Montag, 29. April

Als der Kommissar an diesem Morgen sein Bureau betrat, stellte er zunächst fest, daß Berger zwar auf der Dienststelle anwesend sein mußte, denn die Kaffeemaschine war schon in Gang gesetzt, aber in Berteaus Räumen war er nicht. So rief er zunächst einmal den Präfekten an - der war erstaunlicherweise schon erreichbar- und verlangte die Installation eines eigenen Fax-Telephons in seinem Zimmer. Der Präfekt sagte dies nach halbherzigem Protest auch zu.

 

Berger erschien zehn Minuten später und teilte dem Kommissar mit, was dieser schon wußte, das mit den ausstehenden Informationen aus Rennes und dem dortigen Computerabsturz.

Weiter wußte er zu berichten, daß in der vergangenen Nacht ein weiterer Kirchenaufbruch stattgefunden hatte, diesmal in Lanhouarneau, etwa dreißig Kilometer nordwestlich von Brest. Abgesehen von dem Schaden am Portal der Kirche war diesmal kein Verlust von Wertgegenständen zu beklagen, denn die Täter waren durch einige Nachtschwärmer gestört worden. Inspecteur Forget war noch in der Nacht am Tatort gewesen und hatte die Spuren gesichert und die Zeugen vernommen. Wieder waren es vier Mann gewesen und wieder war der besagte Citroen-Lieferwagen im Spiel gewesen. Ein Kennzeichen konnte allerdings niemand erkennen, da die Ganoven es vorzogen, ohne Beleuchtung zu flüchten.

Die nächste halbe Stunde weihte Berteau Berger in seine Erkenntnisse vom Wochenende ein. Aus dem Archiv des Commissariats waren noch Akten über die Gebrüder Didier aufzutreiben, und sie verglichen die dort vorhandenen Photos mit dem Phantombild und kamen zu dem Ergebnis, daß es sich bei der vom Pfarrer von Ste .Anne-la-Palud tatsächlich um Charles Didier handeln mochte. Anerkennend mußte Berteau sowohl dem Pfarrer, als auch dem Maître ein gutes Auge bescheinigen.

Sie ließen Didier zur Fahndung ausschreiben. Zu ihrem Erstaunen erschien gegen zehn Uhr ein Techniker, der murrend das alte Telephon auf Berteaus Schreibtisch gegen ein modernes Fax-Telephon-Kombi-Gerät austauschte. Die Zeit bis Mittag benutzten die beiden Beamten damit, die Betriebsanleitung zu lesen, und das neue Gerät auszuprobieren.

Dabei gingen sie hemmungslos ihrem angeborenen Spieltrieb nach. Berteau entwarf Karikaturen von Pompidou, dem Präfekten und Hauptkommissar Lacroix mit überdimensonalen Ohren und faxte diese nach Paris, Rennes und Brest mit der Bitte, Nachrichten für Ihn nur noch an die angegebene neue Fax-Nummer durchzugeben.

Obwohl ihm sein Instinkt sagte, daß es zu keinem verwertbaren Ergebnis führen würde, wies er Inspecteur Forget auf dem gleichen Weg an, alle größeren und kleineren Häfen im Umkreis von einer Autostunde um Brest abzuklappern und nach ungewöhnlichen nächtlichen Schiffsbewegungen zu fragen. Berger bemitleidete Forget und seine Crew, er wußte, daß diese mit diesem Auftrag tagelang zu tun haben würden.

Fast hätte Berteau den Heiligen in seinem Schreibtisch vergessen. Er holte ihn hervor und zeigte ihn Berger, zunächst ohne Erklärungen dazu abzugeben.

Berger stieß einen Pfiff aus: " Sieh da, einer der Apostel von Ste. Anne-la-Palud. Wenn ich das Symbol da richtig deute", er zeigte auf den Schlüssel, " dann handelt es sich hier um Petrus, den Bewahrer der Himmelspforte. Er kommt sich jetzt sicher ohne seine fünf Kumpel ziemlich einsam vor!"

Der Flic warf dem Kommissar einen prüfenden Blick zu: " Wie kommen Sie denn an diese Figur, Monsieur le Commissaire? Sie werden doch nicht selbst nächtens die Kirchen ausräumen. Oder haben Sie mir bereits einen Fahndungserfolg verschwiegen?"

