinden, ob die da eine Alarmanlage oder so was haben. Albert und ich holen uns dann die Sache, sobald es geht." Er wuchtete den defekten Reifen in den Seitenwagen des Motorrads. "Nebenbei, habt Ihr eine Ahnung, ob von dem Zeugs schon Photos gemacht wurden, für einen Katalog oder so?
Joel wischte sich die Hände an der Hose ab und grinste: "Non, ich glaube nicht! Wenn wir nicht diese bedauerliche Panne gehabt hätten, sollte das gerade jetzt stattfinden. Le Breton war fuchsteufelswild, weil er das jetzt auf morgen verschieben muß !"
Didier nickte: "Bestens! Trotzdem drängt die Zeit. Schaut Euch um und meldet Euch, wenn Ihr wegen der Alarmanlage Bescheid wißt. Salu!" Er startete das Motorrad, wendete es und verschwand mit einem Stakkato an Fehlzündungen.
*****
Sie verließen Lorient in westlicher Richtung auf der N24, um dann ab Ploermel über die 766 nach Norden Richtung Dinan und St. Malo abzubiegen. Das ausgefallene Essen holten sie in einer Fernfahrerkneipe bei Josselin nach. Es war, wenn auch für Berteaus Geschmack ein wenig zu rustikal, so doch schmackhaft und reichhaltig.
Berger gab sich während der Fahrt recht einsilbig, und der Kommissar hing eine Zeit lang seinen Gedanken nach. Doch während des Essens dürstete ihn nach Kommunikation. Nachdem Berger diese nicht eröffnen wollte, gab er sich einen Ruck:
"Nun, immer noch eingeschnappt wegen heute früh?"
Berger schüttelte den Kopf:" Non, Monsieur, das ist es nicht.Ich habe sozusagen ein Problem."
Der Dicke hakte nach: "Schon wieder mit der unbekannten Schwiegermutter?"
Der Korporal bekam einen roten Kopf: "Commissaire, hören Sie doch auf, mich zu veralbern. Nein, es ist sozusagen ein dienstliches Problem. Wenn ich etwas mache, dann möchte ich auch verstehen, was ich tu. Und in Ihrem Metier habe ich da so meine Schwierigkeiten. Dabei meine ich nicht die Polizeiarbeit! Es ist die Kunst, die ich nicht auf die Reihe kriege!"
In Berteau erwachte der Missionar. Er legte das Besteck aus der Hand und sah Berger an. "Nun, wo liegt denn das Problem?"
Berger rieb nachdenklich die Hände aneinander: "Ich gebe ja zu, daß ich ein Banause bin. Und ich denke, daß Sie meinen Standpunkt unmöglich finden werden. Aber meine Fragen liegen im Grundsätzlichen. Was ist Kunst? Wer entscheidet, was Kunst ist und was nicht? Wer legt fest, welche Kunst einen materiellen Wert darstellt und welche nicht? Warum machen unsere Klienten so ein, pardon, Geschiß um ein paar Quadratmeter Leinwand und ein paar Eimer verstrichene Farbe?"
Berteau war verblüfft. Ihm, der er als Experte auf dem Gebiet der Malerei galt, war es nie in den Sinn gekommen, die Autorität der Kunst an sich anzuzweifeln. "Ich weiß nicht so recht, worauf Sie hinauswollen, Berger. Das müssen Sie mir erklären!", forderte er den anderen zum Weitersprechen auf.
"Nun, ich fürchte, das wird bis St.Malo dauern." Berger bestellte beim Garson einen Mokka, dann fuhr er fort:
"Was tut der Laie von Irgendwas, wenn er sich über eben jenes informieren will? Er greift sich ein Konversationslexikon und schlägt unter dem entsprechenden Stichwort nach! Nun steht da
unter Kunst: allgemein die Ausübung angeborener oder erworbener Fähigkeiten in hochentwickelter, spezialisierter Form, sofern es durchschnittliche Leistungen übersteigt, in einer schöpferisch-ästhetischen Gestaltung und noch mehr so blah-blah. Und dann steht weiter unten, daß Kunst in jede Menge Sparten zerfällt und im Grunde gar nicht eindeutig definiert werden kann. Und daß es etwas mit Können zu tun hat. Allein diese paar Formulierungen, winziger Ausschnitt aus dem entsprechenden Lexikon-Abschnitt, geben Anlaß zu tausend Fragen."
Sie bezahlten ihre Rechnung, und Berteau schmunzelte: " Nun, stellen Sie mir zehn, und ich werde versuchen, sie ausreichen zu beantworten."
Berger wartete, bis sie wieder im Wagen saßen und sie der fließende Verkehr aufgenommen hatte.
