Freitag, 3. Mai
Ehe sie nach St.Malo aufbrachen, erkundigte sich Berteau auf dem Kommissariat nach den neuesten Nachrichten. Es gab nichts Bemerkenswertes außer der Tatsache, daß die Serie von Kircheneinbrüchen in der vergangenen Nacht eine neuerliche Unterbrechung erfahren hatte. Die beiden Beamten sahen sich in ihrer Theorie bestätigt und waren sich sicher, die Dinge würden in Bewegung kommen.
Es war ein strahlend schöner Sonnentag und die Außentemperaturen waren auf fünfundzwanzig Grad geklettert, als sie St.Malo erreichten. Die Wettervorhersage des Rundfunks versprach, daß es die nächsten drei Tage so bleiben würde.
Er hatte ursprünglich die Absicht gehabt, den Leiter der Gendarmerie zu bitten, durch einige Beamte in Zivil die Bucht von St. Briac überwachen zu lassen. Nachdem allerdings die Wetteraussichten so günstig waren, fand er, Berger und ihm könnte ein Wochenende am Meer auch nicht schaden.
Das ersparte es ihm, den Sonntag in einem muffigen Polizeibüro zubringen zu müssen. Seine Erreichbarkeit war über das Mobiltelephon ja sichergestellt.
Sie mieteten sich im Hotel Du Port am Quartier de la Madeleine ein, verstauten ihr Gepäck und fuhren dann zur Gendarmerie, um mit dem dortigen Leiter das weitere Vorgehen abzusprechen. Wie zugesagt, hatte man ihnen ein kleines Bureau reserviert, aber als der Chef der Polizeistation erfuhr, daß Berteau es vorerst nicht benützen wollte, war er auch nicht böse.
Was der Kommissar zunächst brauchte, waren Informationen. Nachdem ihn der Photograph Guerinne schlüssig auf die Ile oublieé aufmerksam gemacht hatte, berichtete er dem Chef kurz, was er über die Insel schon wußte und bat um weitere Einzelheiten.
Der wiegte bedenklich den Kopf.: "Monsieur, wenn Ihre Annahme stimmt, daß die Kirchenräuber auf der Ile oublieé ihr Versteck unterhalten, dann können sie nicht von hier sein oder es müssen Leute sein, die ein erhebliches persönliches Risiko nicht scheuen.
Statt Ile oublieé müßte die Insel eigentlich l’Ile interdite, die Verbotene, heißen. Denn die Doppelinsel ist seit fast sechzig Jahren Sperrgebiet, und die Einheimischen halten sich nicht nur wegen des angeblichen zweihundert Jahre alten Fluchs an das Verbot. Das hängt folgendermaßen zusammen:
Tatsächlich hat bis 1914 kaum jemand die Insel aus den ihnen schon bekannten Gründen besucht. Erst während des ersten Weltkriegs wurde die Insel für das Militär, genauer gesagt, für die Marine interessant. Man verlegte eine Marinepioniereinheit nach da draußen, um ein Inselfort zu errichten. Man befürchtete, die Deutschen könnten die Küste von der See her angreifen. Das Unternehmen war von ziemlichen Schwierigkeiten begleitet , weil die Insel nur mit kleinen Booten und über eine sehr schmale Fahrrinne zum alten Inselhafen erreichbar ist."
Der Chef machte eine Atempause und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Berteau bedeutete ihm mit einer Handbewegung, fortzufahren.
"Das mit der Fahrrinne ist so, weil rund um die Insel fast wie ein Riff scharfkantige Klippen ins Wasser ragen und selbst bei Flut nur knapp unter der Wasserlinie liegen. Das mit den Klippen kam dem Militär trotz der Schwierigkeiten, Baumaterial und schwere Waffen hinüber zu schaffen, eigentlich gerade recht, war das beabsichtigte Fort auf diese Art von See her praktisch unangreifbar.
Nun , man wühlte auf dem der Küste näherliegenden Teil Kasematten für Munitionslager in den Fels und machte den anderen dadurch wieder zugänglich, daß man den alten, längst zusammengebrochenen Holzsteg durch einen eisernen ersetzte. Die Alte Abtei wurde saniert, -sie muß ursprünglich schon für die Ewigkeit gebaut worden sein-, und der Inselkommandant nahm darin Quartier."
Der Beamte machte erneut eine Kunstpause und nahm einen langen Schluck aus einer Mineralwasserflasche.
"Damit begannen andere Probleme, die auch letztlich zur Aufgabe aller Pläne führten. Bei einem Teil der Besatzung brach eine rätselhafte Krankheit aus und fast alle Betroffenen starben. Nun sind Armeen in dieser Richtung nicht besonders zimperlich, aber als es auch den Kommandanten erwischte, zog die Marine endgültig ab.
Für die Bretonen hier war das ein neuer Hinweis auf den alten Fluch und ein Grund, die Ile oublieé jetzt erst recht zu meiden. Aber Mitte der zwanziger Jahre hielt sich eineZeit lang ein Biologenteam da draußen auf, um herauszufinden, was denn an den Inseln so besonderes ist.
Man hatte Glück, daß man den Grund für die Erkrankung der Soldaten und vermutlich auch das Verschwinden der früheren Bevölkerung fand, noch ehe das Team selbst betroffen war: Teile der Insel, insbesondere um die Abtei herum, sind mit Milzbranderregern verseucht. Das ist, Sie werden es wissen, eine teuflische Viehseuche, die auch, zum Beispiel über die Nahrung, auf den Menschen übergreift und fast immer tödlich endet. Und das Gemeine an den Erregern ist, daß sie im Boden Jahrhunderte überleben."
Ein erneuter Schweißausbruch mußte entsorgt werden, dann fuhr er fort:
"Eine Entseuchung der Inseln galt als wirtschaftlich nicht vertretbar und man wußte auch nicht so recht, wie man es bewerkstelligen sollte. Die Engländer haben da ein ähnliches Problem, weil sie versucht haben, Milzbranderreger als biologische Kampfmittel umzufunktionieren. Deshalb gilt die Ile oublieé als Interdit Aera, als Sperrzone , und nur alle paar Jahre werden Untersuchungen über den jeweiligen Zustand angestellt.
Die Kollegen der Küstenwache suchen die Ile oublieé ab und zu auf, um nach dem Rechten zu sehen, dann aber nur mit spezieller Schutzbekleidung und Atemschutz. Und mit nachfolgender, aufwendiger Dekontamination. Daher weiß ich, daß der alte Eisensteg über den Kanal immer noch intakt ist und die Abtei in relativ gutem Zustand. Für risikobereite Leute wäre sie also sicher ein geeignetes Versteck.
Aber ich würde aus Selbstschutzgründen davon abraten, ohne Erhärtung des Verdachts eine Razzia auf der Insel zu veranstalten. Es ist zu gefährlich!"
Der Chef schwitzte schon wieder. Man konnte den Eindruck gewinnen, er sähe sich bereits ohne Schutzbekleidung unterwegs auf der verseuchten Insel, um verlorene Schätze zu suchen.
Berteau versuchte ihn zu beruhigen: "Nun, wir wollen sicher kein unnötiges Risiko eingehen. Vorerst geht es auch nur darum, die Inseln aus der Entfernung zu observieren und festzustellen, ob sich dort irgendwelche Aktivitäten abspielen. Wenn wir richtig liegen und unsere Maßnahmen greifen, müßte das eigentlich in Kürze geschehen. Ich will nämlich nicht nur die Beute, so sie denn dort ist, sondern auch die, die den ganzen Ärger verursacht haben..
Dennoch kann es sein, daß wir die Ile oublieé untersuchen müssen, natürlich dann unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen.
Und es muß Vorsorge getroffen werden, um eventuell ein Boot abzufangen, das von der Insel die Küste zu erreichen sucht. Undenkbar, wenn unsere Banditen aus Unkenntnis der Gefahr oder Dummheit verseuchtes Material ans Festland bringen sollten. Frage: Ist es wohl möglich, die Küstenwache zu veranlassen, zwei schnelle Boote vorübergehend so zu stationieren, daß sie in St. Briac nicht auffallen, aber im Bedarfsfall die Insel schnell in die Zange nehmen können? Ich denke da zum Beispiel an St. Lunaire und le Guildo. Übrigens sollten die Boote mit der erforderlichen Schutzbekleidung für einen Inselbesuch ausgestattet sein."