Berteau ging zunächst nicht darauf ein: "Sie kennen die Figur?" fragte er seinerseits, "Erzählen Sie!"

Berger strahlte: "Oui, Monsieur, auch wenn man als Elsässer hierzulande in erster Linie als Banause gilt, so tut man doch gelegentlich etwas für die Kultur. Und wenn man Zeit hat, besichtigt man eben auch Menhire, Dolmen und,- auch wenn man nicht dieselbe Einstellung wie die Einheimischen dazu hat, auch Kirchen und Kapellen.

Der Kamerad hier ist mir aus zwei Gründen im Gedächtnis geblieben", er hob die Figur hoch und besah sie von allen Seiten. "Da ist zuerst einmal diese verdrehte Hand da, die so nur ein ganz besonderer Anatom anbringen konnte. Das zweite, was mir auffiel ist Folgendes: Bekanntlich bestand die Apostel-Stamm-Mannschaft aus zwölf Personen. Der da hat aber in Ste. Anne-la- Palud nur fünf Kumpel, und keiner weiß so genau warum. Entweder hat der Künstler nach dem Sechsten das Schnitzmesser abgegeben oder der Auftraggeber konnte nicht mehr bezahlen oder die übrigen Figuren sind schon vor langer Zeit verschwunden. Seit die Kirche ihre jetzige Innenausstattung aufweist, stehen dort bekannterweise nur ein halbes Dutzend Apostel herum. Ich nehme an, St. Peter ist bedeutend älter als sein barocker Rahmen, in dem er normalerweise steht." Er stellte die Figur vorsichtig wieder ab.

Berteau klärte Berger nun seinerseits darüber auf, daß er sich den Heiligen als, wie er sagte, "ermittlungstaktische Leihgabe" angeeignet habe. Er meinte, die Figur könne unter Umständen hier mehr nützen, als wenn man sie vorerst auf ihrem angestammten Platz der Gefahr aussetzte, auch noch geklaut zu werden, um das Set zu komplettieren.

Berger organisierte irgendwoher eine Polaroidkamera, und sie photographierten die Statue von allen Seiten. Berteau steckte die Bilder ein. Sein Instinkt sagte ihm, sie würden ihm noch irgendwie weiterhelfen. Die Statue selbst ließ er in der Asservatenkammer unter Verschluß nehmen.

Gegen dreizehn Uhr aßen sie eine Kleinigkeit in der Kantine des Kommissariats. Während des Essens besprachen sie das weitere Vorgehen für den Rest des Tages. Berteau sah keine Veranlassung, wegen des mißglückten Kircheneinbruchs der vergangenen Nacht selbst nach Lanhouarneau oder gar nach Brest zu fahren. Die Routineermittlungen vor Ort sah er bei Forget in guten Händen.

Er wollte unbedingt le Sauvage in seinem Domizil seine Aufwartung machen. Er hatte zwar noch nicht die geringste Ahnung, wie er das Puzzleteil Kasurintin in das Bild seiner jetzigen Fälle einpassen sollte, aber es stand für ihn außer Frage, daß es die passende Lücke dafür gab und daß ohne diesen das Gesamtwerk unvollständig bleiben mußte. Er weihte Berger in die Vorgeschichte des Wilden ein, soweit er das für erforderlich hielt, und der Flic ahnte, daß er zumindest eine interessante Persönlichkeit kennen lernen würde.

So bestiegen sie gegen vierzehn Uhr den Wagen, um nach Guidel-Plage hinauszufahren. Sie parkten den Wagen auf dem Parkplatz vor der Hotelanlage, und Berteau beschloß, le Sauvage könne nicht seine gesamte Zeit am Strand verbringen. Deshalb machten sie sich zu dessen Hütte auf den Weg.

*****

Le Sauvage saß in der Sonne auf dem Stein vor seiner Hütte und machte Siesta. Bedauernd dachte er daran, daß die Beschaulichkeit der letzten vier Jahre ein jähes Ende zu nehmen drohte.

Die Ausstellung und der damit verbundene Ungemach, ja selbst das nicht erwartete Zusammentreffen mit seiner früheren Geliebten und deren forderndem Ehemann, alles hätte er noch hingenommen, man mußte ja schließlich leben.