"Da ist zum Beispiel Ihr Freund Kasurintin le Breton und seine Produkte", begann er dann, "Ich habe mich in seiner Hütte genau so umgesehen, wie Sie und fand das Meiste recht gefällig. Die Stilleben beispielsweise, ich habe die Äpfel als Äpfel erkannt und die Weintrauben als Weintrauben. Und aus der gemalten Bejaulaisflasche hätte man trinken mögen. Ich würde das niemals so hinkriegen. Trotzdem haben Sie und er das alles als Schund und Kitsch abgetan. Nur bei <la Tempête> haben Sie beide auf Qualität, also auf Kunst erkannt, und gerade das Motiv empfinde ich als ausgesprochen schwülstig. Wieso ist jetzt das eine Schund und das andere Kunst?"
"Nun" , sagte Berteau vorsichtig, "das eine ist nun mal Massenware, wie Sie sie zu Hunderten in fast identischer Ausführung in jedem Kaufhaus finden können. <la Tempête> aber hat etwas Einmaliges...."
Berger unterbrach ihn heftig: "Was ist so nachteilig an Massenware? Die Gabel, mit der sie vorhin ihr Steak aufgespießt haben, ist auch Massenware, und trotzdem hat sie einen kulturellen Wert. Sie hätten nämlich ohne sie mit den Fingern essen müssen. Und das mit der Einmaligkeit ist auch so eine Sache. La Têmpete existiert mit dem Willen des Malers schon doppelt, und mit den Mitteln moderner Reproduktionstechnik könnte er eine Million nahezu identischer La Têmpetes anfertigen lassen, wenn er wollte. Ich vermute mal, daß in Ihren Augen das Original noch immer Kunst sein dürfte."
Berteau dachte nach. Noch während er sich eine Antwort zurechtlegte, setzte Berger nach. "Ein anderer Gesichtspunkt ist le Bretons frühere Tätigkeit. Wenn er, sagen wir mal, einen Cézanne kopiert und mit le Breton signiert, ist das zwar eine Kopie, aber immerhin Kunst. Wenn er im Stile Cézannes etwas völlig Neues schafft und mit Cézanne signiert, ist es trotz seiner Einmaligkeit eine wertlose Fälschung? Wie geht das zusammen?"
Der Kommissar holte Luft um zu einer Antwort anzusetzen aber Berger war jetzt in Fahrt. "Überhaupt ist das mit der Kunst und dem Können so eine Sache!", schwadronierte er, "Nehmen wir einmal Typen wie Michelangelo oder Canaletto. Das waren bestimmt Könner, denn sie konnten ihre Umwelt detailgetreu wiedergeben und haben das auch getan. Halten wir dem gegenüber Leutchen wie Klee, Marquet oder Matisse, die das sicher auch konnten, weil sie ja Malerei studiert haben. Und die reduzieren ihre Figuren auf das Niveau von bloßen Strichmännchen und bleiben damit weit unter ihren Möglichkeiten. Dennoch ist das Kunst! Mein fünfjähriger Neffe Edouard legt in seine Strichmännchen sein ganzes Können, und trotzdem bleiben es Strichmännchen. Ist das nicht ungerecht.? Und dann geben diese Modernen ihren Werken auch noch Titel, die einem die Schuhe ausziehen. Mit Kupkas "senkrechten Flächen"bin ich ja so gerade noch einverstanden, ist wenigsten nicht gelogen. Klees "fliegende Stadt" erinnert mich verzweifelt an einen Haufen Oregami-Abfälle und Massons "Amphore" an eine Nackte, die bereits zur Hälfte von einer fleischfressenden Pflanze aufgelöst worden ist."
Sie befanden sich jetzt auf der Umgehungsstraße um Pleurmel, und Berger mußte sich wegen der zahlreichen Kreuzungen auf den Verkehr konzentrieren. Berteau sah ein, daß er den Flic zuerst einmal Dampf abblasen lassen mußte. Im Augenblick war er rationalen Argumenten nicht zugänglich. Als sie den Lac au Duc passierten, nahm der Flic seine Anklagerede wieder auf:
"Überhaupt, diese geometrischen Spinner! Bei meinem Vetter Eberhard in Kehl am Rhin hängt im Wohnzimmer eine einsfünfzig mal einsfünfzig große weiße Fläche, in deren linke untere Ecke so ein Künstler ein zehn mal zehn Zentimeter großes rotes Quadrat drapiert hat. Das ganze hat den Titel: "Perspektive des Seins" und Eberhard findet es so großartig, daß er für den Blösinn zwölftausend Deutsche Mark bezahlt hat. Dabei ist Eberhard -und vermutlich auch der "Künstler"- von Nietzsches Philosophie intellektuel so weit entfernt, wie der Mount Everest vom Nordpol.
Weil ich den Namen Canaletto schon mal erwähnt habe, bleiben wir dabei: Ich weiß nicht, ob er es gemacht hat, aber nehmen wir mal an, er hat zu seiner Zeit detailgetreu wabblige, fette und nackte Weiber gemalt. Das mag für seine Mitmenschen Kunst von Wert gewesen sein, weil es dem Zeitgeschmack entsprach. Aber wieso ist das heute noch immer Kunst von Wert, obwohl sich der Geschmack geändert hat und man heute bei den nackten Weibern knackige und schlanke bevorzugt?