Der Chef der Gendarmerie versprach, das nötige zu arrangieren, sichtlich froh, daß eine Untersuchung nicht seiner Dienststelle zugemutet werden sollte. Er war jedoch noch nicht aus dem Schneider.
"Ach ja," , fuhr Berteau fort, "ist eigentlich die Madonna von neulich noch in ihrem Gewahrsam? Sie sollte dringend in einem Labor auf Milzbranderreger untersucht werden. Und sollte der Befund positiv sein, empfehle ich dringend, all denjenigen, die die Figur mit bloßen Händen angefaßt haben, prophylaktisch einen Arzt aufzusuchen. Das gilt auch für den merkwürdigen Hehler, bei dem die Figur sichergestellt wurde. Ich glaube zwar nicht, daß eine unmittelbare Gefahr besteht, aber wir wollen doch keine Überraschungen erleben."
Der Gendarmerieleiter liess pfeifend Luft ab. "Gut, gut, ich kümmere mich darum. Was gedenken Sie zu unternehmen?"
Berteau rieb sich die Nase: "Nun, ich denke, ich werde mit Berger den aktiven Teil der Observation übernehmen. Wir werden uns mit Staffelei, Papier und Farben bewaffnen und den Punkt am Strand aufsuchen, von dem aus Guerinnes Photographie und des Wilden Bild entstanden sind. Dort werde ich den hingebungsvollen Landschaftsmaler mimen und ein paar Tage lang die Ile oublieé beobachten. Wir bleiben über mein Handy in Verbindung, und sollte es einen Einsatz geben, rufe ich ihn damit ab."
Während Berteau seinen Plan entwickelte, fingen der Uniformierte und Berger unisono an zu grinsen. Er mißverstand den Gesichtsausdruck seiner Gegenüber, glaubte, dieser bezöge sich auf seine Glaubwürdigkeit als Maler und reagierte empfindlich. "Was soll das Gefeixe?", fauchte er, " ich habe das schließlich mal studiert. Mag sein, daß ich etwas aus der Übung bin, aber zur Tarnung sollte es allemal noch reichen."
Berger bemühte sich, einen ernsten Gesichtsausdruck zurückzugewinnen und wiegelte ab:
"Ist ja gut, Monsieur le Commissaire, es sagt ja keiner was!"
Der Gendarmerieleiter grinste weiter, klärte Berteau jedoch nicht über den Grund seiner Heiterkeit auf.
*****
Den Rest des Vormittags verbrachten sie damit, sich für ihre Observation auszurüsten.
Der Kommissar lieh sich bei der Gendarmerie ein starkes Fernglas mit Stativ, dann erstand er in einem Trödelladen in der Stadt eine gebrauchte Staffelei, etwas Zeichenkohle und Papier, sowie einen Satz Aquarellfarben nebst Zubehör. Nachdem er die Absicht hatte, für die nächsten Tage den Beobachtungsposten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang einzunehmen, beauftragte er Berger, sich um die nötige Logistik zu kümmern.
Dieser organisierte einen Campingtisch, zwei Klapphocker und eine Kühlbox, desweiteren für den heutigen Tag Brot, Käse, Wurst, etwas Roastbeef, einige Flaschen Cidre und Bordeaux. Außerdem besorgte er eine lokale Ausgabe der Ouest France, da Berteau wissen wollte, ob Monpas Wort gehalten hatte.
Um die Mittagszeit hatten sie das Erforderliche zusammen. Berger, der bei längerer Zusammenarbeit mit dem Kommissar um seine Linie fürchtete, war dankbar, daß es dieser anstatt dem gewohnten ausgedehnten Mittagessen bei einem Imbiß in einem Fast-Food-Restaurant beließ.
Gegen dreizehn Uhr dreißig bezogen sie Stellung.
Die Bucht von St. Briac-sur-Mer ist ein schmales, tiefeigeschnittenes Gebilde, fast ähnlich einem Fjord .Eine scharfe Landspitze, gleich einem Kap, begrenzt die Bucht nach Norden zum Golf de St.Malo hin. Von ihr aus verläuft die Küste fast gradlinig ostwärts Richtung St. Lunaire, während sie sich auf der anderen Seite in fast südliche Richtung etwa fünf, sechs Kilometer in unsere gesuchte Bucht erstreckt. Gemessen an ihrer Länge ist diese mit vielleicht eineinhalb Kilometer recht schmal und wird auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls durch eine, allerdings weiter zurückliegende Landspitze begrenzt.
Der Ort St.Briac-sur-Mer liegt an der Ostseite etwa auf halber Länge der Bucht, deren landeinwärtsgerichtetes, hinteres Drittel durch eine Brücke abgeschnitten wird. Darüber führt die Straße von Ploubalay nach St.Briac.
Die Ile oublieé liegt etwa fünf Kilometer westlich des Kaps, eigentlich näher an der Spitze der Halbinsel von St. Jacut-de-la-Mer, und ist von dort aus sicher auch besser einzusehen. Aber es kam Berteau darauf an, möglichst dieselbe Perspektive zu finden, aus der der Photograph seine Aufnahme gemacht hatte.
An der Ostseite des Kaps fanden sie einen befestigten Parkplatz, von dem aus ein Trampelpfad durch die Klippen zur Wasserlinie hinabführte. Für Berteaus Zwecke war diese Stelle jedoch ungeeignet. So ließen sie den Wagen stehen und wanderten zu Fuß in Richtung St.Briac, immer hart an der Klippenkante entlang.
Nach gut einem halben Kilometer erreichten sie eine Stelle, an der die Felsen durch einen dünenartigen, steilabfallenden Hang abgelöst wurden. Nach Osten hin war jetzt das Sichtfeld durch einige Hügel begrenzt. Dahinter mußte eine Straße liegen, denn ab und zu drangen die Geräusche vorbeifahrender Autos zu ihnen. Im Süden war in einiger Entfernung die erhöht gelegene Kirche von St.Briac mit ihrem Kalvarienberg und einigen Häusern zu erkennen. Noch etwas weiter südlich spannte sich die Straßenbrücke über die Bucht. Im Westen war die Halbinsel von St. Jacut fast hinter die davorliegende, die Bucht begrenzende Landzunge zurückgetreten, und ihre sichtbaren Reste verschmolzen mit dieser zu einer optischen Einheit. Eine Handbreit rechts davon und scheinbar viel näher, als es sein konnte, erhob sich die Ile oublieé aus dem Wasser. Draußen auf dem Golf zog ein Containerfrachter seine Bahn entlang der Küste.
Sie verglichen Guerinnes Postkarte mit der Wirklichkeit, danach anhand der Zeitung -Monpas Artikel mit Vierfarbdruck-Bild von <la Tempête> war tatsächlich auch hier erschienen- Le Sauvages Werk auch mit der Natur. Sie mochten sich um hundert Meter hin oder her irren, aber sie waren sich sicher, die richtige Stelle gefunden zu haben. Le Breton hatte den Calva-rienberg in sein Gemälde aufgenommen, aber die Kirche und die Brücke unterschlagen. Guerinnes Blickwinkel, durch den seiner Kamera begrenzt, hatte beide Objekte nicht im Bild.
Der Kommissar, der auf ihre Wanderung das Fernglas samt Stativ mitgenommen hatte, ließ sich auf einem Felsblock nieder und begann, beides aufzubauen.
Er zeigte über die Schulter auf eine ausgefahrene Fahrspur, die sich zwischen den Hügeln verlor und wohl an der Straße enden mochte. "Nun, Monsieur Berger, ich denke, Sie sollten versuchen, den Wagen mit der Ausrüstung möglichst in die Nähehe heranzuholen und dann hier unser Camp aufzuschlagen."