 

 

Aber Marie-Thérèses Warnung, Berteau habe seine Fährte aufgenommen, und dessen überraschendes Auftauchen am Vortag, hatten in Kasurintin zuerst einen Fluchtinstinkt ausgelöst, wie bei einem afrikanischen Erdhörnchen. Den Rest des gestrigen Tages hatte er damit zu tun gehabt, die Regung zu unterdrücken, sang und klanglos aus der Gegend zu verschwinden.

Dann sagte er sich, wenn Berteau schon von sich aus zugab, derzeit läge nichts gegen ihn vor, -und, warum sollte der Kommissar da die Unwahrheit sagen-, dann schien es angeraten, zunächst einmal abzuwarten. Bei seinen derzeitigen verborgenen Aktivitäten war ihm selbst nicht ganz wohl, und der Kommissar, sollte er denn darauf stoßen, konnte zumindest Licht in einige Unklarheiten bringen. Letztlich, so dachte le Sauvage, seine einflußreichen Auftraggeber würden sich schon vor ihn stellen, wollte Berteau ihm etwas am Zeug flicken. Zumindest hoffte er es.

Die Dogge bemerkte die beiden Besucher, die den Weg heraufgeschlendert kamen zuerst, und lief stummelschwanzwedelnd auf sie zu. Le Breton blinzelte gegen die Sonne. Der Dicke, der ältere von den beiden, war unzweifelhaft der Kommissar, dessen Besuch er schon erwartet hatte. Den jüngeren kannte er nicht, aber der schien ein Händchen für Hunde zu haben, denn er spielte sofort mit der Dogge, während sich der Dicke eher vorsichtig zurückhielt.

Der Maler blieb bewegungslos sitzen, bis das Trio herangekommen war, tat so, als ob er die Besucher gar nicht bemerkt hätte. Der Kommissar trat so dicht an ihn heran, daß sein Schatten auf das Gesicht des Malers fiel.

"Kasurintin le Breton alias Hans Meier alias Francois le Brun alias Michel le Comte alias Emanuel de Brise, geboren 1948 in Guehenno/Bretagne, Sie sind...",donnerte er auf den Sitzenden herab.

Der öffnete die Augen und unterbrach ihn: "Was denn? Schon wieder einmal verhaftet? Und wenn ja, mit welcher Begründung?" . Wenn er die Absicht gehabt hatte, versuchsweise sein Inkognito zu wahren, so hatte ihn die direkte Ansprache des Kommissars aus dem Gleichgewicht gebracht.

"Sie sind ein Scheusal", fuhr Berteau fort. " Zuerst lassen Sie mich jahrelang im Unklaren darüber, was aus meinem Jagdwild geworden ist. Dann finde ich Sie wieder, und Sie laufen mir am Strand weg und jetzt tun Sie so, als wären wir seit Wochen zum Schachspielen verabredet. Und zu allem Überfluß teilt mir meine vorgesetzte Dienststelle mit, daß Sie derzeit nicht im Fahndungsregister stehen. Oder ist das womöglich ein Irrtum, und Sie sind wieder einmal die Ursache all meiner schlaflosen Nächte?"

Der Wilde holte aus, als wollte er einen Stein wegwerfen, hielt dann aber inne. Schließlich befand er sich hier nicht am Strand. "Was das Letztere betrifft, mon Commissaire, so müssen Sie das schon selbst herausfinden. Oder haben Sie schon jemals erlebt, daß der Fuchs die Fangeisen selbst aufstellt? Was das andere betrifft, so habe ich keine Tränen darüber vergossen, daß Sie mich zeitweise aus den Augen verloren haben. Und, mit Verlaub, mir wäre auch jetzt lieber, wenn Sie vierhundert Kilometer weit weg in Paris den Louvre oder meinetwegen das Centre Pompidou bewachen würden."

Berger, dem die Art nicht gefiel, in der der Maler mit dem Kommissar sprach, wollte sich einmischen, aber Berteau brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. "Nun", sagte er, " genug der ausgetauschten Höflichkeiten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Monsieur le Breton, würde ich mich gerne ein wenig ernsthaft mit Ihnen unterhalten."