Wenn heute der Albert Berger aus Lorient" , setzte er noch einen drauf, "weil er nicht malen kann, nackte Weiber photographiert, seien es fette oder schlanke, ist das Pornographie. Wenn nun ein Photoprofi mit akademischen Diplom dasselbe tut, dabei aber das Objekt mit Lichteffekten bis zur Unkenntlichkeit verfremdet oder aus purer Unfähigkeit eine unscharfe Aufnahme abliefert, ist es wieder Kunst."
Sie passierten eine Coca-Cola Reklametafel am Straßenrand. Berger hieb mit der Faust aufs Lenkrad und der Volvo machte einen Satz zur Seite: " Warum ist das da nur Reklame, wenn es von einer Werbeagentur kommt? Und warum ist es Kunst, wenn es von Andy Warhol stammt?"
Er sah den Kommissar von der Seite her an: " Und jetzt jage ich mit Ihnen hinter ein paar Quadratmeter bekleckster Leinwand her und weiß nicht, ob sich der Aufwand lohnt!"
Berteau lachte: " Ehe ich jetzt Ihretwegen meinen Beruf wechsle, Sie begnadeter Kunstkritiker, sagen Sie mir noch Eines: Gilt Ihre Auffassung auch für Sakrale Bildhauerei? Sie erinnern sich, daß wir uns im Augenblick darum kümmern."
Berger wiegte den Kopf: " Wenn ich an Ihren konfiszierten Petrus denke, bin ich mir da nicht so ganz sicher. Denn immerhin weist der ja einige anatomische Ungereimtheiten auf. Aber ich nehme mal an, daß es sich da bei dem Künstler um einen schnitzenden Bauern gehandelt hat, der sicher sein Bestes gab. Außerdem ist die Sache anders gelagert. Sakrale Skulpturen und Darstellungen sind der Versuch, dem einfachen Volk eine bildhafte Vorstellung einer eher abstraktem Glaubenslehre zu liefern. Anders gesagt, wenn sich der Bauer den lieben Gott nicht als gütigen älteren Herrn mit langem Bart vorstellen kann, kann er auch nichts mit ihm anfangen. Marianne le Breton hier draußen am Ende der Welt kann, da sie persönlich andere Erfahrungen gemacht hat, sich unter der unbefleckten Empfängnis der Marie nichts vorstellen. Da hilft es schon, für die Vorstellung eine Skulptur zu haben, die man dann klammheimlich auch mal fragen kann, wie sie denn das damals angestellt hat. Insofern sehe ich in der sakralen Kunst eher den ideellen, als den materiellen Wert.
Das gilt aber nicht ohne Einschränkung. Mit den modernen Kirchenverschönerern habe ich da auch meine Probleme. Ich habe mal in einer deutschen Kleinstadt in einer Kirche ein Halbrelief gesehen, das laut Prospekt einen Engel des jüngsten Gerichts darstellen sollte. Auf mich machte das Ganze den Eindruck einer gerade detonierenden Mörsergranate. Ich fand das Relief in der ansonsten älteren Kirche so deplaciert, wie ein Hundehaufen auf einer Austernschale"
Berteau zückte seine Brieftasche und angelte daraus einen Hundertfrancschein und eine Fünffrancmünze. Er hielt Berger den Schein unter die Nase: "Ehe wir versuchen, ihr Problem zu lösen, gestatten Sie mir einige Gegenfragen! Was ist das hier ihrer Meinung nach wert?"
Berger sah ihn unsicher an: "Nun, hundert FF eben, das ist ein mittleres Menu mit einer halben Flasche Wein oder zehn Packungen Zigaretten oder zwei Kinokarten. Wollen Sie mich verkohlen?"
"Langsam", Berteau zog den Schein zurück, "welchen Wert stellt nach ihrer Erkenntnis dieses Papierchen in Deutschland dar?"
"Nun, etwa dreißig Deutsche Mark. Aber die Kaufkraft dürfte in etwa dieselbe sein."
"Gut", sagte der Kommissar, "und was denken Sie, welchen Wert stellt es für einen Südseeinsulaner dar, der gewohnt ist, sein Mittagessen mit Kaurimuscheln zu bezahlen, die er eigenhändig vom Meeresboden pflückt?
Berger war dicht auf einen Lastwagen aufgefahren und mußte bremsen. Er schaltete und setzte dann zum Überholen an: "Vermutlich weniger als das Bananenblatt, mit dem er sich gewöhnlich den Hintern wischt." antwortete er.
"Nun gut." Berteau wechselte den 100FF-Schein gegen die Münze aus. " und welchen Wert stellt das hier dar?"
Berger wußte noch immer nicht, worauf der Andere hinauswollte: " Fünf FF, das heißt eine halbe Packung Zigaretten oder ein Drittel einer Telecarte oder das Pfand für einen Einkaufswagen im Supermarkt.."