"Immer auf die Kleinen", maulte dieser, sah aber ein, daß ein kleiner Erkundungsgang allemal besser war, als die gesamte Ausrüstung vom Parkplatz hierher zu tragen. Also zog er schmollend los.
Ehe Berteau das Fernglas fest auf die Ile oublieé einrichtete, musterte er mit dessen Hilfe die Umgebung. Eigentlich gab es nichts Bemerkenswertes zu sehen, hier mal ein Fischerboot, da mal ein Haus oder ein Auto. Lediglich auf der gegenüberliegenden Landzunge schien sich ein kleiner Campingplatz zu befinden. Er mußte zweimal hinsehen, ehe er es glaubte: Die Menschen, die sich zwischen den Zelten bewegten, schienen alle nackt zu sein.
"Na ja,", knurrte er, "wenn’s Spaß macht. Ich bin ja hier schließlich als Kriminalbeamter und nicht als Hüter der öffentlichen Moral."
Er fixierte das Fernglas auf die Insel. Die seitliche Abweichung vom Strand der Sonnenanbeter war dabei allerdings so gering, daß ein unbefangener Beobachter schon glauben mußte, sein Interesse gälte den Nudisten.
Die Ile oublieé erschien von seinem Standpunkt aus tatsächlich als eine einzelne Insel. Daß es in Wahrheit derer zwei sein sollten, war definitiv nicht zu erkennen. Sie mochte gut einen Kilometer lang sein, ein Haufen aus Felsen, wenig Grünfläche und, in den höhergelegenen Teilen mit etwas Wald.
Etwa in der Mitte des Berteau zugewandten Inselabschnittes waren am Strand einige Gebäudereste und eine Art Kaimauer erkennbar, wohl die Ruinen des Dorfes der ehemaligen Inselbevölkerung. Selbst auf diese Entfernung war die Gischt zu erkennen, die die Ile in der auflaufenden Flut umgab. Berteau glaubte, daß es besonderer navigatorischer Fähigkeiten bedurfte, den alten Hafen mit einem Boot heil zu erreichen.
*****
Eine halbe Stunde später holperte der Volvo von Berger gesteuert über denn alten Weg heran. Berteau packte seine Malerutensilien aus und baute die Staffelei auf, spannte den Zeichenkarton ein. Danach begann er mit Zeichenkohle in schnellen Strichen das Panorama zu skizzieren, wobei er sich bemühte, dem Arrangement le Sauvages möglichst nahe zu kommen. Danach griff er zum Pinsel, um dem Skizzierten Farbe zu verleihen.
Er arbeitete relativ langsam. Einerseits hatte er sich auf mehrere Beobachtungstage eingerichtet und keine Lust, aus diesem Motiv eine Serienproduktion herzustellen. Andererseits verbrachte er etliche Zeit damit, durchs Fernglas die Insel zu betrachten, weil er davon überzeugt war, daß sich auf ihr in Kürze irgendwelche Aktivitäten abspielen mußten.
Berger hatte mittlerweile das Picknick aufgebaut und eine Flasche Cidre geöffnet. Je nach Lust und Laune nahmen sie mal hier ein Häppchen und da ein Schlückchen. Berger sah Berteau zuerst interessiert, dann mehr und mehr gelangweilt, bei dessen Arbeit zu. Vom Sitz riß ihn diese eher statische Tätigkeit ja nicht gerade, insbesondere deshalb, weil der Kommissar allzuhäufige Beobachtungs- und Stärkungspausen einlegte.
Nach zweieinhalb Stunden hatte der Korporal die Nase voll. Er verzog sich in das Auto, schaltete das Radio ein, ließ den Liegesitz herunter und machte es sich bei geöffneter Wagentür bequem. Zu Lesen hatte er sich dummerweise nichts mitgenommen, so gedachte er den Rest des Tages einfach vor sich hindösend zu verbringen
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Eigentlich war das Nudistencamp so weit entfernt, daß man mit bloßem Auge kaum Einzelheiten auf Berteaus Strandseite erkennen konnte. Aber je mehr jetzt die Sonne nach Westen vorankam, desto deutlicher erzeugte sie auf der weißen Rückseite von Berteaus Zeichenkarton einen Lichtreflex, der sich deutlich von der blaugrauen Umgebung abhob und weithin in die Landschaft signalisierte: "Schaut her! Hier ist etwas, was eigentlich nicht hergehört!"
Kurz nach siebzehn Uhr wurde denn auch eine junge Frau im Zeltlager der Nackten auf den Reflex aufmerksam. Nachdem sie mit bloßem Auge nichts erkennen konnte, verschwand sie in einem Zelt und kam nach wenigen Augenblicken mit einem Fernglas, einem schweren Nachtglas, wie es Jäger zur Jagd verwenden, wieder zum Vorschein. Sie lief an den Rand des Camps und untersuchte mit dem Glas das gegenüberliegende Ufer.
Just in dem Moment, als sie Berteau ausfindig machte, beugte sich dieser über das Stativ, um seinerseits durchs Fernglas zu sehen. Die junge Frau hatte das Gefühl, als sähe er sie direkt an.
"Hey, Pierre," sie rief einen grauhaarigen, älteren, aber recht muskulösen Mann heran, "Du bist doch hier der Präsident, oder. Ich denke, Du solltest was unternehmen. Ich glaube, da drüben hat sich ein Spanner eingenistet!"
Sie gab ihm das Glas und erklärte, wo er hinsehen sollte. Er blickte hindurch und entdeckte Berteau, der seinerseits immer noch durch sein Fernglas spähte. Pierre hatte denselben Eindruck, wie die junge Frau. Er rief nun seinerseits zwei andere herbei und erklärte ihnen die Entdeckung.
Nach kurzer Zeit war eine ansehnliche Traube aus lauter Nackedeis versammelt, die erregt über die Unverschämtheit des Kerls auf der anderen Seite diskutierte.
Es mußte etwas unternommen werden! Pierre beschloß, mit zwei weiteren kräftigen Leuten hinüberzufahren, um den Kerl zur Rede zu stellen. Sie bekleideten sich mit Shorts und T-Shirts, und wenig später bog ein alter R4 mit jaulendem Motor auf die Straße nach St.Briac ein.
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Berteau legte eine Picknick-Pause ein. Er entkorkte genüßlich eine Flasche Bordeaux und betrachtete danach mißbilligend die Pappbecher, die Berger als Trinkgefäße organisiert hatte. Na ja, zur Not! Er brach sich ein Ende Baguette ab und häufte sich den Rest der Roastbeefs auf einen Teller. Auch Pappe, aber was wollte man bei einer derart improvisierten Aktion erwarten. Er lehnte sich zurück, um einen Schluck Wein zu genießen, das heißt er wollte sich zurücklehnen.
Im letzten Augenblick fiel ihm ein, daß er auf einem Klapphocker ohne Rückenlehne saß. Mit beiden Armen rudernd stabilisierte er sein ins Wanken geratene Gleichgewicht. Der Rotwein schwappte aus dem Becher und auf Berteaus Hose. Mit einem Fluch richtete sich der Kommissar auf und besah sich den Schaden. Berger war zwar außer Hörweite, dennoch ließ Berteau ein langes Lamento über die Unfähigkeit von Mitarbeitern vom Stapel, die nicht in der Lage waren, halbwegs betriebssicheres Arbeitsgerät zu beschaffen.
Derart mit sich selbst beschäftigt, entging ihm, daß hinter seinem Rücken drei Männer zwischen den Hügeln auftauchten und sich jetzt mit grimmiger Mine näherten. Berger im Wagen sah die Drei kommen und ahnte Unheil. So machte er sich im Auto ganz klein, um gegebenenfalls den Überraschungseffekt auf seiner Seite zu haben.
Die Männer bemerkten ihn nicht und marschierten mit energischem Schritt zu Berteaus Picknickidylle hinüber.
