Donnerstag, 25. April
Kommissar Berteau wachte gegen sechs Uhr dreißig zum wiederholten Male in dieser Nacht auf und fühlte sich immer noch nicht besser. Sein Magen hatte zwar die gestrige Überlastung verdaut, dafür hatte er jetzt einen Brummschädel vom allzuvielen Calvados.
Er beschloß, die unerquickliche Nachtruhe zu beenden und erhob sich. Gegen seine Kopfschmerzen spülte er zwei Aspirin mit viel Wasser hinunter, ehe er sich an seine Morgentoilette machte.
Er verließ das Hotel gegen Sieben Uhr fünfzehn mit vergrämter Miene, da sich die Hotelküche außerstande sah, ihm um diese Zeit schon ein Frühstück zu bereiten. Immerhin hatte sich der Portier herabgelassen, ihm zu empfehlen, es in einer Boulangerie am Place Jules Ferry zu versuchen. Der Bäcker dort verkaufe neben frischen Croissants auch Kaffee an unverbesserliche Frühaufsteher. Er, der Portier, pflegte sich dort auch immer vor Beginn seiner Frühschicht zu verpflegen.
Das Commissariat Central in Lorient liegt am Quai de Rohan an der nördlichen Ecke des Bassin à flot, des inneren Hafenbeckens. Das Hotel Atlantique liegt am Quai des Indes, auf der anderen Seite des Hafenbeckens, dem Commissariat genau gegenüber.
Der Place Jules Ferry lag zwar weiter nördlich, nicht direkt an seinem Weg zum Commissariat, das er normalerweise über die Rue du Pont du Moutin erreichte, aber Berteau fand, etwas Bewegung an frischer Luft könne seinem angegriffenen Zustand nur förderlich sein. Zudem hatte er das dringende Bedürfnis, eine große Bol voll starkem, schwarzen Kaffee in sich hineinzugießen.
So marschierte er leicht fröstelnd durch die Tristesse der noch schlafenden Stadt. Obwohl es wider alle Wetterstatistik bereits den zweiten Sonnentag in Folge zu geben versprach, war Lorient um diese Tageszeit noch weit davon entfernt, zu erwachen. Mehr als eine Handvoll Menschen waren noch nicht unterwegs, und die Stadt wirkte irgendwie, wie ausgestorben.
Der Kommissar knurrte einige unfeine Bemerkungen zum Thema französische Lebensart vor sich hin. Dabei ignorierte er die Tatsache, daß er selbst normalerweise selten vor acht Uhr dreißig mobil war.
Der Place Jules Ferry ist im Grunde genommen ein riesiger Parkplatz, der sich nördlich an das Bassin à flot anschließt, also der Touristentreffpunkt Lorients schlechthin. Deshalb ist er umsäumt von allerlei Bistros, Cafés und Souvenierläden. Nur vereinzelt haben sich dazwischen Geschäfte mit Artikeln des täglichen Bedarfs halten können. Wo immer möglich, haben die meisten Kneipen und Cafés bei gutem Wetter ihren Betrieb nach draußen auf die Bürgersteige verlagert. Jetzt, am frühen Morgen, waren die Stühle und Tische noch von der Nacht her nachlässig zusammengeschoben. Vereinzelt waren unausgeschlafen wirkende Typen dabei, die Spuren des vergangenen Tags zu beseitigen.
Er fand die empfohlene Boulangerie, erstand zwei Croissants und eine Bol Café Noir und ließ sich mit Einverständnis des Bäckers an einem Tisch nieder, den dieser nebst einigen Stühlen vor seinem Geschäft aufgestellt hatte.
So wurde er Zeuge einer merkwürdigen Szene, die sich nur wenige Meter von ihm entfernt abspielte.
Zunächst schoß ein schwerer, goldmetallicfarbener Citroen mit quietschenden Reifen um die Ecke unten an der Rue Maître Esventin und umrundete dann mit stark überhöhter Geschwindigkeit den Place Jules Ferry . Berteau direkt gegenüber trat der Fahrer in die Bremsen und brachte den Schlitten zum Stehen, nicht ohne eine meterlange Bremsspur zu hinterlassen. Berteau bemerkte stirnrunzelnd auf dem rechten, vorderen Kotflügel des Wagens eine Art Stander mit einem phantasievollen Wappen.
Der Fahrer, ein hochgewachsener, schlanker Mann Ende dreißig, gekleidet in einen zerschlissenen Jeansanzug und mit schiefgelaufenen Sandalen , kam über die Straße herüber und hastete an Berteau vorbei in die Bäckerei.
Eine Minute später kam ein Streifenpolizist auf einem schweren Polizeimotorrad diagonal über den Place gefahren , hielt bei dem Citroen an, stellte sein Motorrad quer vor dem Auto ab und begann, umständlich Handschuhe und Helm abzulegen und Sie auf dem Tank seines Motorrades zu deponieren.
Danach holte er ein Notizbuch aus der Jacke und schickte sich an zu schreiben. Berteau erkannte den jungen Kollegen. Er hieß Berger und war ihm auf dem Commissariat durch seinen harten Elsässer Dialekt aufgefallen, der so überhaupt nicht in die Gegend passen wollte. Er gehörte zwar der Gendarmerie National an, die ihren Sitz am Boulevard Marechal Joffre hat, aber der Flic wurde desöfteren für Kurierdienste des Commissariats Central eingesetzt.
Mittlerweile war der Fahrer des Wagens wieder unter der Tür des Ladens erschienen und trug eine Tüte, aus der oben drei Baguettes herauslugten. "Merde", er fluchte wie ein korsischer Gassenjunge und rannte über die Straße, feuerte seine Tüte durch das geöffnete Fenster ins Wageninnere und begann einen heftigen Disput mit dem Polizisten. Dabei gestikulierte er, wie ein italienischer Papagalli, dem seine Tagesbraut wegzulaufen drohte.
