Mittwoch, 8. Mai
Über Nacht war ein schnelles Tiefdruckgebiet vom Atlantik her über die Halbinsel gezogen, und es war feucht und ungemütlich kühl, als sich Berteau und Berger zu Fuß zum Embarcadere Lorient - Ile deCroix auf den Weg machten, wo sie das Polizeiboot aufnehmen sollte. Sie waren einigermaßen verkatert, und die dicke Nebelschicht, die sich über die Stadt gelegt hatte, paßte irgendwie zu ihrer Stimmung.
Berteau zog fröstelnd die Schultern hoch und vergrub, ganz gegen seine Gewohnheit, die Hände tief in den Manteltaschen. "Na, hoffentlich finden wir bei dieser Suppe unser Boot überhaupt", knurrte er.
Berger zog es vor, zu schweigen. Verdrossen stapfte er durch die watteähnliche Atmosphäre, die kaum fünfzig Meter Sicht zuließ. Sie waren spät dran, und Berger fürchtete ein wenig die zu erwartenden hämischen Bemerkungen seiner Kollegen von der Gendarmerie, die jetzt mit Sicherheit gespannt die Uhr beobachteten und Wetten abschlossen, wieviel die Kripo denn zu spät kommen würde.
Sie bogen in den Boulevard de l´Estacade ein. Am Anleger war um diese Zeit noch kein Betrieb, und die Kulisse ähnelte der einer zweitklassigen Edgar-Wallace-Verfilmung. Der Nebel dämpfte das Geräusch ihrer Schritte, und lediglich von See her war das unterdrückte Tuckern von Schiffsmotoren zu hören. Es stammte wohl von Fischkuttern, deren Besitzer sich trotz der üblen Sichtverhältnisse nicht abhalten ließen, ihrem Geschäft nachzugehen.
Dort, wo der Fähranleger sein mußte, schaukelten träge die Positionslampen eines Schiffs auf und ab und zeichneten bizarre Linien in die dicke Luft. Sie gehörten zu dem wartenden Küstenwachboot, wie sie beim Näherkommen feststellten.
Die angeforderten Gendarmen waren bereits an Bord und begrüßten Berger mit lautem Hallo. Berteau drückte sich an ihnen vorbei auf die Brücke, um sich beim Kommandanten zu melden. Der war nicht schlecht erstaunt, als ihm der Kommissar das Ziel der Unternehmung mitteilte. Offensichtlich hatte der Untersuchungsrichter kein Wort über den Zweck der Aktion preisgegeben.
Nachdem das Boot abgelegt hatte, versammelte Berteau seine Begleitung im Kartenraum. Es ging eng zu, aber irgendwo mußte er seine Leute ja in den kommenden Auftrag einweisen. Um es draußen auf Deck zu tun, war ihm das Wetter denn doch zu unfreundlich.
"Meine Herren," begann er, "es kann sein, daß Ihnen manches an unserem heutigen Tun etwas merkwürdig vorkommt, aber seien Sie versichert, das geht mir genau so. Wir fahren jetzt hinaus zum Fort Bloqué, wo es darum geht, aus der Ruhmeshalle des Grafen eine definierte Anzahl von Gemälden sicherzustellen und zunächst zu untersuchen. Mit einiger Sicherheit endet das in der Beschlagnahme eben jener Bilder.
Ich weiß, daß hier in der Gegend für die Familie de Kergac eigentlich die erbliche Immunität gilt, und daß mit einigen Schwierigkeiten zu rechnen ist. Doch diese Schwierigkeiten sind meine und nicht Ihre Sache. Betrachten Sie sich bitte für die Dauer dieser Aktion als reine Befehlsempfänger, tun Sie nur das, was ich oder, in meinem Auftrag Korporal Berger, Ihnen anordnen werden. Geben Sie gegenüber Dritten, insbesondere gegenüber Angehörigen des gräflichen Haushalts, keine Erklärungen oder Kommentare ab.
Ihre Aufgabe wird sein, aus der Gemäldesammlung des Grafen in der großen Halle des Forts diejenigen Bilder abzuhängen, die ich ihnen benenne und sie einfach auf die große Tafel zu legen. Eventuell, Sie kennen die Halle sicher von der einen oder anderen Besichtigung her, muß dafür erst Platz geschaffen werden. Seien sie mit dem ausgestellten Geschirr und Tafelsilber des Grafen sehr vorsichtig. Das Zeug ist durchweg sündhaft teuer und zum großen Teil unersetzlich.
Danach besteht Ihre Arbeit darin, die bezeichneten Bilder bis zum Abschluß der Aktion keine Sekunde aus den Augen zu lassen und, außer meinen eigenen, jegliche Manipulationen daran zu verhindern.
Ich kann nur schwer vorhersagen, wie lange es dauern wird, bis wir die Insel wieder verlassen. Es hängt entscheidend von der Frage ab, was dem Grafen einfällt, uns in unserer Arbeit zu behindern. Ich hoffe, man ist auf Ihrer Dienststelle darauf eingestellt, daß Sie eventuell heute nicht mehr zur Verfügung stehen."
Er besprach mit seinem Kommando noch einige Detailfragen, dann zog sich der Kommissar zum Kommandanten des Wachboots ins Ruderhaus zurück. Im Kartenraum war es ihm dann doch zu eng. Die Gendarmen kommentierten untereinander den Auftrag nur knapp, sie waren Kummer gewohnt. Viel mehr Interesse zeigten sie für Berger in seiner Rolle als Kripo-Gendarm, und der Arme mußte sich eine ganze Reihe spitzer Bemerkungen anhören.