Der Maler breitete die Arme aus. "Oui, Monsieur le Commissaire. Unterhalten wir uns. Ich kann Ihnen als Sitzgelegenheit nichts anbieten, als diesen Felsbrocken zu meiner linken oder meinen einzigen Stuhl dort aus der Hütte. Ich rate Ihnen, nehmen sie den Stein, er ist bequemer. Wenn der junge Heißsporn da, den Sie mir übrigens noch nicht vorgestellt haben, sich den Stuhl holt, kann er aus dem Regal über der Kochstelle gleich eine Flasche Calvados und drei Gläser mitbringen. Ich denke, ich habe grade noch drei"

Der Kommissar holte die versäumte Vorstellung nach und nahm dann wie angeboten auf dem Stein Platz. Berger zögerte, bis ihn der Maler erneut aufforderte. "Nur zu, junger Mann, die Hexe, die normalerweise die Hütte dort bewohnt, ist vor zwei Stunden auf ihrem Besen ausgeritten und kommt sicher nicht vor Mitternacht wieder"

Der Flic fühlte sich verkohlt und zog grollend ab. Berteau sah den Maler prüfend an. Dann schüttelte er den Kopf: "Was haben Sie bloß mit ihrem Gesicht gemacht?"

"Sie kennen ja sicher die Geschichte mit meinem Unfall in den Pyrenäen", Kasurintin fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht, "meine alte Visage war danach nicht mehr zu gebrauchen. Aber ich bin dann an einen exzellenten Knochenflicker geraten, der mich wieder restauriert hat. Nachdem er von meiner alten Fassade keinen Plan hatte, hat er einfach Jean Paul Belmondo als Vorlage genommen. Den Bart trage ich nur, daß mir jetzt nicht dauernd die Weiber hinterherlaufen. Spitze, was?" er faßte sich an die Nase, "Etliches aus Plastik und die Knochen teilweise vom anderen Ende!"

Er sah den Kommissar abschätzend an. " Der Docteur ist ein plastischer Spitzenkönner. Wenn Sie sich also mal liften lassen oder die Speckfalten entfernt haben wollen, ich gebe Ihnen gern die Adresse."

Berteau zuckte empfindlich getroffen zusammen. Nachdem aber in diesem Moment Berger mit Stuhl, Calvados und Gläsern auftauchte, unterließ er es, zurückzuschießen. Berger schenkte ein und verteilte die Gläser. Das Gebräu erwies sich als hochprotzentiges, scharfes Gesöff, das bei beiden Polizisten einen Hustenanfall hervorrief.

"Erstklassig, nicht wahr", grinste der Maler, "noch von meinem alten Herrn in Guehenno gebrannt, als er da noch was zu brennen hatte. Nur schade, daß der Stoff so langsam aber sicher zur Neige geht!"

"Mon dieu," keuchte der Kommissar, " wollen sie uns eigentlich vergiften?"

Der Maler winkte ab: "Keine Gefahr, was sollte ich hier draußen auch mit den Leichen anfangen?"

Berger, der wieder Luft bekam, zeigte auf den Hund, der etwas abseits im Gras lag und die Gruppe aufmerksam beobachtete: "Als ob es hier ein Problem gäbe, eine Leiche verschwinden zu lassen!"

Le Sauvage sah ihn abschätzend an. " Bei Ihnen mag das ja noch angehen, aber", er zeigte auf Berteau, "so was fettes frißt mein Hund nicht."

Er wandte sich wieder jenem zu:" Excusez- moi, Monsieur le Commissaire, wir wollten ja die Höflichkeiten lassen. Was führt Sie in unsere schöne Gegend.?"

 

Berteau beugte sich vor: "Kommen Sie, erzählen Sie mir nicht, daß ein Mann wie Sie es nicht mitbekommt, wenn in seiner unmittelbaren Umgebung im Laufe eines Jahres neun wertvolle Gemälde sang- und klanglos verschwinden. Und sicher lesen Sie auch gelegentlich mit einer gewissen Häme das, was der Kulturredakteur der Ouest France über mich schreibt. Die Frage ist also nicht, was führt mich in die Gegend, sondern was führt mich ausgerechnet zu Ihnen?"

"Ja, nicht wahr?", der Maler gab sich süffisant, "Wo wir doch bisher immer das Problem hatten, daß bei unseren Zusammentreffen ein paar Gauguins oder Renoirs oder so zuviel im Spiel waren."