"Gut", Berteau packte sein Geld wieder ein, " Das Erstaunliche ist, daß der materielle Wert des Scheins keine fünf Sou beträgt, der der Münze immerhin einen halben Franc. Trotzdem ist jeder Wirt bereit, Ihnen für den Schein ein Essen zu servieren, während Sie für die an sich wertvollere Münze gerade mal telephonieren können. Ehe Sie antworten, bedenken Sie folgenden weiteren Fakt. Wieso gibt es Menschen, die für eine Rolex bereit sind, fünfzigtausend Francs hinzulegen, obwohl sie nichts anderes kann, als eine Armbanduhr für fünfzig Francs. Dabei ist die für fünfzig unter Umständen genauer als die für fünfzigtausend. Es gibt da zahllose andere Beispiele, die ich nennen könnte."
Berger machte ein nachdenkliches Gesicht: " Was das Geld betrifft, habe ich noch nie darüber nachgedacht. Das ist eben so. Die Rolex kostet deshalb fünfzigtausend, weil Hersteller und Händler das haben wollen, und weil es genug Verrückte gibt, die das bezahlen."
"Aha", nickte Berteau, "wir kommen der Sache näher! Ein Ding hat seinen Preis, weil einerseits die Einen ihn so festgelegt haben, und andererseits die Anderen ihn akzeptieren. Mit dem Geld ist das so ähnlich. Irgendwer hat es so festgelegt, daß dieses an sich nutzlose Stück Papier den Gegenwert einer Mahlzeit mit einer halben Flasche Wein darstellt. Und alle akzeptieren dies so. Dabei ist der Geldwert nichts Absolutes, denken sie an Schlagworte wie Inflation und Wechselkurse.
Nun, mit der Kunst verhält es sich ähnlich, sowohl, was ihre Einschätzung, als auch ihren Wert betrifft. Irgendwelche Experten und Kritiker, über deren Kompetenz man sicher streiten kann, erheben das Produkt eines Malers oder Bildhauers oder Musikers Kraft ihrer Entscheidung zur Kunst oder lassen es durchfallen. Auch diese Entscheidung ist nicht absolut. Denken Sie an Vincent van Gogh, dessen Kunst zu seiner Zeit ein reiner Flop war und der mangels Anerkennung und Interesse fast verhungerte und in der Klapsmühle landete. Und heute zahlen die Leute Millionen für seine Bilder. Ein kleiner Unterschied zur Rolex existiert doch. Nicht der Hersteller, sprich der Künstler bestimmt den Preis, sondern zuerst der Kritiker und dann der Händler.
Aber das funktioniert auch nur so lange, wie der Konsument bereit ist, den Preis zu zahlen.
Bei Künstlern, die sich selbst vermarkten wollen, ist das so eine Sache. Ali Alamalachen, das ist der Ausstellungsvorgänger von le Sauvage in Mme le Bretons Galerie, hat sich maßlos überschätzt und ist auf seinem Produkt sitzengeblieben. Kasurintin , zumindest der heutige, verkauft sich unter Wert, was für ihn zwangsläufig zur Senkung der Qualität seiner Produkte führt.
Was nun den Wert von Fälschungen betrifft: Wären sie bereit, eine falsche Rolex zu tragen? Vielleicht ja, aber sicher nicht zum Preis von fünfzigtausend Francs. Und das Imitat wäre auch dem Hersteller nicht genehm, nicht aus Preisgründen und nicht wegen der Urheberrechte. Dasselbe müssen Sie schon auch dem Kunstsammler zugestehen. Sicher kann Rembrandt heute keine Urheberrechte einfordern, aber der Käufer hat schon ein Recht darauf, für sein Geld nicht einen auf Rembrandt frisierten le Breton zu bekommen."
Berger nickte, schien aber nicht ganz überzeugt. Berteau beendete die Diskussion jedoch mit brachialer Gewalt: " Der Umstand allerdings, daß wir hinter, wie haben Sie es ausgedrückt, ein paar Quadratmeter bekleckster Leinwand herjagen, beruht auf der Tatsache, daß hier eine Gesetzwidrigkeit vorliegt und wir diese von Berufs wegen verfolgen!"
Berger zog das Genick ein. Glücklicherweise hatten sie Dinan mittlerweile hinter sich gelassen, so daß es nicht weiter auffiel, daß er auf der restlichen Strecke schwieg und an Berteaus letzter Bemerkung kaute.
*****
Joseph und Joel, die Transporteure, registrierten mit gewisser Zufriedenheit, daß ihre "Panne" le Bretons Tagesablauf und sein Gemütsleben ziemlich durcheinandergebracht hatte. Als sie ihren Kastenwagen in der Rue Marechal Foch vor der Galerie parkten, stürzte der Händler wild fluchend aus dem Lokal und gab Anweisungen, die Bilder zu entladen und nach Anweisung von Madame in den Räumen der Galerie zu verteilen.
Auf Josephs unschuldige Frage, was denn nun mit dem Photographen sei, knurrte er, den habe man wieder weggeschickt und der komme nun morgen. Eine Anzahl von Verwünschungen ausstoßend, schwang er sich danach in seinen Wagen und brauste davon.