Die beiden Jüngeren bauten sich auf Armeslänge Abstand schräg links und rechts hinter dem Kommissar auf, während der Ältere um den Tisch herum ging und dicht an ihn herantrat. Der, immer noch mit seinem Mißgeschick beschäftigt, bemerkte den Anderen erst, als dessen Schatten auf das Roastbeef fiel, dem er eben wieder seine Aufmerksamkeit schenken wollte.
"Wunderschöner Tag heute, nicht wahr, Monsieur?", begann der Neuankömmling, aber sein Gesichtsausdruck deutete an, daß er nicht auf eine freundliche Unterhaltung aus war.
Berteau war verwirrt. Nicht nur, daß er die Ankunft des Andern nicht registriert hatte, er konnte sich auch auf die drohenden Körperhaltung des Mannes keinen Reim machen. "Äh, ja,", quetschte er heraus, "schöner Tag heute."
Der Andere nickte: " Und so hervorragende Aussicht von hier, nicht?"
Berteau musterte seinen Gesprächspartner abschätzend. Er war etwa einsachtzig groß, grauhaarig, nicht mehr der Jüngste, aber für sein Alter erstaunlich muskulös. Die nachlässige, nur aus Shorts und T-Shirt bestehende Kleidung und vor allem unfreundliche Haltung störten jedoch ziemlich.
Die Tatsache, daß der Graue Berteau abwechselnd links und rechts vielsagend über die Schulter blickte, ließ den Schluß zu, daß er nicht allein gekommen war. Wo, beim Teufel, war nur Berger abgeblieben? Der Kommissar entschied, es sei besser, den Anderen nicht zu provozieren.
Zögernd antwortete er: " Ja, beste Aussichten, Monsieur, äh.......". Er erwartete, daß der Graue sich vorstellen möge.
Der dachte jedoch nicht daran: "Ja, ausgezeichnete Aussicht! Besonders, wenn man sein Fernglas auf den Campingplatz auf der gegenüberliegenden Landzunge richtet, wo die ganzen Nackten sind, nicht?". Er griff über den Tisch nach Berteaus Jacke und zog diesen trotz seiner mehr als hundert Kilo mit erstaunlicher Leichtigkeit in die Höhe. Dabei warf er den Tisch um und Wurst, Käse und Roastbeef lagen im Sand. Der gute Bordeaux rann gluckernd aus der umgestoßenen Flasche und versickerte. "Nur daß wir von da drüben überhaupt keine Spanner leiden mögen!"
Berger fand, daß die Zeit gekommen war, seinem Chef beizustehen. Geräuschlos stieg er aus dem Wagen und näherte sich der Gruppe. Der Graue war so sehr auf Berteau fixiert, daß er die Annäherung des Korporals nicht bemerkte.
Berteau begann sich zu ärgern und lief rot an. Daß der Graue einem, aus seiner Sicht verständlichen, Mißverständnis aufsaß, konnte er noch begreifen. Daß er aber seine Mahlzeit ruiniert hatte, war entschieden zuviel. "Monsieur, Sie gehen zu weit,", giftete er, "und ich rate Ihren beiden Vögeln hinter mir dringend, sich die nächsten dreißig Sekunden nicht einzumischen."
Berger, der mittlerweile unbemerkt hinter den Begleitern des Grauen Aufstellung genommen hatte, mischte sich ein: "Ich denke auch, daß das besser ist! Nur zu, Commissaire, ich denke die Situation ist unter Kontrolle!"
Berteau nutzte die Verblüffung der Nudisten aus. Er trat dem Grauhaarigen nachdrücklich auf die nackten Zehen und befreite sich mit einem Judotrick aus dessen Griff. Er gab dem Angreifer einen Stoß, so daß dieser nach hinten auf das Gesäß fiel. Schnell drehte er sich nach den anderen um, doch diese zögerten. "Rühren Sie sich nicht!", fauchte er die beiden an, "mein Assistent ist bewaffnet und es könnte übel für Sie ausgehen!"
Die beiden nahmen eine stocksteife Haltung an und trauten sich nicht, sich vom Wahrheitsgehalt der Behauptung zu überzeugen.
Der Kommissar bückte sich nach dem umgeworfenen Tisch und richtete ihn auf. Mit traurigem Blick besah er die im Sand liegenden Reste seiner Mahlzeit. "Nun sehen Sie sich an, was Sie angerichtet haben, Sie unbeherrschter Choleriker!", fauchte er den Grauen an, "Monsieur, Sie haben die Höflichkeit unterlassen, Sich vorzustellen, aber ich will nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich bin Kommissar Berteau, Kripo Paris, und der junge Mann hinter Ihren beiden Totempfählen ist Korporal Berger von der Gendarmerie Lorient. Beide sind wir zur Zeit Mitglieder einer Sonderkommission der Kripo Lorient und hier mit einer Observation beschäftigt. Und jetzt haben Sie die Freundlichkeit, Sich selbst und ihre Begleiter vorzustellen, und mir in aller Ruhe zu erklären, was Sie von mir wollen!"
Er hielt dem Grauhaarigen, der sich jetzt mit schmerzverzerrtem Gesicht aufrappelte, seinen Dienstausweis unter die Nase. "Pierre,", stotterte der, "Pierre Deltompe, ich komme von dort drüben vom Nudistencamp und bin da so etwas wie der Präsident. Das da sind Andrê und Michel, Ihre Nachnamen kenne ich nicht, weil wir untereinander auf relative Anonymität achten. Sie verbringen das Wochenende auch dort drüben. Und Sie, Monsieur, halten wir ganz einfach für einen Spanner, weil Sie Ihr Fernglas, sogar mit Stativ, genau auf unser Camp gerichtet haben!"
Berger lachte schallend. Berteau drehte sich wütend zu ihm herum: "Sie Scheusal, Sie haben das gewußt und mir kein Wort davon erzählt, geben Sie es zu! Deswegen auch Ihr hämisches Grinsen heute früh in der Gendarmerie! Na gut, ich werde mich bei Gelegenheit zu revanchieren wissen!"
Berger gab sich keine Mühe, ernst zu werden: "OK, Monsieur le Commissaire, ich gebe zu, daß ich es gewußt habe. Aber Sie haben unsere Heiterkeit so gründlich in den falschen Hals bekommen, daß ich mir gedacht habe , ich sage besser nichts.
In der Tat kenne ich das Völkchen da drüben recht gut, da ich, wenn das Wetter gut ist und mir mein Job die Zeit dazu läßt, mit meiner Verlobten gelegentlich selbst da drüben bin. Ich bin sozusagen Clubmitglied." Er wandte sich an den Grauen: "Hallo, Pierre, es wundert mich, daß Du mich bisher nicht erkannt hast. Aber Leute in Arbeitskleidung erkennt man nicht immer so leicht, besonders, wenn die laufende Saison erst beginnt. Ich bin Albert, der Elsässer!"
Ein Schimmer des Erkennens glitt über Deltompes Gesicht. Er humpelte auf Berger zu, um ihn zu begrüßen. Die Situation begann, sich zu entspannen. Berteau schielte auf die nackten Füße des Grauen. Er war sich sicher, daß der malträtierte große Zeh des Präsidenten in Kürze anschwellen und morgen in allen Farben schillern würde.
"Gut, Monsieur Elsässer", rief er Berger zu, "wenn Sie die Herrschaften kennen, dann klären Sie sie mal auf, damit wir wieder an die Arbeit gehen können." Er suchte einen heilgebliebenen Becher und entkorkte eine neue Flasche Wein.
An Deltompe gewandt fügte er hinzu: "Wären Sie nicht wie ein Hurricane über unsere Idylle hereingebrochen, könnte ich Ihnen jetzt etwas anbieten, aber so......", er wies kopfschüttelnd auf das Chaos am Boden.
Berger kümmerte sich um die Drei vom Camp: "Michel, du bist im Moment besser zu Fuß, als Pierre. Geh doch mal hinüber zur Staffelei des Kommissars und schau durch das Fernglas. Berühre es aber nicht, damit Du nichts verstellst. Und danach erzähl uns, was Du gesehen hast."