"Eh, bien, haben Sie nichts Besseres zu tun, als unbescholtene Bürger mit Ihrer kleinlichen Rachsucht zu verfolgen? Wofür werden Sie eigentlich bezahlt? Das ist jetzt diese Woche schon das dritte Mal, daß Sie meine Kreise stören!"
Der Polizist schien ungerührt: "Ich werde genau dafür bezahlt, daß ich solchen Spinnern wie Ihnen die Flausen austreibe. Und irgendwie muß sich mein Einsatz für den Staat auch amortisieren!"
Er wies mit dem Kugelschreiber zuerst auf das Auto, dann auf ein Verkehrsschild am Straßenrand. "Erstens stehen Sie hier im Parkverbot, und das ist für heute noch lange nicht alles. Ich sage Ihnen, daß Ihnen das teuer zu stehen kommen wird." der junge Mann in Uniform hielt den Anderen am rechten Ärmel seiner Jeansjacke fest. Der wandte sich um, riß sich dann jedoch mit einem Schritt zur Seite los.
"Sie," korrigierte er giftig.
"Mich nicht, denn ich bin im Recht," belehrte ihn der junge Verkehrspolizist empört.
"Das heißt nicht Ihnen, sondern Sie. Das wird Sie teuer zu stehen kommen! Glauben Sie, daß Sie das noch einmal in Ihrem Leben in Ihren deutschen Krautkopf hineinbringen, Berger?"
Der Autofahrer hieb mit der flachen Hand auf den Sattel des Motorrads, worauf sich infolge der Erschütterung der Polizeihelm selbständig machte und zu Boden fiel.
Der Streifenpolizist ging einen Schritt zurück und grinste.
"Zweitens, Sie begehen gerade Sachbeschädigung an Staatseigentum. Ob Sie oder Ihnen bleibt sich doch ziemlich egal. Auf jeden Fall wird das teuer werden. Drittens, Sie haben eine rote Ampel überfahren, viertens, sich links eingeordnet und sind geradeaus gefahren, fünftens, haben Sie die zulässige Höchstgeschwindigkeit um vierzig km/h überschritten und das alles innerhalb der Ortschaft und von sieben Minuten."
Er entnahm aus seinem Buch eine Seite, faltete sie einmal längs zusammen und reichte sie mit spitzen Fingern seinem Gegenüber: "Und sechstens haben Sie dann noch einen Beamten im Dienst beleidigt. Sie wissen sehr wohl, daß deutscher Krautkopf in diesem Zusammenhang eine Beleidigung ist. Wenn, dann doch bitteschön Elsässer, von mir aus auch noch alemannischer, aber niemals nicht deutscher. Merken Sie sich das, Sie Möchtegern-Feudal-Aristokrat"
Berteau besah sich die Szene interessiert und überlegte ernsthaft, ob er nicht von Amts wegen eigentlich einschreiten müsse.
"Das mit der Beleidigung müßten Sie erst mal beweisen können. Ich streite alles ab und wir stehen Aussage gegen Aussage."
Der Streifenpolizist sah sich hilfesuchend nach Zeugen um, entdeckte den Kollegen vor der Boulangerie, der selbst im Sitzen noch seine Mitmenschen überragte und sah gelangweilt zur Seite.
"Dort drüben sitzt jemand beim Frühstück." erklärte er sanft und leise, aber so akzentuiert, daß es selbst der Kommissar auf der anderen Straßenseite hören konnte.
Sein Gegner lachte verächtlich.
"Meinen Sie vielleicht, daß jener Tourist da in einen Streit zwischen einem drittklassigen Streifenhörnchen und einem erstklassigen Mann der bretonischen Gesellschaft hineingezogen werden möchte?"
"Nun, ich denke, daß auch der Bäcker durch seine geöffnete Ladentür jedes Wort gehört haben dürfte."
"Sicher, und der würde einen Leidensgenossen, die wir Bretonen alle sind, nicht vor einem Krautjunker in die Pfanne hauen."
Der Kommissar fand es nun doch an der Zeit, steuernd einzugreifen. Er erhob sich halb aus seinem Sitz und rief mit dröhnendem Baß über die Straße: " Korporal, haben Sie etwa ein Problem?"
Der Uniformierte machte gegenüber seinem Widersacher eine knappe, spöttische Verbeugung, dann rief er zurück. "Non, Monsieur le Commisaire, nichts, was nicht mit den Mitteln der Gendarmerie zu lösen wäre!"
Der Andere zuckte zusammen, benutzte aber den Moment, den der Korporal abgelenkt war, um sich hinter das Steuer seines Fahrzeugs zu schwingen und den Motor zu starten. Er wendete das Fahrzeug rückwärtsstoßend und entschwand in die Richtung, aus der er gekommen war.
Der Streifenpolizist bückte sich nach seinem Helm und schickte sich an. ihn wieder aufzusetzen. Berteau winkte ihm mit der Rechten und rief: "Korporal, wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, würde ich Sie gerne etwas fragen!"
Der Uniformierte hob bestätigend den Arm und schob sein Motorrad über die Straße. Er stellte das Fahrzeug erneut ab und schickte sich an, sich stramm beim Ranghöheren zu melden.
Berteau winkte ab und bot dem Gendarmen einen Platz an. Nachdem er dessen sehnsüchtigen Blick auf den heißen Kaffee registrierte, fragte er: " Ich hoffe, Sie haben genügend Zeit, um mein karges Frühstück mit mir zu teilen?"
Er gab dem Bäcker, der neugierig die Nase aus der Tür steckte, einen Wink, jener verschwand und tauchte gleich darauf mit einem weiteren Gedeck aus Café und Croissants auf.