*****
Wegen des Nebels waren sie länger unterwegs, als es geplant war. Schlag sieben Uhr betätigte der Kommissar mit Macht den wuchtigen Klopfer am Tor des Forts.
Georges, das Faktotum, mußte sie entweder erwartet haben oder er war für hiesige Verhältnisse ein extremer Frühaufsteher. Die letzten Schläge des Klopfers waren noch nicht richtig verhallt, da schwang bereits die in das große Tor eingelassene kleine Fußgängertür zurück, und Georges, in korrektem Butler-Outfit, fragte näselnd und sichtlich ungehalten nach ihrem Begehr.
Die Gendarmen unter Bergers Führung drängten sich an dem Alten vorbei und hasteten über den Vorhof zum Hauptgebäude, um die große Halle zu besetzen. Der alte Butler, jetzt doch ziemlich indisponiert, las stirnrunzelnd den Durchsuchungsbefehl, den Ihm Berteau unter die Nase hielt. Dann gab er sich einen Ruck, zog seine Livree glatt und brummte: "Ich denke nicht, daß das dem Herrn Grafen besonders gefallen wird!". Er wandte sich um und schickte sich an, hoheitsvoll davonzuschreiten.
Berteau hielt ihn an der Schulter zurück: " Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß seine Undurchsichtigkeit Einwände gegen unser Vorgehen haben wird. Also sputen Sie sich dabei, Ihren Boß herbeizuschaffen, ehe ich auf die Idee komme, das ganze Fort auf den Kopf stellen zu lassen. Und raten Sie dem Grafen, seinen Rechtsbeistand auch gleich herzuzitieren, sofern er das für notwendig hält! Und noch etwas: Keines von den neckischen Spielchen , wie sie hier im Fort normalerweise üblich sind. Ich bin heute nicht in Stimmung dafür!"
Georges zog beleidigt von dannen. Berteau ging zu seinen Leuten in die Halle. Einer der Gendarmen sicherte den Haupteingang, ein anderer die große Treppe. Berteau wußte von seinen bisherigen Besuchen, daß es da mindestens noch eine Tapetentür gab, durch die man sich Zugang zur Halle verschaffen konnte, aber er hatte sich die Stelle nicht genau gemerkt. Er hielt es auch für seine Absichten für unwesentlich.
Langsam schritt er eine der Längswände ab und bezeichnete den Gendarmen die Gemälde, an denen er interessiert war.
Bei dem Versuch, eine Miro nachempfundene Darstellung von der Wand zu nehmen, lösten die Beamten eine Alarmanlage aus, und das nervtötende schrillende Klingeln der Sicherung ließ die Gendarmen erschreckt innehalten.
Berteau forderte sie auf, den Krach zu ignorieren und weiterzumachen: "Lassen Sie sich nicht davon beeinflussen! Ich hoffe, der Alarm wird den Hausherrn davon überzeugen, sich ein wenig zu beeilen."
Zwei der Beamten hoben das Bild von der Wand, während die beiden übrigen auf der tatsächlich gedeckten großen Tafel das Inventar beiseite schoben, um für Berteaus Untersuchungen den nötigen Platz zu schaffen.
Der zog zunächst ein Maßband aus der Tasche, um die Abmessungen des Bildes zu ermitteln, dann verglich er diese mit seiner mitgebrachten Liste. "Na bitte," knurrte er, " vierundfünfzig
mal fünfundsechzig Zentimeter. Stimmt nicht ganz, aber wenn man berücksichtigt, daß die Leinwand mehrmals umgespannt und umgerahmt worden, kommt das schon hin. Wetten, daß sich unter dem Miro-le-Breton Rousseaus verschwundene Mühle versteckt."
Während die Gendarmen die weiteren bezeichneten Bilder abhängten und bereitlegten, zog Berteau ein Taschenmesser hervor und begann unter Bergers Assistenz vorsichtig in der rechten unteren Ecke der Miro- Imitation die Farbe abzuschaben.
*****
Es war eher Zufall, daß Yann, vierzehnter Comte de Kergac, die Nacht im Fort zugebracht hatte. Seine Geschäfte am Vortag hatten ihn bis kurz vor Mitternacht aufgehalten, und um diese Zeit wollte er es dem alten Georges nicht mehr zumuten, ihn noch zum Festland überzusetzen. Zwar hätte er eines der Boote zur Not auch selbst steuern können, aber eine Schlechtwetterfront war mit heftigen Windböen aufgezogen, und er war nicht besonders erfahren im Umgang mit Booten.
Also hatte er sich auf das diskret hinter der Bücherwand in seinem Arbeitszimmer versteckte Bett zurückgezogen. Die Benutzung der zahlreichen und geschichtsträchtigen Schlafzimmer seine Vorfahren lehnte er instinktiv ab. Das war etwas für Touristen und für die Fabulierkunst seines Bruders. Und jenen Anbau, den Yves in seinen Vorträgen hochtrabend Seitenflügel nannte, und der tatsächlich für die Benutzung durch die gräfliche Familie eingerichtet war, mochte er auch nicht aufsuchen. Das lag daran, daß Georges das dortige Mobiliar sofort wieder zur Konservierung unter weißen Tüchern verschwinden ließ, wenn seine Herrschaft die Tür des Anbaus von außen zuzog.