Michel tat, wie ihm geheißen. Berger fischte aus den Trümmern des Picknicks die Ouest France. Sie war so gefaltet, daß die für Berteau interessanten Artikel samt Bildern obenauf waren.
Berger hielt Deltompe die Zeitung hin: "Und Ihr beide lest am Besten einmal diese Seite hier, das erspart einen großen Teil der Erklärungen. Das ist übrigens", er tippte auf die Kopfzeile der Zeitung, "die heutige Ouest France, Lokalausgabe St. Malo. Auch Naturapostel, wie Ihr, sollten gelegentlich etwas für ihre Bildung tun."
Die Beiden vertieften sich in die Zeitung. Zwischendurch kam Michel zurück und berichtete:
" Nun," sagte er, "das Fernglas ist im Moment auf die Insel eingerichtet. Keine Ahnung, was es da zu sehen geben soll. Und", fügte er zweifelnd hinzu, "eine winzige Korrektur nach links, und er hat uns voll im Visier."
Berger winkte ärgerlich ab: "Nehmt Euch doch nicht so wichtig! Wenn der Kommissar Nackte besichtigen wollte, könnte er das im Kino einfacher haben. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß Ihr immer wieder Ärger mit Spannern habt, aber in diesem Fall seid Ihr schief gewickelt".
Deltompe ließ die Zeitung sinken: "Das Einzige, was ich im Moment kapiere, ist, daß Ihr beide bei der Polizei seid und versucht, diese beiden Diebstahlserien aufzuklären. Was mir nicht in den Kopf will, ist, was Ihr ausgerechnet hier sucht."
Berger wurde ein wenig ungeduldig: "Pierre, wenn Du Dir Mühe gibst und einmal das Gemälde in der Zeitung mit dem Panorama vor Deiner Nase vergleichst, wirst Du feststellen, daß es sich mit ziemlicher Sicherheit um denselben Strandabschnitt handelt. Aus Gründen, die alle aufzuzählen hier zu weit führen würden, sind wir sicher, daß das Gemälde für uns so eine Art Tatzeuge ist, der beseitigt wurde.
Und wir sind überzeugt davon, daß sich die Kumpel des Heiligen Petrus von Ste. Anne-la-Palud samt dem Gemälde und einem halben Hundert anderer Kleinodien da draußen auf der Ile oubliée befinden und dringend auf Ihren Abtransport warten.
Wir denken, daß jener Artikel da die Spitzbuben nervös machen wird und sie versuchen werden, ihre Beute abzutransportieren. Und genau darauf warten wir."
"Und warum durchsucht Ihr die Insel nicht ganz einfach?" Deltompe sah Berger zweifelnd an.
"Pierre, Du weißt doch, was mit den Inseln los ist! Wir lieben das Leben zu sehr, als daß wir ein unnötiges Risiko eingehen wollen. Außerdem ist das", er zeigte mit dem Daumen auf den Kommissar, der, einen Becher Wein in der Hand, beleidigt vor sich hinbrütete, "höhere Kriminaltaktik. Wir wollen schließlich nicht nur unsere Heiligen wieder-, sondern auch die Teufelchen, die sich an ihnen vergriffen haben."
"Und was macht Euch so sicher, daß Ihr ausgerechnet hier Erfolg haben werdet?"
"Denk nach Pierre", Berger wurde ungeduldig, "unsere Banditen haben ihre Sore jeweils in kleinen Mengen in Sicherheit gebracht. Das hätte man vielleicht auch von einem der zahlreichen Fischerhäfen hier in der Gegend machen können. Aber es wäre sicher aufgefallen, wenn immer wieder mitten in der Nacht ein Boot klammheimlich beladen worden und ausgelaufen wäre..
Jetzt haben die Brüder das Problem, eine große Frachtmenge in kurzer Zeit bewegen zu müssen. Selbst wenn sie ihre Beute Stück für Stück in Kisten verpackt haben sollten, was wir nicht glauben, können sie diese ohne aufzufallen nicht in einem Hafen umschlagen. Welcher Fischer fängt schon eine größere Menge Kisten auf dem Meer? Nein, sie werden das wieder genau so klammheimlich versuchen, wie vorher. Und warum dann nicht hier, wo sie es doch offensichtlich jahrelang mit Erfolg praktiziert haben?"
Deltompe dachte nach. Aber er kam nicht zum selben Ergebnis wie Berger. "Monsieur le Commissaire, sie verschwenden ihre Zeit!", sagte er zu Berteau.
Berteau betrachtete ihn, als sähe er ihn zum Erstenmal: "Was führt Sie zu dieser Annahme?"
Deltompe hob anklagend die Hände zum Himmel: "Nun, wenn Albert mich in Ihrem Auftrag auffordert, meinen Kopf zu benutzen, dann tu ich das auch. Was erwarten Sie von Ihrer Diebesbande? Nehmen wir einmal an, die Expedition der Ware hat sich tatsächlich so abgespielt, wie es auf dem Gemälde dargestellt ist. Darauf wollen Sie doch hinaus, nicht?
Dann müßte das Boot da unten am Wasser gelegen und etwa hier, wo wir sind, ein Fahrzeug gestanden haben. Wie Sie bemerkt haben, haben wir Sie von unserem Camp aus entdeckt, und das, ohne daß Sie sich groß bewegt haben. Ein Boot da unten und mehrere Leute mehrmals den Hang rauf und runter, würde von uns aus bei Tag keine fünf Minuten unentdeckt bleiben.
Und auch bei Nacht geht das nicht ganz ohne Licht ab. Sie haben sicher bemerkt, daß wir neugierige Leute sind, nächtliche Lichtsignale hier an dieser Stelle würden uns dazu bewegen, nachzusehen.
Und dann setzen Sie sich mit ihrem Beobachtungsposten deutlich sichtbar genau an die Stelle, an der Sie das Anlanden der Gauner vermuten. Die werden nun doch sicher nicht hier vorbei kommen und höflich fragen: "Entschuldigung, Kommissar, dürfen wir mal mit unserer geklauten Ladung hier vorbei?"
Er nagte an der Unterlippe: "Dazu kommt, daß wir drüben im Camp um diese Jahreszeit einen häufigen Wechsel haben. Wir drei zum Beispiel sind nur übers Wochenende hier. Im Interesse des Camps möchte ich aber vermeiden, daß wir derartige Auftritte, wie den grade eben, öfters haben. Überhaupt, wie haben Sie sich das vorgestellt, wenn das von Ihnen erwartete Ereignis einige Tage auf sich warten läßt? Für eine nächtliche Strandbewachung sind Sie doch kaum ausgerüstet?"
Berteau betrachtete den Grauen mit offenem Mund. Bei Gott, der Mann hatte recht, sein Plan hatte Schwächen: "Nun, Monsieur Deltompe, nachdem Sie mir erklärt haben, was nicht geht, erweisen Sie mir noch einen zweiten Gefallen: Machen Sie sich unsere Hypothese zu eigen, daß das Diebesgut da draußen liegt und weg muß. Versetzen Sie sich mit Ihren Ortskenntnissen in die Lage der Gauner und sagen Sie mir, was geht. Und raten Sie mir, wie ich dem begegnen kann.!"
Deltompe setzte sich auf den Boden und malte mit den Fingern Linien in den Sand. Berteau konnte unschwer erkennen, daß er die Küstenlinie darstellte. Deutlich war die schmale Bucht von St. Briac mit ihren beiden begrenzenden Landzungen zu erkennen, daran anschließend die eher runde Bucht von Ploubalay und die Halbinsel von St. Jacud-de-la-Mer. Schließlich zog Pierre dort einen Kreis, wo die Ile oubliée liegen mußte.
Er deutete auf die Stelle, an der die beiden Beamten heute zuerst den Volvo geparkt hatten. "Ich weiß nicht, ob Sie ihn schon kennen, aber hier liegt ein an sich völlig nutzloser, aber befestigter Parkplatz. Nutzlos deshalb, weil man nur von drei oder vier Stellplätzen aus freien Blick auf das Meer hat, und damit ist er für einen herkömmlichen bretonischen Ausflug ans Meer völlig ungeeignet.