Berger nahm einen langen Schluck von dem heißen Gebräu. "Ah, das tut gut an so einem kühlen Morgen", seufzte er, "womit kann ich Ihnen dienen, Monsieur le Commissaire?"
Der Ältere zog streng die Stirn in Falten: " Ich will Sie nicht maßregeln, dazumal Sie mir ja nicht unterstehen. Aber das war ja gerade ziemlich starker Tobak, meinen Sie nicht? Und zwar von beiden Seiten!"
Der Gendarme richtete einen anklagenden Blick zum Himmel: " Ich bin ja schon froh, wenn die hohe Kriminalpolizei registriert, daß das Leben eines armen Gendarmen auch nicht immer das reine Zuckerschlecken ist." sagte er respektlos, " Dort, wo ich herstamme, gibt es das Sprichwort vom groben Keil, der auf einen groben Klotz gehört.
Gottseidank sind ja nicht alle unsere bretonischen Schäfchen so, wie dieser Hammel! Sollte mir jetzt aber jemand nachsagen, der da sei mein liebstes Schlachtopfer, so hat er unbestritten recht. Er macht es einem aber auch zu leicht, ein Haar in der Suppe zu finden. So kommen in einer guten Woche gut und gern ein halbes Dutzend Knöllchen zusammen!"
Berteaus Neugier war geweckt: "Wer ist der Verrückte denn. Nach Ihren Worten zu urteilen, wäre jeder andere doch schon lange seinen Führerschein los?"
Der Jüngere grinste breit: " Seine Scheindurchlaucht, Yves, genauer Yves-Jean-Marie, der jüngere Bruder des vierzehnten Comte de Kergac. Haben Sie nicht den bescheuerten Stander an dem Citroen gesehen? Sehr einflußreiche Familie, in grauer Vorzeit einmal Feudalherren über diesen Landstrich hier. Nun, was meine bretonischen Kollegen betrifft, so trauen sie sich nicht, hinzusehen, wenn einer der Familie Kergac über die Stränge haut.
Nur ich gelte in der Gendarmerie als der Großwildjäger, allerdings mehr als einer vom Format Don Quixotte. Den Führerschein des Herrn habe ich schon viermal sichergestellt, und viermal wurde er ihm von dem Präfekten mit dem Ausdruck des Bedauerns zwei Stunden später wieder ausgehändigt. So bleibt mir nichts anderes übrig, als mich an seinen beliebtesten Strecken auf die Lauer zu legen und regelmäßig Strafmandate zu verteilen"
Der Kommissar schüttelte den Kopf: " Wieso machen Sie das? Sie machen sich doch sicher nicht gerade beliebt, wenn Sie als Einziger gegen diese adelige Luftwurzel ankämpfen?"
"Na ja, jeder Mensch hat halt ein Hobby. Mein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn sagt mir, daß auch die Privilegierten gelegentlich auf die Gültigkeit der Spielregeln hingewiesen werden müssen. Im Grunde genommen, ist Yves de Kergac ja ganz in Ordnung, und solange er mit seinen Macken keinen Fremdschaden anrichtet, mag es ja dabei bleiben, daß die anderen wegsehen.
Was mich betrifft, so ist die Meinung der Kollegen geteilt. Den Einen ist es peinlich, daß ich mich immer wieder mit der gottgegebenen Autorität anlege, die Anderen hegen eine Art stiller Bewunderung ob der Tatsache, daß ich selbiges wage."
Berteau schmunzelte: "Und was sagt Ihr Chef dazu?"
"Berger, Sie werden es nie zu etwas bringen!", der Gendarm zuckte mit den Schultern, " dabei hat er recht, den mehr als vielleicht Sergeant ist für mich sowieso nicht drin. Für die Inspektorenlaufbahn fehlt mir in erster Linie das Bac.Also habe ich nur meine Schwiegermutter zu fürchten, und die kenne ich noch nicht!"
"Sind die Kergacs eigentlich alle so?", hakte Berteau nach, den die Familie nach seinem gestrigen Gespräch mit dem Mann aus Rennes langsam zu interessieren begann.
Berger schüttelte den Kopf, " Gottseidank nicht! Der Comte selber ist eher Ihr Typ, auch von der Statur her. Ein wenig aristokratisch-blassiert vielleicht, aber mit einer sozialen Macke ausgestattet. Das bringt ihm bei den kleinen Leuten hier viel Ansehen ein. Und aus der historischen Rolle der Familie heraus kann die Obrigkeit hier in der Gegend Verordnungen und Projekte nur dann durchsetzen, wenn der Comte sein Einverständnis signalisiert.
Die Comtesse, eine Bürgerliche aus Quimperlé,ist mit der Zurschaustellung adeliger Vornehmheit sichtlich bis zum Rand ihrer Kraft ausgelastet. Um selber Kinder zu kriegen reicht, da die Energie wohl nicht mehr aus, so daß der Comte dazu übergegangen ist, ein halbes Dutzend oder mehr zu adoptieren. Aber die sind glücklicherweise noch so klein, daß sie vorläufig nur die unmittelbare Umgebung ihrer Insel terrorisieren.
Der von gerade eben ist von Beruf Anwalt und Notar, wenn er ausnahmsweise mal arbeitet, was nicht oft und nur in Notzeiten vorkommt. Als Anwalt soll er gut sein, und selbst ich würde ihm bedenkenlos ein Mandat erteilen, so es denn nötig wäre. Er ist mit einer Deutschen verheiratet, und die soll ihn ziemlich gezähmt haben. Den Erzählungen nach zu urteilen, muß er früher eine der sieben ägyptischen Plagen gewesen sein, aber das war vor meiner Zeit."