Das Schrillen der Alarmanlage riß den Grafen unsanft aus seinen Träumen. Zunächst wunderte er sich, daß diese überhaupt in Betrieb war, denn er konnte sich nicht vorstellen, wer ihn hier auf seiner meerumspülten Insel denn beklauen wollte. Er hatte sie überhaupt nur installieren lassen, weil Soutif, der Versicherungsmanager, ihn dazu gedrängt hatte. Eingeschaltet mußte das Ding wohl Georges haben, manche Dinge waren ihm einfach nicht auszutreiben.
Yann de Kergac warf sich einen Bademantel über und stolperte schlaftrunken in sein Arbeitszimmer hinüber. Die Alarmanlage war dezent in einem wuchtigen, alten Eichenschrank versteckt, der unter anderem auch eine moderne Video-Überwachungsanlage enthielt.
Der Graf riß die Tür des Schrankes auf und studierte mißmutig die Schalttafel der Alarmanlage. Eine nervös blinkende rote Lampe signalisierte, daß der Alarm in der Halle ausgelöst worden war. Wütend schaltete Yann de Kergac den Alarm ab und nahm statt dessen den Monitor der Viedoanlage in Betrieb. Er brauchte einige Versuche, bis er die richtige Kamera zugeschaltet hatte. Zuerst flackernd, dann stabil, erschien das Bild auf dem Schirm.
Die Kamera, die er erwischt hatte, war eine jener getarnt angebrachten, neumodischen Micro-Kameras mit Fixfokus-Objektiv und lieferte nur eine Totale der Halle. So mußte der Comte schon genau hinsehen, um Einzelheiten zu erkennen. Immerhin sah er uniformierte Gendarmen, die sich über Teile seiner Gemäldesammlung hermachten, und er erkannte auch jenen voluminösen Kommissar, der ihn vor Kurzem aufgesucht hatte und sich jetzt interessiert über den Tisch beugte.
Georges betrat schnaufend das Arbeitszimmer. Er hätte ja den kürzeren Weg über die Treppe in der Halle nehmen können, aber er fand das unangemessen. So hatte er das Hauptgebäude umrundet und war durch die Küche und den Gesindetrakt gegangen und die Dienstbotentreppe heraufgekeucht. Entsprechend knapp war er jetzt bei Atem. Der Graf stieß einen ganz ungräflichen Fluch aus und winkte Georges zu sich heran, zeigte auf den Monitor.
"Schockierend, nicht wahr," quetschte Georges hervor, "und er hat auch noch einen Durchsuchungsbefehl!"
"Nun," brummte de Kergac, "ich fürchte, man wird sich darum kümmern müssen."
Er griff zum Telephon, um seinen Bruder anzurufen, ein Unternehmen, das gar nicht so einfach war, weil man nur ahnen konnte, wo dieser um diese Zeit zu erreichen war. Er erreichte ihn schließlich beim vierten Versuch draußen auf seinem Leuchtturm. Yves war ein fürchterlicher Morgenmuffel, und Yann mußte ihm zweimal erklären, bis er begriff , was im Fort vor sich ging. " Komm sofort hierher, Nichtsnutz" , knurrte der Graf, ehe er den Hörer auf die Gabel knallte, "und bring deinen Kopf mit den Paragraphen mit. Ich fürchte, wir können ihn gebrauchen."
Nach kurzem Nachdenken griff er erneut zum Telephon und wählte er eine Pariser Nummer:
" Innenministerium?", bellte er in die Sprechmuschel, "Abteilung achtzehn bitte. Ja ich bin autorisiert! Hier spricht Yann, Comte der Kergac! Ja, ich warte!
Abteilung achtzehn? Monsieur Papin bitte, Cesar Papin! Was heißt das, nicht im Amt? Dann geben Sie mir seine Privatnummer! Wie, dazu sind Sie nicht befugt? Scheiß Bürokratie! Richten Sie Monsieur Papin aus, er möchte mich dringend zurückrufen! Sehr dringend! Sagen Sie Ihm, im Fort Bloqué sei Feuer unter dem Dach und Gauguin macht sich die Hose naß! Ja, genau diesen Wortlaut! Kergac ist mein Name, Yann, Comte de Kergac! Ich bin Ihnen sehr verbunden, danke!"
Er unterbrach die Verbindung: "Bürokratenbande", knurrte er, "wehe, wenn man sie einmal braucht!"
Er überlegte, was jetzt am zweckmäßigsten zu tun sei. Normalerweise hätte er Pompidou, den Präfekten angerufen und verlangt, daß dieser seinen Kommissar zurückpfiff. Aber er wußte gerade von Pompidou, daß dieser Kommissar auf höchste Anweisung seinem Zugriff entzogen worden war und sich nun seinerseits aufführte, als sei er der Präfekt.
Der Graf bedeutete dem Faktotum, seine Sachen bereitzulegen und begann sich anzukleiden. Als er nach einer seiner geliebten Seidenkrawatten griff, zögerte er. Er erinnerte sich an den mißbilligenden Blick, den er bei seiner ersten Begegnung mit dem Kommissar geerntet hatte.
Er würde ihm lieber mit offenem Hemdkragen entgegentreten.
*****
Kommissar Berteau war tief über den Tisch gebeugt noch mit dem ersten Bild beschäftigt, das er von der Wand hatte abhängen lassen, als der Graf oben auf dem Absatz der großen Halle erschien.