Tagsüber ist da oben fast nichts los und bei Nacht sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Aber es führt von dort ein Weg durch die Klippen zum Strand hinunter. Weiß der Teufel, wer den jemals benutzt. Die Stelle ist, wenn überhaupt, nur von der offenen See her einzusehen. Wenn ich eine Ladung löschen müßte, von der keiner etwas wissen darf, würde ich es dort tun.
Sie, Monsieur le Commissaire, können sich aber aus den schon genannten Gründen auch nicht dort auf die Lauer legen. Wenn von dort bei Tageslicht ein Boot Kurs auf die Ile nehmen würde, könnten Sie es zwar von Ihrem augenblicklichen Standort aus sehen, aber umgekehrt wäre das auch der Fall. Und selbst wir da drüben haben bemerkt, daß Sie mit einem Fernrohr die Gegend absuchen.
Was Sie tun könnten? Nun ich habe da eine Idee, aber die muß ich zuerst mit meinen Clubfreunden besprechen. Sie erlauben?"Er stemmte sich hoch und humpelte zu seinen Begleitern, die sich abseits mit Berger unterhielten. Dieser, nun als Clubmitglied akzeptiert, blieb wie selbstverständlich bei der folgenden Besprechung dabei und beteiligte sich an dieser. Zwischendurch lachte er schallend und schüttelte den Kopf.
Nach kurzer, lebhafter Diskussion kamen alle vier zu Berteau herüber. Deltombe rieb sich mit der Rückseite des Daumens an der Nase: "Monsieur le Commissaire, unser Freund Albert ist sich zwar sicher, daß Sie unser Angebot ausschlagen werden, aber ich möchte es Ihnen dennoch unterbreiten. Ich hoffe, damit einen Teil des angerichteten Schadens wieder gut zu machen." Er zeigte auf die dürftig zusammengerafften Picknickreste.
"Ich lade Sie ein, ihre Observationen von unserem Camp aus fortzusetzen. Ob sich auf der Ile oubliée etwas tut, können sie dort genauso gut beobachten, wie hier, und unter einer Ansammlung von fünfzig Leuten, die fast ständig da sind, fallen zwei mehr oder weniger nicht auf. Außerdem kann ich meinen Leuten sagen, daß sie ein Auge auf die Insel haben sollen, denn hundert Augen sehen mehr als vier.
Ich könnte Ihnen sogar ein leeres Zelt zur Verfügung stellen. Es gehört einem Vetter von mir, und der kann aus beruflichen Gründen mit seiner Familie erst Ende nächster Woche wieder hierherkommen.
Sie müßten allerdings...", er zögerte, "... ablegen. In gewisser Weise sind meine Freunde da drüben Fetischisten und dulden am Strand keinen mit Zweireiher und Krawatte."
Der Kommissar schnappte nach Luft und lief rot an. Berger prustete unterdrückt und wandte sich mit zuckenden Schultern ab.
Berteau warf ihm einen bösen Blick zu. "Ah, so, Freund Albert ist sich sicher, daß ich ablehnen werde, wie?", knurrte er, "Freund Albert kann es sich nicht vorstellen, daß sein fetter Kommissar seine zweihundert Pfund entblößt. Aber Albert täuscht sich, Armand Berteau nimmt auch die härtesten Prüfungen auf sich, wenn es die Taktik der Ermittlungen verlangt. Nun, Monsieur Pierre Deltompe, Kommissar Berteau aus Paris wird Ihr Angebot annehmen und mit in Ihr Camp kommen. Und damit er sich unter den ungewohnten Verhältnissen nicht daneben benimmt, wird er seinen Assistenten als Anstandsdame mitnehmen. Er scheint sich unter Sonnenanbetern ja bestens auszukennen!"
Jetzt war es an Berger einen roten Kopf zu bekommen. Er hob den rechten Arm halb, bog die Hand im rechten Winkel ab und schüttelte sie mit gespreizten Fingern. "Ui, ui, ui, wenn da mal bloß meine Braut nichts davon erfährt! Hätte mich mein Dienst bei Ihnen nicht davon abgehalten, wären wir übers Wochenende sicher hierhergefahren. Und jetzt sitzt sie in Lorient und dreht Däumchen und ich soll ohne sie ins Camp. Wenn das herauskommt, ist aber Feuer unter dem Dach."
Berteau blickte anklagend zum Himmel: " Na gut, dann bestellen Sie dieses geheimnisvolle Wesen, das Ihnen immer wieder den Blick fürs Wesentliche vernebelt, für morgen hierher. Sie wird ja schon irgendwie motorisiert sein, oder? Die Dame soll sich aber ein eigenes Zelt mitbringen! Könnte sonst sein, daß Albert bei Ihr abgemeldet ist, wenn sie mit einem richtigen Mann unter einem Dach hausen muß!"
Der Korporal, normalerweise nicht auf den Mund gefallen, klappte jetzt denselben mehrmals stumm auf und zu, wie ein Goldfisch im Glas und wußte nicht, was er sagen sollte.
Berteau wandte sich an Deltompe. "Monsieur, Sie haben doch sicher einen Wagen in der Nähe? Dann werde ich jetzt mein Fernglas schnappen und gleich mit Ihnen mitkommen. Dieses Fragezeichen hier" , er zeigte auf Berger, "kann mittlerweile unser Lager abbrechen und dann mit dem Volvo nach St.Malo fahren, um dort die Gendarmerie über die veränderte Lage unterrichten"
Direkt an Bergers Adresse fuhr er fort: "Nachdem Sie mit solchen Unternehmungen ja Erfahrung haben, besorgen Sie alles, was zwei Mann für ein paar Tage Camping so brauchen. Ich denke, die Gendarmerie wird da mit den meisten Dingen aushelfen können.
Und sagen Sie im Hotel Bescheid. Nicht daß man uns dort in die Liste der Zechpreller aufnimmt. Allez, Monsieur Albert, wachen Sie auf, Ihr Alptraum ist Realität geworden !"
Der Mann, der Michel genannt wurde, hatte während Berteaus Rede unaufgefordert das Fernglas des Beamten samt Stativ geschnappt und es wie eine Axt geschultert. So machte sich der Kommissar mit den drei Sonnenanbetern auf den Weg. Sie ließen einen sprachlosen Berger zurück, der immer noch mit offenem Munde versuchte, zu begreifen, was soeben geschehen war.
*****
Auf dem Weg zum Wagen seiner neuen Bekannten interviewte Berteau Deltompe, den Wortführer der Nudisten
"Monsieur Pierre, ich habe das doch richtig mitbekommen, daß man sich in Ihren Kreisen mit den Vornamen anspricht. Ich heiße übrigens Armand. Wenn ich mich schon auf ein ungeplantes Abenteuer einlasse, so informiere ich mich doch gerne darüber, worauf ich mich einzustellen habe. Insbesondere dann, wenn es sich um eine Sache handelt, bei der ich bar jeder Erfahrung bin."
Deltompe zuckte mit den Schultern. " Nun, daß unsere Kolonie nirgendwo verzeichnet ist, mag unter anderem daran liegen, daß wir Nackten in der katholischen Bretagne nicht besonders wohlgelitten sind. Sie finden hier an der Nordküste keinen einzigen offiziellen textilfreien Strand.
Die älteren Bretonen schlagen beim bloßen Gedanken daran, daß jemand unbekleidet in der Gegend herumlaufen könnte, drei Kreuze, halten es für den Gipfel der Unmoral. Für den offiziellen Tourismus sind wir kein Thema, man hält uns für eher schädlich und fürchtet, wir könnten öffentliches Ärgernis erregen. Und das, obwohl die Touristen an den offiziellen Stränden oft und geduldet in einem Aufzug herumlaufen, der weiß Gott nicht als salonfähig zu bezeichnen ist."
Sie hatten den R4 Deltompes erreicht. Michel verstaute das Fernglas Berteaus, und die beiden Jüngeren quetschten sich in den Fond des Wagens. Deltompe setzte sich hinters Steuer und wies, nachdem Berteau einen winzigen Moment zögerte, einladend auf den Beifahrersitz.