Berteau begann sich für den jungen Mann zu interessieren. Der hatte einen ausgesprochenen Sinn für Fakten, auch wenn er, Berteau, im Moment noch nicht wußte, wo er sie einordnen sollte. Berger hatte ihm in den letzten zehn Minuten mehr Handfestes geliefert, als sein schundromanlesendes Faktotum Bonamy in zwei Wochen.
Dabei hatte er sogar sorgfältig drauf geachtet, nicht gleichzeitig zu kauen und zu sprechen.
"Gestatten Sie mir eine persönliche Frage? Was, beim Teufel, verschlägt einen hoffnungsvollen Elsässer, wie Sie, ausgerechnet in die Bretagne? Alle Leute, mit denen ich ein vernünftiges Gespräch führe, sind anscheinend nicht von hier!"
Berger schob die leere Bol von sich: " Eigentlich eine der normalsten Sachen der Welt. Ich war vierzehn, da haben meine Eltern hier eine Kneipe geerbt. Anstatt die zu verkaufen, haben sie es sich in den Kopf gesetzt, die Bretonen mit Elsässer Küche zu reformieren und schlagen sich damit mehr schlecht als recht durch. Wären hier nicht so viele deutsche Touristen und Matrosen, die gelegentlich annähernd heimische Küche und deutsches Bier zum Überleben brauchen, hätten meine Eltern schon lange dicht machen können. Schauen Sie doch mal vorbei. Das Lokal heißt "Eisbein mit Sauerkraut" und liegt am Fischereihafen, ein wahrer Anachronismus. Na ja, und ich friste seither mein Dasein als ethnische Minderheit"
Der Kommissar sah auf die Uhr. Sie hatten sich verplaudert. Er erhob sich, klemmte einen 50 FF-Schein unter seine Tasse. "Haben Sie eine bestimmte Runde zu machen, oder können Sie mich auf Ihrer Maschine zum Commissariat bringen?"
Berger machte sich fahrbereit. "Ohne Helm, Monsieur le Commisaire?" fragte er.
"Ach was", Berteau knurrte und schwang sich auf den Sozius, "sind wir nun die Polizei oder was?"
*****
Kasurintin le Breton erwachte davon, daß ihm die Sonne einen warmen Lichtstrahl durch das windschiefe Fenster seiner Hütte mitten ins Gesicht schickte. Er erhob sich ächzend, streifte Hose und Pullover über, griff nach einem alten, verbeulten Teekessel und trabte, begleitet von seinem Hund, zur Quelle. Dort trieb er sich mit einigen Händen voll kaltem Wasser den Schlaf aus dem Gesicht und füllte den Kessel.
Er wartete geduldig, bis die Dogge ihre morgendlichen Bedürfnisse erledigt hatte. Den Hund hielt er sich eigentlich nur, um sich unliebsame Zeitgenossen vom Leib zu halten. Doch trotz der furchteinflößenden Statur des Vierbeiners funktionierte das seit einiger Zeit nur unvollkommen.
Das Tier war jetzt mit zwölf Jahren schon etwas betagt, und mochte Fremde nicht mehr ohne Grund anknurren. Statt dessen entwickelte es die Tendenz, mit jedermann zu schmusen, was Uneingeweihten allerdings den Angstschweiß aus den Poren trieb. Außerdem war der Hund ohne Namen wie alle Hunde bestechlich, ein Umstand, den der weibliche Teil der menschlichen Nachbarschaft schnell herausgefunden hatte. So gab das Riesenvieh in aller Regel nicht einmal Laut, wenn sich jemand der Hütte näherte.
Das seltsame Duo machte sich auf den Rückweg zur Hütte. Der Maler inspizierte sein Vorratsregal, und stellte mit Bedauern fest, daß da außer einer angebrochenen Tüte Kaffemehl nichts mehr zu holen war. Also zündete er ein Holzfeuer im Herd an und brühte sich einen starken Café, den er andächtig schlürfte.
Danach begab er sich in sein Atelier, nahm das angefangene Duplikat der Strandszene von der Staffelei und fischte aus dem Stapel der unvollendeten Werke ein Frauenportrait, zu dessen Fertigstellung wohl noch zwei ,drei Sitzungen nötig waren.
Es zeigte Edith Leblanc, die Frau eines Bauern aus der Nachbarschaft, die ihm ab und zu ein paar Lebensmittel zusteckte, und der er als Ersatzleistung das Portrait versprochen hatte.
Le Breton befestigte demonstrativ das unfertige Bild auf der Staffelei. Er wußte, daß Edith sich gelegentlich, auch in seiner Abwesenheit, in seiner Hütte zu schaffen machte, sei es , um Ordnung zu schaffen, sei es , um sich vom Fortgang des Portraits zu überzeugen.
Er hoffte, sie würde den Wink verstehen, wenn sie wieder aufkreuzte.
Dann kramte er aus einer Mauernische, die er seinen "Tresor" nannte, einen 100 FF-Schein hervor. Es war sein Letzter.
"Komm Hund", sagte er, "gehen wir Einkaufen. Man kann ja nicht alles dem Zufall überlassen.
Der Hund erhob sich unwillig und trabte verdrossen hinter seinem Herrn her, der über die Felder den Weg nach Guidel eingeschlagen hatte.
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Als der Kommissar das winzige Vorzimmer zu seinem Büro betrat, war Inspektorenanwärter Bonamy, sein Assistent, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten schon da. Wie üblich ließ er blitzschnell ein Buch in seine Schreibtischschublade verschwinden und schob diese zu. Jedoch nicht schnell genug, als daß Berteau es nicht bemerkt hätte.
Bonamy sah ihn von unten her an, wie ein ertappter Primaner in Erwartung einer Strafarbeit.
Mit stiller Befriedigung betrachtete der Dicke das Veilchen über dem linken Auge seines Gehilfen. Es schillerte in allen Farben und würde Bonamy noch einige Tage daran erinnern, daß sein derzeitiger Chef es nicht mochte, wenn man an der Tür horchte.