Die Art und Weise, mit der der Sachverständige sich über Le Bretons Miro hermachte, war nicht gerade als schonend zu bezeichnen, aber Berteau war sich seiner Sache sehr sicher und ging davon aus, daß des Wilden Machwerk sowieso nicht auf Dauer angelegt war. Nachdem es ihm gelungen war, sich mit einem Taschenmesser vorsichtig schabend bis zu der auch hier vorhandenen Trennschicht durchzuarbeiten, ging die Arbeit leichter vonstatten. Quadratzentimetergroße Farbpartikel der Übermalung ließen sich jetzt abheben und gaben nach und nach das darunterliegende Geheimnis preis. Berteau hatte einen Teil einer Singnatur freigelegt, die unschwer Rousseau zuzuordnen war.
"Beim Teufel, Kommissar!", polterte der Comte von der Treppe herunter, "Was, um alles in der Welt treiben Sie da?"
Der sah nicht einmal von seiner Arbeit auf. "Als ob Ihnen Ihr Faktotum das nicht schon lange berichtet hätte, Comte!", gab er eben so laut zurück, "Ich suche, und ich finde! Ich suche insgesamt noch acht angeblich oder wirklich gestohlene Kunstwerke, mit denen sich etliche Leute viel Arbeit gemacht haben, um sie in der Versenkung verschwinden zu lassen, und ich bin mir sicher, sie hier in Ihrer Ruhmeshalle gefunden zu haben! Hier", er deutete mit der Messerspitze auf das Bild, das er gerade bearbeitete, "habe ich gerade einen Zipfel des Geheimnisses um Rousseaus Mühle gelüftet, und darunter "er zeigte auf ein weiteres Bild, "verbirgt sich Degas Felsenriff und dort drüben Gauguins Mädchenreigen. Beim Rest bin ich mir noch nicht ganz sicher. Comte, ich denke, Sie haben gewisse Erklärungsschwierigkeiten!"
Der Graf kam mit schwerem Schritt die Treppe herunter. Er trug unter dem Arm einen Telephonapparat, um den die Anschlußschnur herumgewickelt war. "Sie haben schon recht, Kommissar.", seufzte er, "Schwierig wird das allemal werden. Für den Normalverbraucher klingt die Geschichte so bescheuert, daß ich nicht voraussetzen kann, daß Sie sie mir abnehmen. Deshalb", er stellte den Telephonapparat auf einem kleinen Tischen direkt am Ende der Treppe ab und stöpselte die Anschlußschnur in eine bisher verborgene Telephondose, "habe ich
auch das hier mitgebracht. Ich erwarte zu meiner Unterstützung einen wichtigen Anruf, und es wird einfacher sein, Sie hören das Telephonat mit. Das erspart mir, Ihnen Dinge erklären zu müssen, die Sie mir doch nicht abnehmen werden."
Er setzte sich auf einen der schweren Stühle am Kopfende der großen Tafel und fixierte Berteau aus der Entfernung. "Nun, Sie sind ja nun bereits so weit, daß Sie wissen, welche alten Raritäten sich unter dem neuen Lack verbergen! Was gedenken Sie jetzt zu unternehmen?"
Berteau faltete sein Taschenmesser zusammen und nahm ebenfalls Platz. Sie unterhielten sich jetzt über die gesamte Länge des Tisches hinweg über eine Entfernung von gut zwölf Metern. Die Augen der Gendarmen, pendelten zwischen den beiden hin und her, als verfolgten sie ein Tennismatch. "Nun, Graf, auch wenn ich fündig geworden bin, ist mir einiges noch nicht klar! Diese Bilder hier gelten offiziell als gestohlen, und sie wiederzubeschaffen hat man mich eigens hierhergeschickt. Wieso es sein kann, daß ich sie ausgerechnet bei dem finde, dessen Firmen den Bestohlenen die Versicherungssummen ausbezahlt haben. Da in dessen Besitz oder besser, in den seiner Organisation, die Gemälde nach den geltenden Regelungen demnächst sowieso übergehen würden, kann ich das nun nicht nachvollziehen.
Um irgend jemanden in diesem Zusammenhang zu verhaften, sind vermutlich meine Arme zu kurz. Also werde ich, wenn ich hier fertig bin, die Bilder beschlagnahmen und als Beweismaterial an Untersuchungsrichter de Lacroix übergeben. Sollen sich mit den Hintergründen doch die Justitzbehörden auseinandersetzen. Ich für meinen Teil werde meinen Bericht schreiben und nach Paris zurückkehren, was ich schon lange habe tun wollen."
Der Graf verhielt sich abwartend. Ehe Berteau seine Rede jedoch fortsetzen konnte, erschien der Maître Yves de Kergac auf der Bildfläche. Er erschien im wahrsten Sinne des Wortes.
Plötzlich stand er am unteren Ende der Treppe neben dem Telephon, das sein Bruder dort abgestellt hatte. Nur Berger hatte aus den Augenwinkeln bemerkt, daß hinter der Stelle, an der der Maître jetzt stand, für einen kurzen Moment ein Stück der Wand beiseitegeglitten war und sich sofort wieder geschlossen hatte.
Yves de Kergac wollte zu einem seiner effektvollen Auftritte ansetzen, aber der Graf stoppte ihn mit einer abwehrenden Handbewegung.
Berteau fuhr leicht irritiert fort: " Ehe ich aber hier meine Zelte abbreche, habe ich aber noch ein kleines Revanchefoul zu erledigen. Wenn ich, was ich jetzt einfach voraussetze, den Grafen de Kergac schon nicht als ganz gewöhnlichen Räuber festsetzen kann, so will ich doch ein wenig an seinem Lack kratzen. Schließlich habe ich nicht vergessen, wie Ihr Bundesgenosse Monpas mich in seinem Blatt durch den Kakao gezogen und der Unfähigkeit bezichtigt hat. Also werde ich wohl dafür sorgen müssen, daß mein Fahndungserfolg ebenso publik gemacht wird, wie mein Appetit. Ich denke, ich werde da wohl ein Konkurrenzblatt bemühen müssen."