"Lassen wir das," Berteau machte eine wegwerfende Handbewegung, " Ich frage Sie als Fachmann und als Kenner der Gegend, was Sie von der Geschichte halten?"

"Commissaire, wenn ich jetzt Kaffeesatz hätte, würde ich versuchen, daraus zu lesen.", orakelte le Sauvage. "Ob Sie es glauben oder nicht, die Geschichte liegt auch mir im Magen. Aber vermutlich aus anderen Gründen, als Sie denken. Was wäre, wenn hier jemand versuchte, einem anderen ein X für ein U vorzumachen und ihre alten Meister gar nicht wirklich verschwunden wären? Ich kann Ihnen meine Vermutung nicht begründen, aber in der Bretagne geschehen viel mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es eine Polizistenweisheit normalerweise vermuten läßt. Nein, nein", er wehrte ab, als er sah , daß der Kommissar nachhaken wollte, "drängen Sie mich nicht. Ich werde den Teufel tun und mich mit Leuten anlegen, die ich nicht kenne und von denen ich nicht weiß, wozu sie fähig sind. Aber fragen Sie doch mal den Marquis de Fresnes, warum er einige seiner Freunde daran gehindert hat, ihre jetzt mittlerweile verschwundenen Gemälde an den Bretonischen Kulturverein zu verkaufen."

Berteau sah ein, daß der Maler nicht mehr sagen wollte und auch nicht würde. Immerhin hatte er zwei versteckte Hinweise in seine Worte gepackt, denen er , der Kommissar, nachgehen mußte. Und offensichtlich, wenn er denn in der Geschichte steckte, sah er jeden weiteren Hinweis als gefährlich an. "Nun gut, ich habe gehört, Sie wollen demnächst ausstellen. Haben Sie etwas gegen eine Vorab-Besichtigung einzuwenden? Ich weiß nicht, ob ich noch in der Gegend sein werde, wenn die Ausstellung eröffnet wird."

Der Maler erhob sich: " Aber ganz und gar nicht! Kommen Sie nur herein in meinen Palast. Aber ich warne Sie, wenn Sie denken , hier einen verschwundenen Renoir oder einen überzähligen Dürer zu finden, werden sie enttäuscht werden. Alles durchweg schlichte und einfache le Bretons."

Sie betraten die Hütte und Berteau sah sich etwa zwanzig Minuten schweigend um. Berger interessierte sich nur für Original und Duplikat des großen Gemäldes mit den Männern und dem Boot an der stürmischen Küste. Berteau schloß seine Besichtigung mit der Bemerkung: "Na ja, Kasurintin, Sie haben schon bessere Sachen abgeliefert. Mit Ausnahme vielleicht von dem da.", er zeigte auf die Bilder, in die Berger so versunken war.

"Ja doch, ich weiß", der Maler war verärgert, "alles Schund und Kitsch. Im Grunde ist das Zeug ja auch nicht für eine Ausstellung gemacht, sondern für eine Kaufhauskette. Eben mit Ausnahme von dem Schinken da, dem ich den Namen "La Têmpete" gegeben habe, weil ich es leid bin, immer von dem Schinken mit dem Boot und dem Sturm zu reden. Es ist in zweifacher Hinsicht eine Auftragsarbeit. Das fertige Bild muß ich demnächst abliefern und das Duplikat will Madame als Blickfang für die Ausstellung. Im Auftrag muß man schon etwas sorgfältiger arbeiten, meinen Sie nicht?."

 

Berger löste sich aus seiner Betrachtung und wandte sich an le Breton. " Dieser Schin.... pardon, ‘<la Tempête>’ drängt mir eine Vorstellung auf. Wäre es eine Photographie, würde ich sie jetzt fragen, wo die Aufnahme denn gemacht worden ist. So muß ich wohl fragen, ob es das Bild einer real existierenden Landschaft ist, und wenn ja, wo die sich befindet!"