Berteau knurrte. Er war sich im Klaren darüber, daß die Unarten seines Faktotums nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen war, daß er, der Chef, mit jenem eigentlich nichts zu tun haben wollte und ihn weitgehend ignorierte. Aber er hatte schnell erkannt, daß man ihm hier vorsätzlich einen unfähigen Hohlkopf zugeteilt hatte, mit dem niemand etwas zu schaffen haben wollte.
In Paris hätte man Bonamy schon lange gefeuert. Aber hier war er ein Neffe des Präfekten und somit unantastbar.
Der Kommissar ging um den Schreibtisch seines Adlatus herum und schob diesen mitsamt Stuhl unsanft beiseite. Dann zog er die Schublade auf, griff nach dem versteckten Buch und besah sich den Schutzumschlag. "In Ihrem Alter sollte man eigentlich über Alexandre Dumas und seine Musketiere hinaus sein", donnerte er, "ich sehe schon , ich muß Sie irgendwie beschäftigen."
Er dachte kurz nach: "Besorgen Sie mir eine gute Karte der Halbinsel. Ich lege Wert darauf, daß jedes Haus und jede Hütte darauf eingezeichnet ist. Also Maßstab nicht kleiner als eins zu hunderttausend. Und einen Satz Markierungsnadeln, mindestens vier Farben. Bringen Sie mir das alles in mein Bureau! Adieu, Monsieur Bonamy". Krachend schloß er die Tür zu seinem Raum hinter sich.
Er brauchte dringend einige Informationen von seiner vorgesetzten Dienststelle aus Paris. Er griff zum Telephon, benötigte aber drei Versuche, bis er Alphonse Leroux, seinen dortigen Präfekten, am Apparat hatte.
Leroux hatte eine unangenehm hohe Stimme, die an das Kläffen eines Zwergpudels erinnerte. Jetzt durchs Telephon wurde sie noch zusätzlich verzerrt. "Ah, Bonjour Armand", bellte er in die Sprechmuschel und Berteau verzog schmerzlich das Gesicht, " fein, daß man von Ihnen auch einmal etwas hört! Ihre Berichte in den letzten Tagen sind, gelinde gesagt, etwas dürftig", der Präfekt kicherte abgehackt.
Der Kommissar trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte: " Hören Sie, Alphonse, das mag daran liegen, daß ich Ihnen seit Ihrer merkwürdigen Nachricht keine Berichte mehr zugeschickt habe.", er schilderte in knappen Sätzen die Unerfreulichkeit seiner Arbeitsbedingungen und den nicht weniger unerfreulichen Stand der Ermittlungen.
Er schloß mit den Worten: "Und deshalb, Alphonse, auch wenn ich ahne, daß Sie es nicht tun werden, habe ich die geringe Hoffnung, Sie könnten mich hier wegholen und wieder in meiner gewohnten Umgebung einsetzen."
Leroux kicherte erneut: " Moment, Armand!" Berteau konnte ihn durch die Leitung mit irgendwelchen Papieren rascheln hören. Dann meldete er sich wieder: "Sie haben, wie fast immer, recht, ich werde Sie auf gar keinen Fall ablösen. Im Gegenteil, ich sehe mich gezwungen, Ihren Auftrag um eine Komponente zu erweitern. Ich denke, Sie ahnen schon, worum es geht, wenn Sie gelegentlich Zeitung lesen."
Berteau machte eine wegwerfende Handbewegung und war froh, daß der andere dies nicht sehen konnte: " Ich habe mir das abgewöhnt. Die örtlichen Medien gehen nicht gerade sanft mit mir um, und ich möchte keine Magengeschwüre bekommen. Sagen Sie nicht, daß es für Paris wichtig genug ist, mich hier festzunageln, weil irgend ein vertrockneter Marquis seinen historischen Spazierstock vermißt."
Der Mann in Paris gluckste vor Vergnügen. " Ich denke, Ihre Magengeschwüre kommen von allzuvielen Schrimps in fetter Mayonnaise, falls Ihre Schnellkompostieranlage überhaupt in der Lage ist, so was wie Geschwüre zu entwickeln. Aber im Ernst! Ich Sage nur Eines : Kirchenraub."
Der Dicke in Lorient strich sich pikiert über den Bauch: " Ich bin bar jeder Ahnung, berichten Sie".
Sein Vorgesetzter wurde knapp. " Fünf Kirchenraub-Fälle in zehn Tagen im äußersten Westen der Halbinsel, alles im Großraum Brest. In erster Linie Skulpturen und Altarsilber. Der Schaden ist beträchtlich. Bei Hehlern ist bisher nichts aufgetaucht, zumindest ist nichts bekannt. Aber das ist wahrscheinlich auch noch zu früh. Die Kollegen in Brest sind ratlos und haben hier um Unterstützung nachgesucht.
Ich konnte nicht umhin , ihnen zu erzählen, daß mein Mann für solche Fälle bereits in Lorient ist. Sie werden sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Vielleicht gibt es ja da eine Querverbindung mit Ihrem Fall."
Berteau gab sich noch nicht geschlagen: " Was hat Paris eigentlich für ein Interesse daran, wenn diese bretonischen Holzköpfe nicht auf ihre Wertsachen achtgeben können? Eh, Sie haben da in Ihrer letzten Nachricht einen politischen Hintergrund angedeutet! Wäre das nicht eine Angelegenheit der Surétée?"
Die Antwort aus Paris war niederschmetternd: "Die sind in der Geschichte auch involviert, haben aber nicht die nötigen Fachleute. Sagt Ihnen die Bezeichnung "Action Breton autonomique" etwas, auch besser bekannt als Druiden-Loge?"