Yann de Kergac zuckte bei Berteaus Rede schmerzlich zusammen. Er blickte seinen Bruder fragend an, aber der zuckte nur mit den Schultern. Der Graf sagte: "Monsieur Monpas ist mit seinen Artikeln sicher ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Aber mein Einfluß auf ihn ist begrenzt, auch wenn wir in einigen Dingen eng zusammenarbeiten. Ich gebe zu, daß es uns alle in arge Bedrängnis bringt, wenn Sie, Monsieur le Commisaire, Ihre Drohung wahr-, und unsere Rolle in diesem Spiel publik machen. Aber aus anderen Gründen, als Sie offensichtlich denken. Und ich sehe zu meinem Bedauern im Moment keine Möglichkeit, Sie daran zu hindern."
Er sah zu seinem Bruder hinüber und deutete auf das Telephon: "Wenn sich unser Freund aus Paris nicht bald meldet, fürchte ich, haben wir ein ernstes Problem."
Berteau wartete einen Moment ab, ob der Graf noch etwas nachlegen wollte, aber es schien alles gesagt zu sein. So machte er sich achselzuckend wieder an seine Arbeit. Das aristokratische Brüderpaar zog sich ans entgegengesetzte Ende der Halle zurück und unterhielt sich halblaut. Immer wieder ging ihr Blick zum Telephon, und je mehr die Zeit verstrich, desto nervöser wurden die beiden.
Gegen neun Uhr, Berteau machte sich gerade über das vierte Bild her, um zu ermitteln, welche Überraschung es enthalten mochte, orderte der Graf bei Georges ein Frühstück. Er besaß genug Stil, die Beamten dazu einzuladen. Nach einigem Zögern nahm Berteau für die Gendarmen die Einladung an, denn die hatten fürwahr schon einen recht langen Vormittag. Er selbst verzichtete, obwohl sein Magen hörbar knurrte. Zum augenblicklichen Zeitpunkt wollte er nicht den geringsten Anschein der Vorteilsnahme aufkommen lassen.
Gegen zehn endlich schrillte das Telephon. Der Graf hastete an den Apparat und hob ab und schaltete gleich den Lautsprecher des Geräts mit ein..
"Papin hier," tönte es am anderen Ende, "ich sollte sie zurückrufen, Monsieur le Comte. Tut mir leid, es ging nicht früher. Ihre Andeutungen klingen ja besorgniserregend. Wo brennt es denn?"
Berteau hatte bei der Nennung des Namens Papin interessiert aufgehorcht und schlenderte jetzt heran. Der Graf schnaufte:
"Nun, Monsieur Papin, unser Problem hier ist, daß dieser famose Kommissar, der auf Ihre Anordnung hin von Paris hierhergeschickt wurde, wohl tüchtiger ist, als wir alle das angenommen hatten. Er hat unser Geheimnis entdeckt, und ist derzeit dabei, von unseren so schön getarnten alten Meistern die neue Farbe abzukratzen. Und er scheint allen Ernstes die Absicht zu haben, unsere kleine Schiebung in das Blickfeld der schnöden Öffentlichkeit zu zerren. Mal abgesehen von dem daraus zu erwartenden Skandal, an dem unserer Seite überhaupt nichts gelegen ist, würde ich vermuten, daß die Gegenseite auf diese Version der Wahrheit ziemlich böse reagieren wird. Ich denke, Sie sollten Monsieur Berteau seine Absichten ausreden." Dann berichtete der Graf knapp über die Ereignisse des Tages.
Aus dem Lautsprecher drang etwas, das entfernt an das Knurren eines wütenden Hundes erinnerte. Dann wurde die Stimme am anderen Ende wieder verständlich: " Gut, Comte, oder vielmehr nicht gut. Die besten Pläne nützen nun mal nichts, wenn die Vorgaben nicht stimmen. Holen Sie mir den Kommissar an den Apparat!"
"Er hört bereits mit, Monsieur Papin, ich habe den Lautsprecher zugeschaltet!". Der Graf hielt Berteau den Hörer hin und trat beiseite. Der Kommissar erwog einen Moment, jetzt den Lautsprecher abzuschalten, unterließ es aber. "Berteau hier", brummte er in den Apparat.
Die Stimme am anderen Ende nahm einen verbindlichen Tonfall an: "Monsieur le Commissaire, hier spricht César Papin vom Innenministerium. Wir kennen uns nicht persönlich, aber mein Name sollte Ihnen bekannt sein. Eigentlich sollte ich Ihnen jetzt zu Ihrem Fahndungserfolg gratulieren, aber es steht da ein Problem an, das ich so am Telephon nicht erläutern kann.
Betrachten Sie meine folgenden Worte bitte als Weisung! Unternehmen Sie nichts, bis wir uns persönlich getroffen und einige Punkte geklärt haben, von denen Sie nichts wissen können, die aber so, wie die Dinge gelaufen sind, unbedingt zu Ihrer Kenntnis gelangen müssen.
Ich schlage Ihnen Folgendes vor : Brechen Sie Ihre Aktion jetzt ab. Lassen Sie die aufgefundenen Bilder meinetwegen von der Gendarmerie bis morgen früh an Ort und Stelle bewachen. Ich habe jetzt einige Termine abzusagen und einige andere anzuberaumen, garantiere Ihnen aber, daß ich morgen Vormittag Punkt acht Uhr im Fort Bloqué sein werde, um Ihnen die fehlenden Fakten für ihren Fall zu liefern. Seien Sie also auch da! Und, Kommissar, bis dahin kein Wort zu irgendwem!"