Der Maler sah den Kommissar fragend an. Als dieser nickte, bequemte er sich zu einer Antwort: "Zur Frage eins, ja die Gegend existiert wirklich, auch wenn ich sie aus dem Gedächtnis gemalt habe, eigentlich mehr wegen dieser merkwürdigen Szene da. Zu zwei, keine Ahnung. Als Maler habe ich zwar ein fast fotografisches Gedächtnis, aber kein geographisches. Ohne Zuhilfenahme einer Karte kann ich Ihnen nicht einmal sagen , ob Lyon oder Orleans nördlicher liegt. Ich vermute mal, daß ich das Ganze hier irgendwo an der Nordküste so gesehen habe. Warum fragen Sie"

Der Flic überlegte: " Gut, nehme ich Ihnen das mit der geographischen Orientierungslosigkeit einmal ab. Wie sieht es denn mit dem temporären Gedächtnis aus. Was würden Sie sagen, wann haben Sie diese Szene beobachtet?"

Berteau wußte nicht, worauf sein Assistent hinauswollte. Er wollte zwischenfragen, aber diesmal war er es, der mit einer Handbewegung abgewürgt wurde.

Le Breton wiegte nachdenklich den Kopf: " Es war auf jeden Falls bereits nach meinem Unfall, so vor drei, vier Jahren. Damals beschloß ich, zu meinen Wurzeln zurückzukehren und habe mich auf meiner Suche nach einer Bleibe eine Zeit lang in der ganzen Bretagne herumgetrieben."

Berger tippte auf die Madonna im Boot. "Das würde passen. Nun, man erkennt nicht alle Einzelheiten. Aber, das muß man überprüfen, ich würde sagen: Geklaut aus der Kirche von Riec-sur-Belon."

Der Kommissar mischte sich jetzt doch ein: "Berger, ich denke, das müssen Sie erklären!"

Der lehnte sich mit überkreuzten Armen gegen den Türstock, <la Tempête> fest im Blick. "Commissaire, ich habe Ihnen doch heute schon von meinem privaten Kulturprogramm erzählt. So weiß ich doch, zumindest aus der Literatur, daß es zwar in der Bretagne Madonnenstatuen zu Hauf gibt, aber nur ganz wenige rein vergoldete. Bei den meisten Figuren sind die Gewänder blau und rot eingefärbt.

Bis 1991 stand in der Kirche von Riec-sur-Belon eine völlig vergoldete Madonna. Ich brauche dazu nicht die Akten aus Rennes, das weiß ich aus einem Bildband über die Gegend. Und ich weiß auch, daß die Figur im Sommer 1991 geklaut worden ist, weil sie nicht mehr da war, als ich sie mir im Original betrachten wollte.

Wäre unser Maler hier ein Photograph, würde ich behaupten, wir haben hier einen zufälligen Schnappschuß eines Verbrechens oder wenigsten eines Teils seines Ablaufs. Für mich ist die Madonna die Beute, und die Männer wollen sie in Sicherheit bringen, vermutlich auf der Insel da hinten. Und sie haben es wegen des aufziehenden Sturmes verdammt eilig. Kein vernünftiger Mensch würde unter solchen Umständen ohne zwingenden Grund ein Boot ins Wasser schieben, schon gar nicht, wenn er unsere Küsten hier kennt."

 

 

 

Kommissar und Maler waren verblüfft. Eine derartige Bildbesprechung hatten sie nicht erwartet. Doch sie mußten beide zugeben, daß Bergers An- und Einsichten nicht so einfach von der Hand zu weisen waren. Berger verstieg sich sogar in einer weiteren Spekulation:

" Ich behaupte jetzt einfach mal, wenn es uns gelingt, diese Insel zu finden, dann haben wir auch das Depot der Bande. Und, Commissaire, Sie haben berichtet, daß nach ihrem Kenntnisstand nur ein Teil der alten Didierschen Beute aufgetaucht ist. Nachdem Didier mangels Bewegungsfreiheit in den letzten Jahren kaum etwas verkaufen konnte, nehme ich mal an, man findet dort den Rest von damals plus das gesammelte Diebesgut der vergangenen zwei Wochen."

Er fragte noch einmal den Maler: "und Sie haben wirklich keine Ahnung, wo sich das da abgespielt hat?"

Der zuckte mit den Schultern: "Wirklich nicht. Ich bin selbst zu sehr katholisch, als daß ich es gut finden könnte, wenn man den Leuten hier die Gegenstände ihrer religiösen Empfindungen wegnimmt. Glauben Sie mir, ich würde Ihnen den Hinweis geben, wenn ich auch nur eine Ahnung hätte." Und sarkastisch fügte er hinzu: "Wenn Sie ein guter Schwimmer sind, dann brauchen Sie nur etwas sechshundert Kilometer Küste abzuschwimmen, Sie finden die Stelle dann zwangsläufig."