Berteau dämmerte es: " Das sind doch diese militanten Spinner, die vor einiger Zeit einen Teil des Louvre gesprengt haben? Die am liebsten die Halbinsel vom Festland absägen und als autonomes Schiff im Atlantik treiben lassen würden? Was haben die mit hochgeistigen Kunsterzeugnissen zu tun?"
Leroux wurde fordernd: " Denken Sie doch mal nach. Nehmen Sie doch nur diesen unverschämten Artikel von vorgestern in der Ouest France, erzählen Sie mir nicht, Sie hätten das nicht gelesen. Nehmen wir einmal an, irgendwer provoziert diese Diebstähle und Raubzüge, die die örtlichen Behörden nicht lösen wollen oder können und der Zentralstaat, vertreten durch Sie kommt auch zu keinem Ergebnis. Dann könnten die Militanten auf die Idee kommen, die Geschichte für ihre Zwecke auszunutzen und Randale machen. So nach dem Motto, Paris hilft uns nicht, also helfen wir uns selber."
Berteau gab sich geschlagen: "Na gut, na gut, aber dann brauche ich hier mehr Kompetenzen. Sie müssen mich aus der Abhängigkeit des hiesigen Kripo-Chefs und des Präfekten lösen. Ich muß mich bewegen können, ohne dauernd einen einheimischen Aufpasser am Bein kleben zu haben. Und meine personelle Unterstützung muß ich mir aussuchen können. Diese Pflaume, die man mir hier zugewiesen hat, ist die heiße Luft nicht wert, in der sie getrocknet wurde.
Und ich brauche ein größeres Spesenkonto. Zum Beispiel für einen Mietwagen. Wenn ich mich auf die Fahrbereitschaft dieser Dienststelle hier verlassen muß, komme ich nie nach Brest!"
Sein Gesprächspartner räusperte sich, dann wies er den Kommissar an, sich ein paar Minuten zu gedulden. Leroux hatte einen jener neumodischen Telephonapparate, mit denen man den Gesprächspartner damit zeitweilig ausblenden konnte, indem man ihm Musik zuspielte. So hörte Berteau jetzt in endloser Wiederholung eine Synthesizerversion von "Pour Adeline".
Er legte den Hörer mit gequältem Gesichtsausdruck auf die Tischplatte, schaltete aber seinen Mithörlautsprecher ein, um nicht zu überhören, wenn sich sein Vorgesetzter wieder melden sollte.
Bonamy kam mit der gewünschten Karte. Auf Berteaus Anweisung hin entfernte er die Kunstdrucke von der Pinnwand und spannte umständlich die Karte auf. Das Telephon dudelte immer noch "Pour Adeline", so wies Berteau Bonamy an, zunächst alle Punkte auf der Karte rot zu markieren, wo die gestohlenen Bilder hingen, ehe sie verkauft wurden. Dann sollte er die Standorte der Galerien oder Makler mit blauen Nadeln markieren, bei denen die Bilder die Besitzer gewechselt hatten, und letztlich die Punkte grün, von denen sie verschwunden waren.
Das Telephon dudelte immer noch und Bonamy stand mit hochrotem Kopf hilflos vor der Karte. Es war, wie Berteau schon vermutet hatte. Bonamy kannte sich in seiner Heimat aus, wie eine Frau in ihrer Handtasche.
Präfekt Leroux meldete sich wieder über den Lautsprecher. Berteau war es diesmal egal, ob sein Assistent mithörte oder nicht, er gedachte sowieso, sich in Kürze von ihm zu trennen.
So ließ er den Lautsprecher eingeschaltet.
"Hören sie , Berteau, bei mir ist gerade Monsieur Papin vom Innenministerium. Daran können Sie erkennen, wie wichtig wir die Angelegenheit nehmen. Er ist mit allen Ihren Forderungen einverstanden. Sie haben alle Vollmachten.
Papin hängt bereits an der anderen Strippe, um meinen Kollegen in Lorient in den Hintern zu treten. Ich denke, Sie werden in Kürze von ihm hören. Kann ich sonst noch etwas für sie tun?"
Der Kommissar gab die Liste der Informationen durch, die er brauchte. Noch während er sprach, kam ihm die Idee, daß vor dem neuen Hintergrund sein gestriges Gespräch mit dem Kollegen aus Rennes eine Bedeutung haben könnte, und er erbat sich im Rahmen des Erlaubten nformationen über Moreau, insbesondere über die Umstände seiner Hinwegversetzung aus Lorient.
Bonamy bekam immer längere Ohren, und als Berteau sein Gespräch beendet hatte, war er mit dem Stecken der Markierungsnadeln noch immer nicht fertig. Berteau besah sich das unvollendete Werk, und die Zornesadern schwollen ihm.
" Nun hören Sie zu, Sie Pfadfinder von Gottes Gnaden", er zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Karte, " Sie haben es gehört, alle Vollmachten! Nun, Sie werden der Erste sein, der das Vergnügen hat, Sie zu spüren. Packen Sie Ihren Dumas und seine Musketiere und verschwinden Sie in der Asservatenkammer, wo Sie hingehören, Sie personifizierte Beamtenbeleidigung! Hinaus! Ich will Sie hier nicht mehr sehen!"
Die letzten Worte brüllte Berteau so heftig, daß Bonamy die Schachtel mit den Markierungsnadeln fallen ließ und wie der Blitz verschwand. "Und grüßen Sie Ihren Onkel, den Präfekten schön von mir!", der Kommissar schloß die Tür krachend. Jetzt war ihm wohler.
Der Dicke sah auf die Uhr, es war zehn Uhr dreißig. Konzentriert zählte er die Sekunden bis zu jenem Ereignis, das seiner Meinung nach gleich eintreten mußte.