Berteaus Mine hatte sich während der Rede des Anderen zusehends verfinstert. Jetzt knurrte er: "So weit, so schön, Monsieur Papin. Aber Sie übersehen bei ihrer Anweisung zweierlei: Erstens: Ich kenne Sie tatsächlich nicht persönlich, wie käme ich dazu, mir von Ihnen Befehle geben zu lassen? Wenn Sie tatsächlich der sind, für den Sie sich ausgeben, dann haben wir in Paris einen gemeinsamen Bekannten. Sie werden wissen, wen ich meine. Nur wenn dieser gemeinsame Bekannte mich im Laufe der nächsten zwei Stunden hier anruft und Ihre Weisung bestätigt, werde ich mich auch danach richten. Ansonsten handle ich nach Gutdünken. Zweitens: Was soll ich Ihrer Meinung nach dem Untersuchungsrichter erzählen, von dem ich den Durchsuchungsbefehl habe und der verständlicherweise auf einen Bericht wartet? Etwa: Auf Anweisung von Höchster Ebene Fehlanzeige, oder wie stellen Sie sich das denn vor?"
Papin schien einen Moment nachzudenken: "Das mit unserem gemeinsamen Bekannten sollte in Ordnung gehen.", antwortete er dann, "Was den Richter betrifft, ist der Fall etwas komplizierter. Wer ist es denn?"
"Richter de Lacroix", bellte Berteau, "und er macht nicht den Anschein, als würde er sich mit halben Sachen zufrieden geben."
Papin seufzte: " Nun gut, ich werde den Richter auch zu unserer Versammlung einladen. Dem Innenministerium wird er eine solche Bitte hoffentlich nicht ausschlagen. Am Besten, Sie bringen ihn morgen gleich selbst mit, Monsieur le Commissaire. Es werden sowieso einige Leute anwesend sein, mit denen Sie jetzt kaum rechnen werden! Bonjour, Monsieur Berteau"
Damit wurde die Verbindung unterbrochen.
Berteau warf ärgerlich den Hörer auf die Gabel. Dann rief er seine Gendarmen zusammen: "Sie haben ja das Wesentliche mitgehört. Richten Sie sich also darauf ein, daß Sie die Nacht über hier verbringen werden, um auf unsere Kostbarkeiten aufzupassen. Berger hat dann hier das Kommando, während ich mich in der Stadt noch um einige wichtige Dinge kümmern muß. Ich werde über das Kommissariat veranlassen, daß Sie mit dem Notwendigen versorgt werden. Wenn jemand von Ihnen das Bedürfnis hat, Angehörige über das Ausbleiben zu verständigen, so wird Ihnen der Graf bestimmt sein Telephon zur Verfügung stellen. Verschweigen Sie aber tunlichst, wo sie die Nacht verbringen werden. Ich nehme an, die Bestätigung der Anweisung des Herrn Papin wird nicht lange auf sich warten lassen."
Die Wendung der Dinge hatte dem Aristokratenpärchen sichtlich Erleichterung verschafft. Insbesondere der Maître bekam wieder Oberwasser.
"Oui,", gab er von sich und tänzelte zu der Wand hinüber, durch die er am frühen Morgen so überraschend erschienen war, " und wenn Sie heute Nacht hier sind, so behandeln Sie mit dem nötigen Respekt meinen Ur-Ur-Urgroßonkel Philipp. Der Gute war Kaperfahrer hier vor der Küste, bis ihn im Mai siebzehnhundertfünfundachzig die Engländer erwischten und köpften. Der Arme kann nun keine Ruhe finden, weil er seinerzeit einen Großteil seiner Beute der französischen Krone unterschlagen hat. Und jede Nacht im Mai spukt er nun hier durch die Halle. Er ist nicht wirklich gefährlich, hat aber schon manchen zu Tode erschreckt, wenn er so mit seinem abgeschlagenen Kopf unter dem Arm klagend durch die Halle schleicht."
Er hob theatralisch die rechte Hand und klapperte demonstrativ mit den Zähnen. "Er kommt übrigens immer durch diese Wand hier und verschwindet auch wieder durch sie". Die Geheimtür hinter ihm glitt beiseite, und der Maître verschwand.
Berger, der so etwas erwartet hatte, hatte besonders auf die Hände des Maître geachtet. Ihm war aufgefallen, daß die erhobene Rechte für einen Moment vor einer bestimmten Stelle der Wandvertäfelung innegehalten hatte und er beschloß, bei passender Gelegenheit den Mechanismus der Geheimtür zu untersuchen.
Wenig später schrillte das Telephon erneut. Berteau, der dem Apparat am nächsten stand, hob ab und meldete sich. Wie er es erwartet hatte, war am anderen Ende diesmal Alphonse Leroux, sein Pariser Préfet.
"Hallo Armand", Leroux´ Zwergpudelstimme säuselte, so gut wie ein Zwergpudel eben säuseln kann. "Was haben Sie denn nun wieder angerichtet? Der gute Papin ist ja ganz außer sich vor Aufregung?"
"Hören Sie, Alphonse," Berteau war bemüht, sich nicht allzu aufgebracht anzuhören, "Sie selbst haben mir geschrieben: ES MUSS ETWAS DABEI HERAUSKOMMEN! Nun kommt etwas bei meiner Arbeit hier heraus, und nun ist es zumindest Papin auch wieder nicht recht. Sie, Alphonse, haben sich über meine mangelnde Berichterstattung beklagt, und nun sehe ich es noch kommen, daß Sie auch keinen Abschlußbericht erhalten! Sagen Sie, wie stehe ich jetzt da?"