Madame le Breton, der der Auftritt ihres Gemahls sichtlich peinlich war, versuchte besänftigend auf die Spediteure einzuwirken. So fiel es ihr auch nicht auf, als Joel sie unverfänglich in ein Gespräch verwickelte und dabei auf das Thema Absicherung von bedeutenden Werten in Ausstellung zu sprechen kam.
Marie-Thérèse kannte ihn ja von früherer Zusammenarbeit, und so hatte sie keine Bedenken, ihm zu erzählen, daß die Galerie zwar über eine Alarmanlage mit Meldeleitung verfügte, aber daß diese wegen allzuhäufiger Fehlalarme nur dann in Betrieb genommen würde, wenn Sachen von erheblichen Werten ausgestellt wären. Nein, sie denke, die Ausstellung des Wilden rechtfertige eine Inbetriebnahme der Alarmanlage nicht. So wertvoll sei das hier Angebotene nicht, daß es gerechtfertigt erschien, unter Umständen zweimal die Nacht nach dem Rechten zu sehen, nur weil die Anlage spinne.
Von der Existenz der Videoüberwachungsanlage mit den versteckten Kameras erzählte sie nichts. Dies geschah nicht, weil sie Joel mißtraute, sondern weil dieser einfach nicht danach fragte.
*****
Die Vernehmung von Jaques Laudac erwies sich als unergiebig. Zwar konnte anhand des mitgeführten Katalogs von Inspecteur Forget die Madonnenstatue richtig der Kirche von St.Guenolé zugeordnet werden, aber Laudac bestand darauf, die Statue befände sich schon Monate lang in seinem Besitz. Und er könne sich auch überhaupt nicht erinnern, wer ihm das gute Stück verkauft haben mochte. Nein, die Gebrüder Didier kenne er nicht und er habe die Namen nie gehört.
Was die Sache mit der Taschenuhr betraf, so sah er sich selber als den Gelinkten, und Berteau war sogar geneigt, ihm das abzunehmen. Am Sonntag Nachmittag, so Laudac, -er habe seinen Laden wegen der Touristen auch am Sonntag geöffnet-, habe ihm ein junger Mann die Uhr als altes Familienerbstück angeboten, und weil der Gute mit den gebotenen achthundert Francs zufrieden gewesen war, habe er, Laudac, ein Schnäppchen gewittert und zugegriffen.
Die Durchsuchung von Laudacs Räumen hatte mittlerweile stattgefunden. Dabei war zwar etliches Interessante ans Tageslicht gefördert worden, aber nichts, was in des Kommissars Zuständigkeitsbereich fiel.
Berteau sah ein, daß es für einen Haftbefehl nicht reichte. So ließ er Laudac wieder auf freien Fuß setzen und bat den Leiter der Gendarmerie, Protokolle und Unterlagen zu sammeln und dem zuständigen Untersuchungsrichter zuzuleiten. Wenn sich nicht noch mehr herausstellte, würde Laudac wohl mit einer saftigen Geldstrafe davonkommen.
Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, den Antiquitätenhändler überwachen zu lassen, in der Hoffnung, daß sich dieser mit seinen Lieferanten in Verbindung setzen würde, um sie zu warnen. Er nahm jedoch Abstand davon, da er Laudac für zu schlau und zu vorsichtig einschätzte, als daß er sich da eine Blöße geben würde.
Die Madonna blieb beschlagnahmt. Berger telephonierte mit dem Pfarrer von St. Guenolé und bat ihn, in den nächsten Tagen nach St.Malo zu kommen, um sein Eigentum zu identifizieren. Wegen Laudacs Einlassungen erschien dieses Verfahren geboten. Der Pfarrer zeigte sich einigermaßen enttäuscht, als er erfuhr, die Skulptur müsse als Beweisstück noch einige Zeit in Polizeigewahrsam verbleiben.
Berteau führte noch ein längeres Gespräch mit dem Leiter der Gendarmerie. Er bat darum, man möge ihm ,wenn möglich, einen Arbeitsraum reservieren, da er es nicht für ausgeschlossen hielt, sein Standquartier zeitweise nach St.Malo verlegen zu müssen.
"Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge", sagte er, " haben wir Grund zu der Annahme, daß die Kirchenschänder hier irgendwo im Bereich zwischen St.Malo und Perros-Guirrec ein Versteck oder eine Art Depot unterhalten, wahrscheinlich auf einer der Küste vorgelagerten Inseln." Er vermied, den Grund zu der Annahme zu erläutern, denn er wollte kein Kopfschütteln ernten. Der Andere war taktvoll genug, nicht danach zu fragen.
"Ich gehe davon aus,", fuhr er fort, " daß die Diebe ihre Sore noch jeweils in derselben Nacht in dieses Depot bringen, und es von dort so nach und nach abzusetzen versuchen. Dabei gehe ich davon aus, daß unser Hauptverdächtiger knapp an Barem ist, sonst wäre unsere Marie nicht so schnell wieder aufgetaucht. Didier scheint ansonsten geduldiger zu sein."