Er kam bis zweiundvierzig, dann stürmte Hauptkommissar Lacroix, der Chef, in sein Bureau und schnaubte wie eine Dampflok nach strammer Bergfahrt. "Wie kommen Sie dazu, sich hier aufzuführen wie der Vizekönig von Marokko", bellte er, " Sie können sich doch nicht einfach über meine personellen Dispositionen hinwegsetzen. Das..."
Berteau schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab: " Doch, ich kann! Wenn Sie sich zwei Minuten mehr Zeit genommen hätten, und den Bericht Ihres Aufpassers bis zum Ende angehört hätten, dann wüßten Sie jetzt, daß ich kann. Und ich bin überzeugt davon, daß Ihnen der Präfekt in Kürze bestätigen wird, daß ich noch viel mehr kann", er konnte sich eine gewisse Häme in der Stimme nicht verkneifen.
Lacroix wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber wie das cholerischen Menschen so eigen ist, fehlte ihm vorerst die Luft dazu. So schnappte er mehrmals wie ein Karpfen im Aquarium, ehe er seine Stimme wiederfand. Dann war es jedoch zu spät.
Berteaus Telephon klingelte. Er nahm ab und meldete sich. Noch war der Lautsprecher nicht abgeschaltet, und so säuselte überlaut eine salbungsvolle Stimme durch den Raum, die Lacroix daran hinderte, sich zu äußern.
"Pompidou hier, der Präfekt", der Mann am anderen Ende der Leitung bemühte sich offensichtlich um ausgesuchte Höflichkeit, " Kommissar Berteau, ich habe gehört, Sie haben da gewisse Schwierigkeiten. Würden Sie die Freundlichkeit haben, gleich einmal bei mir vorbeizukommen, damit wir das besprechen können? Und seien Sie so nett, und bringen Sie Hauptkommissar Laqroix mit, ich kann ihn inseinem Bureau nicht erreichen?"
Berteau konnte es sich nicht verkneifen, den öligen Ton des Präfekten nachzuahmen. " Der Chef ist gerade bei mir, Monsieur le Préfet. Wir eilen und werden in wenigen Augenblicken bei Ihnen sein." Er unterbrach die Verbindung und deutete gegenüber Laqroix eine knappe Verbeugung an:
" Sie haben es gehört? S´il vous plait, grand-seigneur!", Er verließ das Zimmer, ohne dem anderen den Vortritt zu lassen, und dieser folgte ihm mit säuerlicher Mine.
*****
Kasurintin le Breton hatte seine kärglichen Einkäufe erledigt und war zu seiner Hütte zurückgekehrt. Zu seinem Bedauern stellte er fest, daß Madame Leblanc zwischenzeitlich nicht hiergewesen war oder seinen Hinweis nicht registriert hatte. Demonstrativ stellte er das Portrait jetzt vor die Hütte in die Sonne, so daß es auf größere Distanz zu erkennen sein mußte.
Er verstaute seine Einkäufe, Brot, etwas Käse, etwas Wurst und einige Tüten Halbfertiggerichte. Er mochte diese ja nicht besonders, aber ab und zu mußte der Mensch ja etwas Warmes essen.
Der Fleischer hatte ihm gratis eine große Plastiktüte mit Fleischabfällen für den Hund überlassen. Den größeren Teil davon füllte er in den Plastikeimer ab, den kleineren bekam der Hund als Tagesration .
Er fand einen Umschlag mit einer Notiz der Galeristin, die ihn darum bat, er möchte sich doch am Abend bei seiner Hütte aufhalten, sie wolle mit ihrem Mann zur Sichtung der Bilder für die Galerie kommen. " Bring ein großes Steak mit, Marie-Therese", seufzte Kasurintin vor sich hin und wollte den Umschlag schon zusammenknüllen und wegwerfen. Da entdeckte er im letzen Moment einen 500 FF-Schein, der klein zusammengefaltet darin versteckt war.
"Bingo" ,sagte er zu seinem Hund und hielt ihm die Banknote unter die Nase, " heute scheint ja ein richtiger Glückstag zu sein. Sieh an, da ist schon der erste Vorschuß. Das muß gefeiert werden."
Er kramte eine Flasche Calvados hervor und eine Packung Gitanes, die er sich vom Rest seiner morgendlichen Barschaft gekauft hatte. Er zog ein Stäbchen heraus und rauchte mit tiefen Zügen, nahm gelegentlich einen Schluck aus der Flasche. Der Hund sah ihn vorwurfsvoll an. Als le Breton ihm die Calvadosflasche unter die Nase hielt, drehte er angewidert den Kopf zur Seite und trollte sich.
Der Maler schnippte die Kippe weg und wandte sich seinem Atelier zu. Wenn Madame Le-blanc nicht auftauchen wollte, würde er an der Kopie seines Fischer-Schieben-Boot-ins-Was-ser-Schinkens weiterarbeiten. Schließlich war das Überleben für die nächsten Tage gesichert.
*****
Monsieur Pompidou, der Präfekt, gab sich so affektiert, daß Berteau ihn im Verdacht hatte, vom anderen Ufer zu sein. Überschwenglich bot er dem Mann aus Paris den bequemen Besuchersessel vor seinem Schreibtisch an, so daß Lacroix nur die Möglichkeit blieb, auf dem Armesünderstühlchen an der Scheibtischecke Platz zu nehmen. Überhaupt kam dieser nicht aus dem Staunen heraus.
In zwanzig Dienstjahren hatte er es noch nicht erlebt, daß Pompidou freiwillig aus der Vitrine hinter sich die Karaffe mit dem alten Cognac hervorholte und seinen Besuchern davon anbot.
Es war zweifellos ein edles Tröpfchen. Der Hauptkommissar registrierte stirnrunzelnd, daß ihm das am schlechtesten eingeschenkte Glas zugeschoben wurde.