Leroux versuchte zu besänftigen: "Hören Sie, Armand, mir ist so manches auch nicht klar, was hier gespielt wird. Aber das soll jetzt nicht meine Sorge sein. Papin hat mich gebeten, ihn Ihnen gegenüber zu identifizieren, was ich hiermit tue. Sie sind wirklich gut beraten, wenn Sie sich an Papins Anweisungen halten und die morgige Versammlung abwarten!"
Berteau sah ein, daß es keinen Sinn hatte, sich zu sträuben: "Na gut, wenn Sie meinen. Werden Sie beim Showdown auch zugegen sein?"
Leroux kicherte: "Bewahre, wo denken Sie hin? In die Angelegenheiten der Abteilung achtzehn mischt man sich nicht ein, wenn man nicht dazu eingeladen wird! Salu, Armand"
Die Verbindung wurde unterbrochen. Berteau hielt nachdenklich den Hörer in der Hand. Von einer Abteilung achtzehn im Innenministerium hatte er gerade zum ersten mal gehört. Mochte der Teufel wissen, was dahintersteckte. Aber es klang ungemein wichtig.
*****
Berteau ließ seinen Troß im Fort zurück, nachdem er sich telephonisch den Segen der Gendarmerie eingeholt hatte. Er selbst verließ, nachdem die Ebbe den Weg durchs Watt trockengelegt hatte, die Insel zu Fuß. Er suchte zuerst das Restaurant am Strand auf, um seinem mittlerweile brüllenden Magen Beschäftigung zu verschaffen.
Danach fuhr er mit einem Taxi in die Stadt. Er suchte zuerst Richter de Lacroix auf, um diesen vom veränderten Sachstand zu unterrichten. Der Richter nahm sich zwischen zwei Terminen einige Minuten Zeit für ihn und bestätigte, daß er bereits von Papin informiert worden war. Ja, der Richter würde morgen an der Zusammenkunft im Fort teilnehmen, und man vereinbarte, zusammen mit dem Dienstwagen des Richters dorthin zu fahren.
Als nächstes gab er den Mietwagen zurück. Es war mühsam, den aufdringlichen Fragen des geschwätzigen Autohändlers zum Stand der Ermittlungen auszuweichen, ohne unhöflich zu werden. Berteau vertröstete le Breton mit dem Hinweis auf zu erwartende Presseveröffentlichungen.
Der Kommissar spielte mit dem Gedanken, seinen Abschlußbericht zu entwerfen, verwarf diesen jedoch gleich wieder. Er haßte es, Dinge zu tun, von denen er nicht wußte, ob sie denn morgen noch Bestand haben würden.
Er verbrachte den Nachmittag und den frühen Abend im Kino, sah sich dieselbe Vorstellung zweimal an, ohne aber die Handlung des Filmes richtig zu erfassen. Es war irgend so eine Belmondo-Agentengeschichte, und Berteau erinnerte sich hinterher dunkel daran, daß alle Hauptfiguren -auch Belmondo- im Laufe des Films erschossen wurden.
Den Rest des Abends über trank er sich an der Hotelbar des Atlantique die nötige Bettschwere an.
*****
Der Abend in der Halle des Fort Bloqué schleppte sich träge dahin. Die Halle war nur schwach beleuchtet und die Gendarmen hatten sich unter einen der wenigen Beleuchtungskörper zurückgezogen und spielten Black Jack. Berger hielt sich zurück. Er kannte den Besitzer des Kartenblattes und hatte keine Lust, sich über den Tisch ziehen zu lassen.
Der alte Georges hatte sich lange Zeit wie, dereinst Zerberus, am Eingang des Hades am unteren Ende der Treppe aufgebaut und beobachtete die Gendarmen argwöhnisch. Er war wild entschlossen, dafür zu sorgen, daß sich die Uniformierten nur um ihren Auftrag und um sonst nichts in der Halle kümmern würden.
Aber der lange Tag und das eintönige Gemurmel der kartenspielenden Gendarmen wirkten ermüdend auf das Faktotum, und irgendwann nach einundzwanzig Uhr verzog er sich.
Auf diese Gelegenheit hatte Berger gewartet. Er trat an die Wand mit der Geheimtür heran und untersuchte im Schein einer Taschenlampe die Stelle, vor der des Maîtres Hand innegehalten hatte. Im Zentrum einer geschnitzten Rosette entdeckte er eine Art Linse.
Berger hielt die Hand davor, wie er es bei Yves de Kergac gesehen hatte. Ein türgroßes Stück der Wand glitt um vielleicht zehn Zentimeter zurück, um dann seitlich hinter der übrigen Wand zu verschwinden. Der Korporal hatte zwar damit gerechnet, aber jetzt zog er doch überrascht die Hand zurück. Nach drei Sekunden, etwa der Zeit, die man brauchen mochte, um durch die Öffnung zu treten, kam die Tür wieder aus der Versenkung geglitten und passte sich nahtlos in die Wandvertäfelung ein.
Berger war vorsichtig. Solange er nicht wußte, welche Mechanik die Geheimtür steuerte, traute er sich nicht, in den Raum dahinter zu treten. Er nahm einen der antiken Stühle, öffnete die Tür von Neuem und stellte den Stuhl in die Öffnung. Als er die Hand zurücknahm, schickte die Tür sich an, zuzugleiten. Dann stieß sie mit der Kante an den Stuhl, hielt einen Moment inne und öffnete sich wieder. Sie verhielt sich genau wie eine automatische Aufzugstür.