"Keine Sorge, oh Amtsperson", sagte er und startete daß Fahrzeug, " man mag uns zwar nicht übermäßig, aber wir tun nichts ausdrücklich Verbotenes. Daß wir uns dort drüben ein Refugium schaffen konnten, ist auf eine Reihe von glücklichen Umständen zurückzuführen.
Zum Einen eignet sich unser Strandabschnitt wegen der starken Gezeitenströmungen absolut nicht als Badestrand für Normaltouristen, viel zu gefährlich! Selbst unsere mutigsten Freunde wagen sich nur zu bestimmten Zeiten ins Wasser und das nur in einem eng abgegrenzten Bezirk..
Für normale einheimische Strandbesucher ist unser Abschnitt auch uninteressant, denn es gibt oberhalb der Steilküste keine Parkmöglichkeiten, die einen Blick aufs Meer erlauben. Unser Camp unten am Strand ist also nur von See und wenigen Stellen von Land her einsehbar. Der Punkt, an dem wir Sie aufgegabelt haben, ist einer der wenigen. Und nachdem es leider immer wieder ein paar Perverse gibt, die sich ein Wochenendvergnügen daraus machen, aus sicherer Entfernung Nackte zu begaffen, müssen wir halt gelegentlich losziehen, um Spanner zu vertreiben."
Er sah Berteau entschuldigend von der Seite an, doch der machte nur eine wegwerfende Handbewegung. Der R4 quälte sich die steile Auffahrt zur Brücke über die Bucht hinauf.
"Unser Strandabschnitt hat zwei weitere, unüberbietbare Vorteile", fuhr Deltompe fort, "Der Eine ist, daß er, aus welchen Gründen auch immer, selbst bei Springflut nie überschwemmt wird. Lediglich wenn Sturmflut angesagt ist, ist es ratsam, das Camp vorübergehend zu räumen.
Der andere Vorteil ist, daß das Gelände vor Jahren von einem unserer Freunde aufgekauft worden ist, und wir damit unserem Freizeitvergnügen zwar ohne den Segen der Behörden, aber dafür mit der ausdrücklichen Billigung des Eigentümers nachgehen.
Nun, wir haben uns im Laufe der Jahre einigermaßen mit den Verhältnissen arrangiert. Unsere Saison geht, geeignetes Wetter vorausgesetzt, von Anfang Mai bis Ende September. Wir sind ein loser Zusammenschluß von Gleichgesinnten, also kein offizieller Verein mit Satzung und so. Daß man mich als eine Art Präsident akzeptiert, liegt daran, daß ich im normalen Leben hier in der Gegend einigen Einfluß habe, was natürlich praktisch ist, wenn es doch einmal zu Schwierigkeiten mit den Behörden kommen sollte.
Da wir kein richtiger Verein sind, sind auch unsere Regeln im Camp denkbar einfach:
Erstens: Sei textilfrei, wann immer Wetter und Temperatur das erlauben
Zweitens: Interessiere Dich nicht dafür, was die anderen Clubmitglieder im übrigen Leben treiben. Selbst, wenn Du einen kennst, behalte das für Dich.
Drittens: Bedenke, daß wir unsere Freizeit nicht auf einer Müllhalde verbringen wollen.
Viertens: Tu, was Dir Spaß macht, aber laß die Finger von den Frauen, es sei denn von deiner eigenen.
Fünftens: Es ist uns jeder willkommen, der bereit ist, sich an die Regeln eins bis vier zu halten."
Sie hatten die Bucht überquert und waren direkt nach der Brücke in einen Feldweg eingebogen, der parallel zur Küstenlinie nach Norden führte. Sie folgten dem Weg etwa einen Kilometer weit. Im Gegensatz zur gegenüberliegenden Seite gab es hier kaum Klippen. Statt dessen herrschten hügelige, salzgrasbewachsene Dünen vor, die sich zur Landseite sanft neigten, während sie zur Wasserlinie hin wie abgefressen wirkten.
Das Wasser war auf ihrem Weg tatsächlich nur von einigen wenigen Stellen aus zu sehen, und Berteau sah ein, daß sich dieser Küstenabschnitt nicht für einen Ausflug ans Meer eignete. Zumindest nicht für jemanden, der sein Auto als natürlich gewachsenes Körperteil betrachtete und es deshalb nicht verlassen konnte.
Am Ende der Landzunge breitete sich zwischen den Dünen eine einigermaßen ebene Wiese aus, auf der etwa zwanzig Pkw abgestellt waren. Deltompe bugsierte seinen R4 zu diesem Pulk hin und stellte den Motor ab.
"Ok, Monsieur Armand, ab hier geht es nur zu Fuß weiter. Keine Angst, es sind nur drei Minuten, da vorne", er zeigte auf einen Einschnitt zwischen den Dünen, "den Hang hinunter, und dann sind wir auch schon da. Haben Sie Verständnis dafür, wenn ich Sie bitte, zunächst hier zu warten, bis ich meinen Leuten die Situation erklärt habe. Ich fürchte, die Kannibalen unter uns haben bereits einen Kessel Wasser auf dem Feuer, um die eventuelle Jagdbeute zu kochen"
Berteau stemmte sich ächzend aus dem unbequemen Gefährt. Kannibalen, ha! Die Geschichte begann so langsam drollig zu werden. Zuerst machten diese Leute seine ursprünglichen Absichten zunichte, dann wollten sie ihm auch noch zumuten, hier in der Prärie zu warten, bis der Indianerstamm seinen Kriegsrat abgehalten hatte. Er verspürte plötzlich unbändige Lust nach einer Zigarette. Seit er mit diesem Fall beschäftigt war, hatte er sich das Rauchen verkniffen, ausgenommen der Besuch bei Maître Kergac natürlich. Die dort geklemmte Zigarettenschachtel lag allerdings immer noch im Handschuhfach des Volvo.
Von seinen Begleitern hatte bisher keiner geraucht, aber der schweigsame Andrê, -der Kerl hatte bisher noch nicht einmal den Mund aufgemacht-, hatte die typisch gelbverfärbten Finger eines starken Rauchers. So wagte der Kommissar den Versuch, diesen anzuschnorren. Tatsächlich zog der eine zerknautschte Packung filterlose Gauloises aus der Hosentasche, und Berteau bediente sich.
Er inhalierte tief und sah, an den R4 gelehnt, den Dreien nach, wie sie zwischen den Dünen verschwanden. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, und hätte er jetzt den Volvo zu seiner Verfügung gehabt, hätte er wohl die Unternehmung abgeblasen und sich eine neue Strategie ausgedacht.
Auf seine Art war Berteau einigermaßen prüde, und FKK-Anhänger hatte er bisher für mehr oder weniger harmlose Spinner gehalten, zu denen man nicht unbedingt gehören mußte. Normalerweise vermied er es sogar, eine gemischte Sauna aufzusuchen, weniger aus moralischen Gründen, sondern, weil er sich etwas wegen seiner Leibesfülle genierte. Er war Ästhet genug, um zu verstehen, daß eine Kunststudentin sich nicht gerade ihn als Aktmodell aussuchen würde.
Berteau ärgerte sich über sich selbst. Wenn er sich durch Bergers Gelächter nicht so hätte provozieren lassen, hätte es nicht zu dieser blöden Situation kommen müssen. Aber wenn er sich jetzt noch zu einem Rückzieher hinreißen lassen würde, wäre er für alle Zeiten blamiert gewesen.
Die Besprechung im Camp verlief wirklich flott. Berteau hatte kaum seine Kippe weggeworfen, da tauchte André wieder zwischen den Dünen auf und winkte ihm, zu kommen. Er setzte sich mit flauem Gefühl im Magen in Bewegung.
Die Dünen waren plötzlich zu Ende und gingen in einen fünf, sechs Meter hohen, fast senkrechten Hang über. Erst als Berteau die Kante erreicht hatte, sah er das Lager der Nudisten unter sich liegen.