Sie diskutierten die Situation noch eine halbe Stunde lang, ohne jedoch zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen.. Berger ließ sich jedoch auch nicht von seiner Idee abbringen, so daß die Angelegenheit vorerst vertagt werden mußte.

*****

Etwa zur selben Zeit fand ein etwa zehnjähriger Junge im Park von St. Malo unter einem Busch eine lederne Brieftasche und einen Schlüsselbund. Abgesehen von einem Personalausweis eines Monsieur Browning und etlichen Visitenkarten enthielt die Brieftasche nichts, was den Jungen hätte interessieren können. So lieferte er beides, Brieftasche und Schlüsselbund in der Hoffnung auf ein paar Francs Belohnung der Gendarmerie in St.Malo ab.

Der diensthabende Sergeant fertigte dem Jungen eine Quittung aus und rief dann die auf den Visitenkarte aufgedruckte Nummer in St. Brieuc an, um Ebenezer Browning vom Auffinden seines Eigentums zu verständigen. Man vereinbarte, daß Browning am Folgetag nach St.Malo kommen sollte, um auch den Schlüsselbund als sein Eigentum zu identifizieren.

Browning fragte auch nach seiner gestohlenen Uhr, aber hier mußte der Sergeant bedauern.

*****

Die beiden Polizeibeamten fuhren nach Ploemeur, als sie den Maler verlassen hatten, um dort die alte Madame Didier nach dem Verbleib ihrer Sprößlinge zu befragen. Der Besuch im Altersheim erwies sich jedoch als ausgesprochen unerfreulich, da die Greisin so verwirrt war, daß sie Berger ständig mit ihrem Sohn Albert verwechselte, nachdem dieser ihr leichtsinnigerweise gesagt hatte, er heiße mit Vornamen auch Albert. Sie versuchte Berger mit den Worten:

"Albert ist ein guter Junge, besucht mich immer!" mehrfach in den Arm zu nehmen und reagierte auf Fragen nach ihrem anderen Sohn Charles ausgesprochen hysterisch.

Berteau befragte die Heimleiterin, eine resolut wirkende Dame um die fünfzig. Diese bestätigte, daß Albert Didier seine Mutter in unregelmäßigen Abständen besuchte. Sie erzählte, Albert habe sie dringend gebeten, niemand von seinen Besuchen zu berichten, besonders nicht seinem Bruder Charles, falls der einmal hier auftauchen sollte. Entschuldigend fügte sie hinzu, gegenüber der Polizei sei das ja wohl etwas Anderes.

Ja, Charles Didier war seit seiner Haftentlassung einmal hiergewesen. Es habe da einen ausgesprochen unerfreulichen Disput zwischen ihm und seiner Mutter gegeben, weil die sich an etwas nicht erinnern konnte, was ihm wohl sehr wichtig gewesen sein mußte. Als er handgreiflich zu werden drohte, habe sie, die Heimleiterin ihn hinauswerfen lassen.

Nein, es gäbe keine Adresse, unter der die Didiers im Notfall zu erreichen wären. Sie könne nur mit Bestimmtheit sagen, daß sie sich nicht an ihrem alten Wohnort Loqmariaquer aufhielten. Da wohne sie selbst, und es wäre ihr bestimmt aufgefallen, wenn die beiden Didiers dorthin zurückgekommen wären.

Berteau beschloß, daß es keinen Sinn machte, das Altersheim überwachen zu lassen. Zu unregelmäßig waren die Besuche Alberts dort. Man würde sich auf die Ergebnisse der Fahndung verlassen müssen.

Sie fuhren nach Lorient zurück. Nachdem das Mittagessen in der Polizeikantine wirklich sehr mager gewesen war, ließ sich Berteau von Berger dazu überreden, im "Eisbein mit Sauerkraut" zu Abend zu essen. Er nahm sich allerdings vor, Berger gelegentlich in die Weihen der besseren Fischküche einzuführen, auch wenn dieser davon nicht viel zu halten schien.

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