Berger schob den Stuhl hinter der zurückgleitenden Geheimtür her und blockierte sie so in der geöffneten Stellung. Dann betrat er den dunklen Raum hinter dem Durchlaß. Er suchte und fand einen Lichtschalter.
Flackernd erwachte eine Neonröhre zum Leben und beleuchtete einen kahlen, weißgetünchten Flur. Er mochte vielleicht sechs Meter lang sein und hatte gerade die Breite der Geheimtür. Berger sah sich um. Wenn er einen geheimnisvollen, mittelalterlichen Öffnungsmechanismus zu finden erwartet hatte, so sah er sich jetzt herb enttäuscht. Es handelte sich bei der Geheimtür um eine jener neumodischen und durch Bewegungsmelder gesteuerten Türen, wie man sie heute in gläserner Ausführung in jedem Kaufhaus findet. Sie unterschied sich von jenen ledig-
lich dadurch, daß sie auf der Seite der Halle perfekt an die Umgebung angepaßt war und daß der Pir-Melder in der Halle gut versteckt war und damit einen sehr kleinen Erfassungsbereich hatte. Die Installation konnte nicht billig gewesen sein.
Auf der gegenüberliegenden Seite war eine gleichartige Tür eingebaut. Hier, in diesem Flur hatte man sich die Mühe mit der Tarnung nicht gemacht. Beidseitig hingen die Bewegungsmelder offen über der Tür, die Steuerleitungen waren hier auf Putz verlegt und liefen etwa auf halber Flurlänge in einer Nische in einem Schaltkasten zusammen. Die Stromleitungen kamen aus einem zehn mal zehn Zentimeter großen Schacht, der von der Nische aus senkrecht nach oben führte.
Berger hielt die Hand unter den Schacht und verspürte einen kalten Luftzug. Ursprünglich mußte dieser wohl der Belüftung gedient haben.
Er ging zum anderen Ende des Flurs. Als er dort in den Erfassungsbereich des Melders kam, glitt auch diese Tür auf, und Berger konnte in ein spärlich möbliertes Vestibül sehen. Er kannte den Raum von seiner Teilnahme an diversen Schloßführungen. Es war Schauplatz einer jener haarsträubenden Geschichten, die der Maître immer von sich gab. Hinter dem regulären Eingang zu diesem Vestibül, so wußte Berger, verbarg sich ein Treppenabsatz, von dem die Dienstbotentreppe nach links abwärts zur Küche und nach rechts aufwärts zu den früheren gräflichen Gemächern führte.
Der Korporal machte sich auf den Rückweg zur Halle und drehte im Vorbeigehen aus bloßer Neugierde am Griff der Tür des Schaltkastens. Sie war nicht verschlossen. Berger studierte interessiert die Installation. Da alle Leitungen hier im Flur sichtbar verlegt waren, machte es ihm keine Mühe festzustellen, daß die Steuerleitungen von allen vier Pir-Meldern auf Sicherungsautomaten aufliefen, ehe sie von dort an Relais endeten, die wohl die Steuerung der Türmotoren übernahmen.
Das brachte ihn auf eine Idee. Nach einigen Versuchen und Tests hatte er heraus, wie man es anstellen mußte, daß nur die jeweils äußeren Bewegungsmelder an beiden Türen ansprachen, aber nicht die von der Flurseite her. Wer jetzt von außen den Flur betrat, und die Tür hinter sich zugleiten ließ, konnte ihn nicht ohne Weiteres wieder verlassen. Berger würde das zwar morgen vor der Sitzung wieder in Ordnung bringen müssen, aber er hoffte, daß der bewußte Ur-Ur-Ur-Großonkel des Maître nicht von moderner Elektroinstallation verstand.
Er ging zurück in die Halle und entfernte den Stuhl, mit dem er die Geheimtür blockiert hatte. Geräuschlos schloß sich der Durchgang.
Er ging zu seinen Kollegen hinüber. "Hört mal her!", sagte er mit vergnügtem Grinsen, " Ich glaube, ich habe das fürchterliche Piratengespenst, von dem der jüngere Kergac gesprochen hat, soeben zum bloßen Poltergeist degradiert. Was auch immer zur Geisterstunde oder später geschieht, Ihr hört nichts und seht nichts! Klar? Denkt an Eure schwachen Nerven und kranke Herzen."
Dann traf er seine Einteilung für die Nacht und streckte sich unweit der Geheimtür auf einer hölzernen Bank aus, um eine Mütze Schlaf zu nehmen.
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Berger wurde gegen halb drei vom gerade Wachhabenden Gendarmen geweckt. "Albert, komm einmal mit und hör Dir das an!" . Er führte Berger dorthin, wo die Geheimtür war. Berger lauschte. Dumpfes Pochen drang durch die Wand und stark gedämpftes Rufen. Das ging so vielleicht drei Minuten, dann trat Ruhe ein.
"Das geht jetzt schon seit Mitternacht so, nur die Pausen werden immer länger", sagte der Gendarm, "Meinst Du nicht, daß wir uns so langsam darum kümmern sollten?"
Berger feixte: "Wieso, stört Dich das? Die Wand ist doch gut schallgedämpft! Untersteh Dich! Das wird den alten Piraten lehren, friedliche Leute erschrecken zu wollen!"
Damit war die Sache vorerst für ihn erledigt und er legte sich wieder auf´s Ohr
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