Berteau schloß: " Wenn unsere Kircheneinbrecher ihren bisherigen Zwei-Tage- Rhythmus beibehalten, so wäre eigentlich heute Nacht wieder ein Einbruch fällig. Das würde bedeuten, vorausgesetzt unsere Annahmen treffen zu, daß irgendwann heute nacht zwischen Mitternacht und Dämmerung irgendwo hier an der Küste ein alter, mausgrauer Citroen-Kastenwagen auftauchen müßte, von dem Ladung auf ein Schiff oder Boot gebracht wird. Und ich habe Grund zu der Annahme, daß dies nicht irgendwo in einem der zahlreichen Häfen geschieht, sondern irgendwo am Strand, wo man sich unbeobachtet glaubt. Wenn also diejenigen ihrer Leute, die nachts Streife fahren, ein wenig nach diesem Kastenwagen Ausschau halten würden?. Wobei ich darum bitte, vorerst nicht einzugreifen, sondern nur zu beobachten."
Der Leiter der Gendarmerie erwies sich als Mann mit analytischem Verstand: "Nun, wenn Ihre Annahmen zutreffen, dann brauchen wir aber ziemlich Glück. Zum Einen ist der von Ihnen beschriebene Küstenabschnitt ja nicht gerade klein und fällt auch zum größten Teil außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Zum Andern, wenn das mit dem Rhythmus der Gauner stimmt, dann geht das jetzt noch vielleicht vier, fünf Tage so und dann müßte eine Pause von etwa zwei Wochen eintreten."
Berteau sah ihn erstaunt an. " Wieso das denn?"
Der Andere zog eine Karte aus seinem Schreibtisch, faltete sie auf und fuhr mit dem Finger die von Berteau bezeichnete Küstenstrecke entlang. "Nun Monsieur Berteau, was Sie vielleicht nicht wissen, ist die Tatsache, daß wir hier in der Gegend auf Grund besonderer geographischer Verhältnisse einen extremen Gezeitenhub haben. Er beträgt unter normalen Verhältnissen schon zwölf bis vierzehn Meter, bei Springflut noch erheblich mehr. Unser Gezeitenkraftwerk hier in der Rance-Mündung kommt nicht von ungefähr.
Ich will damit sagen, daß das Wasser hier bei Flut besonders schnell steigt und bei Ebbe besonders schnell abläuft. Was nun Ihre vermuteten Umladeaktionen außerhalb einer Hafenanlage betrifft, so müssen Ihre Gauner ein hervorragendes Timing haben, denn es bietet sich pro Gezeitenwechsel nur jeweils etwa ein Zeitraum von einer halben Stunde an.
Sehen Sie, bei Ebbe ist das Meer soweit draußen, daß sogar ein Teil dieser Inseln hier trockenliegen.. Bis zur Wasserlinie wäre es für Fußgänger durchs Watt ein rechter Gewaltmarsch, und legen sie das Boot an den Strand, kommen sie vor der nächsten Flut nicht weg.
Zum Fluthöchststand reicht das Wasser bis an die Klippen heran, und bereits bei Windstärken um zwei herum, haben wir eine kräftige Brandung. Zu dieser Zeit wäre eine Umladeaktion höchst riskant. Dasselbe gilt bei auflaufender Flut, wenn das Boot, na sagen wir hundert oder zweihundert Meter weit draußen auf Sand gesetzt wurde, denn das Wasser kommt hier teilweise schneller, als ein Mensch laufen kann. Nun gut, durch richtiges Timing könnte man das hinkriegen, aber bei auflandigem Wind und der starken Strömung brauchte das Boot schon einen sehr kräftigen Motor, um überhaupt vom Land wegzukommen.
Bleibt also die Phase der einsetzenden Ebbe und des ablaufenden Wassers. Hier bleibt unseren Dunkelmännern jeweils etwa eine halbe Stunde, ein in gebührendem Abstand von den Klippen geankertes Boot zu beladen, gerechnet von dem Zeitpunkt an, an dem man es zu Fuß erreichen kann. Dann dürfte es allerdings schon ziemlich trockengefallen sein, und es bedarf sicher einiger kräftiger Leute, um es wieder ins Wasser zu schieben. Dann nimmt es allerdings das ablaufende Wasser von alleine mit nach draußen, und ein kleiner Außenborder reicht, um einen bestimmten Kurs zu halten."