Es mochten vielleicht zwei Dutzend Zelte sein, die sich da unten auf dem Strand verteilten, und der Platz war groß genug, um auch die doppelte Menge aufzunehmen. Links von seinem Standpunkt aus stand ein landwirtschaftlicher Anhänger mit einem vielleicht zweitausend Liter fassenden Tankaufsatz für Wasser. Der Himmel mochte wissen, wie es dem Besitzer gelungen war, diesen dorthin zu bugsieren. Von diesem Tank führte eine Schlauch-leitung hinunter in einen durch Sichtblenden abgeschirmten Bereich des Camps. Berteau nahm an, daß sich dort die Sanitäranlagen befinden mußten. Er schmunzelte. Na, wenigstens einen Teil des Lebens hatten die Sonnenanbeter privatisiert.
Im Zentrum des Lagers war das Begrüssungskomitee angetreten. Der Kommissar schätzte etwa fünfzig Personen beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen von fünf bis sechzig. Im ersten Moment war er verblüfft, denn die meisten der Gestalten waren mit Trainingsanzügen oder Bademänteln bekleidet. Zuviel der Ehre, dachte er sich, doch dann ließ ihn ein kühler Windzug von See her erschauern.
Er sah zuerst nach der schon recht tiefstehenden Sonne, dann auf die Uhr, dann schickte er einen dankbaren Blick zum Himmel. Glücklicherweise schienen die Nudisten doch nicht so wetterhart zu sein, wie er befürchtet hatte. Es war jetzt kurz nach neunzehn Uhr, und in gut einer Stunde würde die Abenddämmerung einsetzen. Und um diese Jahreszeit wurde es nun mal abends schnell kühl, zu kühl sogar für Naturapostel. Nun, das würde ihm ja eine Galgenfrist geben, ehe er selbst die Hüllen fallen ließ.
Er stieg den schmalen Pfad hinunter, der in mehreren Windungen zum Lager führte. Pierre Deltompe kam ihm einige Schritte entgegen, und Berteau bat ihm um eine Vorstellung im Schnelldurchgang. Unter Hinweis auf die fortgeschrittene Tageszeit wollte er sich noch mit dem neuen Gelände vertraut machen, ehe die Dunkelheit einsetzte.
Pierre kam dem Wunsch nach: "So, Leute, das ist also Armand. Wie ich Euch hoffentlich glaubhaft versichere, ein leibhaftiger Kriminalkommissar, und bedauerlicherweise nicht zu seinem Vergnügen hier, sondern im Dienst. In seiner Begleitung kommt in Kürze ein alter Bekannter, nämlich Albert, der Elsässer, von dem wir bisher nicht wußten, daß er bei der Polizei ist, und was wir nach dem Einsatz der beiden schnell wieder vergessen wollen. Sie werden uns für unbestimmte Zeit mit ihrem Besuch beehren. Ihr Interesse gilt allerdings nicht uns, sondern der Ile oubliée da draußen. Ich denke, nachdem Armand seine Augen nicht immer und überall haben kann, wird es durchaus in seinem Sinne sein, daß Ihr alle ein wenig darauf achtet, ob sich da draußen irgend etwas tut. Vielleicht verdienen wir uns alle einen Orden damit.
Belästigt mir also den Kommissar nicht mehr, als nötig, und wer etwas mit ihm zu schaffen hat, macht sich selbst mit ihm bekannt. Armand, mir bleibt für den Moment nur, Sie mit der wichtigsten Person des Lagers bekannt zu machen, meiner Frau Yvonne, die darauf besteht, Sie und Albert für heute abend zum Essen einzuladen, um den da drüben angerichteten Schaden wieder gut zu machen"
Yvonne erwies sich als gutmütiger, mütterlicher Frauentyp von unbestimmbarem Alter. Sie mochte einmal eine Schönheit gewesen sein, war aber jetzt doch etwas in die Breite gewachsen und knapp an die hundert Kilo wiegen. Berteau war beruhigt. Wenn Yvonne sich getraute, hier nackt herumzulaufen, dann würde er das auch riskieren können. Überhaupt registrierte er zufrieden, daß bei dem Nudistenvölkchen alle Gewichtsklassen vertreten waren.
Das zugewiesene Zelt erwies sich als komfortables Steilwandzelt mit zwei Schlafkabinen. Der Vorbau war mit stabilen Campingmöbeln sowie einer Kochausstattung eingerichtet. In einer der Schlafkabinen entdeckte Berteau eine stabile Campingliege, und er beschloß, diese für sich zu beschlagnahmen. Der Gedanke an eine auf dem Boden liegende Luftmatratze hatte ihm in der vergangenen Stunde einigen Kummer bereitet.
Er inspizierte das Lager auf der Suche nach einem geeigneten Beobachtungspunkt und fand, daß im Grunde jede Stelle geeignet war, von der aus die Sicht auf die Insel nicht verdeckt war. Wie er vermutet hatte, verbarg sich hinter der von oben entdeckten Sichtblende die Sanitäranlage des Lagers. Im "Waschraum" endete der Schlauch vom Tankwagen an einem Gestänge mit etlichen Wasserhähnen, das über einem großen Metalltrog angebracht war. Berteau drehte probehalber einen Hahn auf, und das Wasser schoß wegen des Gefälles mit erstaunlichem Druck aus der Leitung. Es war eiskalt. Berteau erschauerte. Ein Ersatz für eine heiße Dusche war das ja nicht gerade.
Die Toilettenanlage erwies sich als eine Art Zwölfzylinder. In einem aus Sichtblenden angelegten Karree von sechs mal sechs Metern waren ohne Trennwände reihum zwölf Chemietoiletten aufgebaut. Der Kommissar schmunzelte. Offensichtlich war es hier üblich, sein Geschäft in fröhlicher Runde zu erledigen. Er würde sich nach den Schichtplänen erkundigen müssen.
Berger erschien mit der Ausrüstung kurz vor dem Dunkelwerden. Er hatte Trainingsanzüge, Luftmatratzen, Schlafsäcke, Taschenlampen und eine Anzahl Handtücher aus Polizeibeständen organisiert, ferner aus dem Hotel Wasch- und Rasierzeug. Außerdem hatte er daran gedacht, die Verpflegungsvorräte zu erneuern. Sie richteten sich notdürftig ein und vertauschten ihre Straßenanzüge gegen die Trainingsanzüge.
Wenig später rief Madame Yvonne zum Essen. Berteau forderte Berger auf, das Handy einzustecken. Er wollte diesmal nicht derjenige sein, der mit einem Anruf zur unpassenden Zeit die Aufmerksamkeit auf sich zog.
Pierre hatte vor seinem Zelt einen Biertisch und zwei Bänke aufgebaut und das ganze mit einer Lichterkette eingerahmt, für die ein kleiner, geräuscharmer Generator den Strom lieferte. Berteau suchte sich einen Platz, von dem aus es möglich war, wenigstens die Richtung zur Ile oubliée im Auge zu behalten.
Yvonne erwies sich als eine hervorragende Köchin, und es war erstaunlich, wie sie mit der doch primitiven Kochstelle ein immerhin viergängiges Menü gezaubert hatte. Dabei entschuldigte sie sich tausend mal, daß sie unter den gegebenen Umständen nicht auch noch mit einem Kuchen oder wenigstens einer Guiche Lorraine auftischen konnte.
Berteau steuerte zum Essen drei Flaschen Beaujolais bei, die Berger glücklicherweise mitgebracht hatte. Dieser registrierte es grimmig. Er sah es kommen, morgen schon wieder Nachschub organisieren zu müssen.
Es wurde ein rundum gelungener Abend, und es war weit nach Mitternacht, als man sich in bester Stimmung trennte. Berteau schickte Berger in die Falle und übernahm bis vier Uhr früh die Beobachtung des Dunkels auf See. Pierre leistete ihm bis kurz nach zwei Gesellschaft, aber nach dem die Unterhaltung aus Müdigkeit und Langeweile immer spärlicher wurde, zog er sich zurück.