Er zog einen Gezeitenplan aus der Schublade: " Ich denke mal, der günstigste Zeitpunkt zum Umladen dürfte so etwa eineinhalb bis zwei Stunden nach Fluthöchststand sein. Ich nehme an, daß Didier und Co. es kaum riskieren werden, das Unternehmen am hellichten Tag durchzuführen. Heute Nacht ist Fluthöchststand um ein Uhr zwölf. Zwei Stunden danach ist also drei Uhr zwölf, also noch deutlich, bevor um diese Jahreszeit die Dämmerung einsetzt. Wie Ihnen
sicher bekannt ist, verschieben sich die Gezeiten durch den Einfluß des Mondes von Tag zu Tag um fünfzig Minuten nach hinten. Für vier Tage macht das also drei Stunden und zwanzig Minuten aus, das heißt Fluthöchststand um vier Uhr zweiundfünfzig oder Umladen bis maximal sieben Uhr. Das ist gerade noch zu riskieren, denn um diese Zeit treiben sich nur Verrückte an den Stränden herum. Bis aber die zweite Flutwelle sich so weit in der Zeit hat zurückfallen lassen, daß sie für die Zwecke ihrer Gauner ausnutzbar ist, vergehen etwa zehn Tage"
Berteau mußte anerkennen, daß die Ausführungen des Anderen schlüssig waren, sah aber zunächst nicht, wie ihm die Information weiterhelfen sollte. Nun, wenn dem so war, dann würde er in dieser Zeit von zehn Tagen mehr Gelegenheit haben, sich auf seinen anderen Fall zu konzentrieren.
Er verabschiedete sich, vorerst nur mit dem Versprechen des Gendarmen versehen, man wolle nächtens nach dem Kastenwagen Ausschau halten.
*****
Sie erreichten Lorient auf der Rückfahrt gegen zwanzig Uhr. Das Wetter hatte umgeschlagen, und ein heftiger, böiger Wind trieb von See her drohend aufgetürmte Wolkenpakete heran, die sich dann und wann in kräftigen Schauern entluden. Es hatte deutlich abgekühlt, und Berteau fröstelte, mochte sich aber nicht die Blöße geben, Berger zu bitten, die Heizung des Wagens einzuschalten.
Berger gab sich verschnupft und eingeschnappt. Der Kommissar sah ein, daß die Art und Weise, wie er auf der Hinfahrt die Diskussion um Wert oder Unwert der Kunst abgewürgt hatte, nicht fair gewesen war, und er beschloß, ein Friedensangebot zu machen. So lud er den Korporal zum Essen ein, bestand aber darauf, dies im Restaurant des Hotel Mercure am Place Jules Ferry einzunehmen, von dem er wußte, daß es über eine vorzügliche Fischkarte verfügte.
Berger ahnte zwar, daß dieses Friedensangebot letztlich auf Kosten des Spesenkontos des Kommissars gehen würde und so nur eine unvollständige Buße darstellte. Aber sein knurrender Magen überzeugte ihn, nach kurzem, demonstrativen Widerstand, seine Igelstellung aufzugeben.
Berteau wählte als Vorspeise Schnecken in Knoblauchbutter, danach ein Dutzend Austern und als Hauptgericht ein riesiges Haifischsteak. Käse und ein Mokka rundete für ihn die kleine Abendmahlzeit ab. Berger hielt, Berteau zu Gefallen, bei Schnecken und Austern noch mit, bevorzugte dann allerdings ein Entrecôte und als Nachspeise ein Crêpe Suzette. Sie tranken einen leichten 94 er Chablis. Das bei der Fülle der Mahlzeit unvermeidlich mehrmals zu erzeugende trou normand wurde mit etlichen Lagen Calvados hergestellt. Berger hätte an Stelle des Chablis eigentlich lieber ein Bier genossen, aber die drohend zusammengezogenen Brauen seines Vorgesetzten ermahnten ihn, davon Abstand zu nehmen.
Mit fortschreitender Dauer der Mahlzeit stieg die Stimmung, und noch während der Austern nahmen sie die abgewürgte kunstsinnige Diskussion wieder auf. Berger, der instinktiv fühlte, daß der Experte seine pädagogischen Mühen hatte, ihm, dem selbsternannten Banausen Kunst schlüssig plausibel zu machen, streute Salz in dessen Wunde. Es machte ihm diebische Freude, den Vorgesetzten zu provozieren, und der schien diese Absicht lange nicht zu bemerken.
"Sehen Sie", legte Berger nach, und sein Grinsen zeigte sadistische Züge, " wenn mein alter Vater hinter seiner Kneipe zwanzig Sonnenschirme aufstellt, wird daraus allenfalls das, was die Deutschen einen Biergarten nennen. Wenn ein Herr Christo dasselbe mit zweihundert Sonnenschirmen in Florida macht, soll das ganze Kunst sein? Das da", er zeigte auf die Platte mit den leeren Austernschalen, "ist bestenfalls dekorativer Abfall. Wenn Beus in einem frisch getünchten Raum eines Museums ein Kilo Butter in die Ecke schmiert und diese Sauerei nach zwei Jahren von einer Putzfrau irrtümlicheweise entfernt wird, gewinnt er sogar noch einen Prozeß wegen der Zerstörung eines unwiederbringlichen Kunstwerks."
Der Kommissar bemühte sich redlich, die absichtliche Schwarz-Weiß-Malerei seines Assistenten zu relativieren. Der reichlich genossene Calvados tat früher, als erwartet, seine Wirkung und Berteau brauchte lange, bis der berechtigte Verdacht in ihm aufkeimte, sein Gegenüber nehme ihn insgeheim auf den Arm. Doch da war es schon zu spät. Unkontrollierbarer missionarischer Eifer war in ihm erwacht. Es konnte nicht angehen, daß diesem Grünschnabel kein Kunstverstand beizubringen sein sollte. Deshalb hob er die Versammlung nach dem Essen auch nicht auf, sondern nötigte seinen Adlatus, sich mit ihm an die Bar zu begeben, wo das Gespräch mit einem schönen, alten Cognac leichter fortzusetzen war.
Die Diskussion wogte hin und her. Berteau versuchte es mal dozierend, mal jovial väterlich, gelegentlich mit oberlehrerhaft erhobenem Zeigefinger, jedoch immer streng fachmännisch. Berger gab sich bewußt uneinsichtig und emotional. Sein andauernder Widerspruch brachte den Kommissar in Rage und er redete mit Engelszungen auf den Jüngeren ein.
Der Barmann, von Berufs wegen merkwürdige Gestalten an seinem Tresen gewohnt, und auch daran, in die seltsamsten Gespräche von seinen Gästen eingebunden zu werden, hörte sich die Diskussion einige Zeit mit an. Doch schon nach Kurzem machte sich in seinem Gesicht Verständnislosigkeit breit. Er stellte der Einfachheit halber die Cognacflasche zwischen die beiden Kontrahenten auf den Tresen und zog sich in seinen Schmollwinkel zurück. Vielsagend tippte er sich mit dem Finger an die Stirn und knurrte: " Die spinnen, die Bullen, die spinnen."
Dennoch hatten die beiden Kunstsachverständigen interessiertes Publikum. Ein einzelner, später Barhocker, ein kleiner, dicklicher Herr im korrekten, mausgrauen Zweireiher mit Weste, Stirnglatze, hängenden Wangen und Spitzbart, hörte ihnen aufmerksam zu. Berteau war der Kleine schon während des Essens aufgefallen, da er ihnen da vom Nebentisch aus unverhohlenes Interesse gezollt hatte.
Irgendwann stellte sich der kleine unaufgefordert als Hercule Monpas vor und mischte sich in ihre Diskussion ein. In nüchternem Zustand mochte Berteau solche Verhaltensweisen gar nicht, aber jetzt, da sein Alkoholpegel dicht am Erreichen der Eichmarke lag, duldete er es unwidersprochen. Monpas wechselte nun selektiv die Fronten zwischen den Kontrahenten, bestätigte mal Berteaus Ausführungen mit den Bemerkungen eines Kenners, leistete aber andererseits Berger immer wieder Schützenhilfe, wenn dessen Argumentationskette ins Stocken zu geraten schien.
Es war schon einige Zeit nach Mitternacht, als Monpas seine Rechnung beglich und vom Hocker rutschte, um sich zu verabschieden. Er tat das mit der vieldeutigen Bemerkung, man würde bestimmt wieder voneinander hören.
Die Cognacflasche war leer, und der Barkeeper machte seine letzten beiden Gäste unverblümt darauf aufmerksam, daß er die Bar jetzt zu schließen beabsichtigte. Widerstrebend bezahlte auch Berteau, und die beiden Polizisten sahen sich sanft auf die Straße gedrängt. Ein letzter Rest von Vernunft sagte Ihnen, daß es wohl besser war, den Wagen jetzt stehen zu lassen.
Der reichlich genossene Alkohol und die frische Luft taten das ihrige und bewirkten, daß nun die beiden Polizisten, sich wechselweise stützend, den Quai des Indes hinabwankten, wobei sie lauthals die Marseillaise intonierten.
So wurden sie wenige Schritte von der Pforte des Hotel Atlantique von einer Streifenwagenbesatzung der Gendarmerie angehalten und zur Ruhe gemahnt. Berger wurde von den Flics als einer der ihren erkannt, und dieser klärte sie über die Identität seines nächtlichen Sangesbruders auf. So übernahm es die Streife, zunächst einmal Berteau ins Atlantique hineinzubugsieren, wobei ihnen der Nachtportier des Hotels behilflich war.
Dieser, besorgt um den Ruf seines Hauses und die Nachtruhe seiner übrigen Gäste, verkniff sich dabei nicht ein paar unfreundliche Bemerkungen über den Zustand des Schwergewichtes. Berteau registrierte diese zwar, fühlte sich im Augenblick aber zu einer tiefgreifenden Diskussion nicht mehr in der Lage. In seinem Zimmer angekommen sank er, wie er war, in Hut, Mantel und Schuhen aufs Bett und fiel augenblicklich in bleiernen Schlaf.
Anschließend lieferten die Streifenbeamten Berger zuhause ab. Berger besaß noch genug lichte Momente, daß er den Kollegen die Schlüssel für den Volvo in die Hand drückte und sie bat, den Wagen vor dem Hotel Mercure abzuholen und ihn zum Commissariat Central zu bringen, was diese dann auch erledigten.
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