" Mein lieber Berteau", Pompidou säuselte immer noch, obwohl man es ihm anmerkte , daß er sich zu derartiger Höflichkeit zwingen mußte, "ich habe gehört, daß Sie hier im Departement -hm- gewissen Unannehmlichkeiten hatten. Ich konnte ja nicht ahnen, welche Bedeutung man in Paris Ihrer Person und Ihrem Auftrag beimißt. Sie hätten mir aber auch einen Wink geben können". Er drohte schelmisch mit dem Finger.
Berteau war das Gehabe zuwider. Dem Präfekten klarmachen zu wollen, daß er selbst von der Wichtigkeit seines Auftrags erst seit einer Stunde wußte, hätte aber das Verschenken eines Vorteils bedeutet. So beugte er sich vor.
"Nun, Monsieur Pompidou", er vermied es bewußt , den anderen mit seinem Titel anzusprechen, " Monsieur Papin, mein alter Freund aus dem Innenministerium, hat Sie ja wohl inzwischen aufgeklärt. Lassen Sie uns also darüber beraten, wie wir unsere Zusammenarbeit verbessern können." Berteau kannte Papin überhaupt nicht persönlich, aber hier galt es das Wachs zu kneten, solange es weich war.
Der Präfekt verschluckte sich ums Haar an seinem Cognac. " Nun, lassen Sie hören, was Sie an uns für Forderungen haben?" Lacroix zupfte verstohlen an seinen Ohrläppchen. Irgend etwas mußte mit seinem Gehör nicht stimmen!
Berteau spreizte drei Finger seiner rechten Hand und zählte auf. " Zunächst sind es drei Dinge, die ich geklärt haben möchte: Erstens, machen Sie dem Chef hier und den anderen Abteilungsleitern klar, daß ich niemandem, außer mir selbst, verantwortlich bin, und daß ich mich in der gesamten Provinz bewegen kann, ohne mich bei irgendwem an- oder abmelden zu müssen. Zweitens, Monsieur Papin hat mich ermächtigt, jede beliebige materielle Unterstützung zu beanspruchen, die ich für nötig erachte. Deshalb werde ich mir noch heute, zwei a) auf Kosten des hiesigen Departements einen neutralen Mietwagen nehmen, weil ich es leid bin, mich ständig mit Ihrer Fahrbereitschaft herumzustreiten. Drittens, was für zweitens gesagt, gilt sinngemäß auch für personelle Unterstützung. Deshalb teile ich drei a) Ihnen mit, daß ich Ihren Aufpasser, Inspektorenanwärter Bonamy, vor einer halben Stunde in die Wüste geschickt habe.Punkt drei b) betrifft dessen Ersatz. Ich will Korporal Berger von der Gendarmerie haben"
Lacroix wollte protestieren, aber Berteau ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. " Ich weiß, Berger ist nur Gendarm und trägt aufgrund seines unermüdlichen Einsatzes gegen Verkehrssünder nicht unerheblich zum Budget des Departements bei. Aber er hat mehr Grips unter dem Fingernagel, als diese Pflaume Bonamy im Kopf. Wenn der nämlich eine Fliege verschluckt, dann hat er mehr Gehirn im Magen, als dort, wo es normale Menschen gewöhnlich haben". Er sah den Präfekten angriffslustig an, aber der vermied es, seinen Verwandten in dieser Situation zu verteidigen.
So fuhr der Kommissar fort: " Ich will Berger, und ich will ihn binnen einer Stunde auf meinem Büro. In Zivil!"
Berteau wartete eine halbe Minute ab, um das Gesagte auf seine Gesprächspartner wirken zu lassen. Als kein Protest mehr angemeldet wurde, erhob er sich. "Das war es fürs Erste. Guten Tag, Messieurs", dann ließ er die beiden ranghöheren Kollegen wie begossene Pudel zurück.
Berteau war erstaunt, als sich tatsächlich gegen zwölf Uhr Korporal Berger bei ihm meldete. Er hatte mit so prompter Bedienung eigentlich nicht gerechnet. Das Innenministerium mußte Präfekt Pompidou schon kräftig Feuer unter den Sitz gemacht haben.
Berger trug ein bedrucktes T-Shirt und Bermuda-Jeans. Wäre da nicht das deplaciert wirkende Schulterhalfter gewesen, - der Teufel mochte wissen, wo er das so schnell aufgetrieben hatte-, in dem jetzt seine Dienstwaffe steckte und das ihn optisch als Angehörigen des Hauses auswies, Berteau hätte ihn nicht auf Anhieb erkannt.
Der Korporal stand unter der Tür und machte ein unglückliches Gesicht. Berteau bat ihn herein und bot ihm einen Platz an: "Sie machen den Eindruck, wie ein Gemüsegärtner, dem es die Petersilie verhagelt hat. Erzählen Sie, wo drückt der Schuh?"
Berger war ehrlich und kam ohne Umschweife zur Sache: " Monsieur le Commissaire, es ist gleich ein ganzer Schuhladen, der mich drückt. Ich habe natürlich am Rande mitbekommen, unter welchen Umständen Sie Ihren Personalwechsel vorgenommen haben. Nicht, daß ich mich nicht geehrt fühlen würde, daß einmal ein Leitender Beamter auf mich aufmerksam wird. Aber dieser Einsatz ist auf Zeit angelegt, und ich fürchte, daß ich hinterher in der Gendarmerie einen schweren Stand haben werde. Ich bin zwar nicht karrieregeil, aber Pompidou gilt als ausgesprochen nachtragend."
Berteau war schon selbst auf den Gedanken gekommen, zögerte aber jetzt mit einer Antwort. "Gut, das war der rechte Schuh", sagte er statt dessen, " was steckt im linken?"
Berger zeigte auf sich selbst und umkreiste mit dem Finger sein neues Outfit. " Irgendwie fehlt mir meine blaue Uniform. Sie hat mir außerhalb des Hauses so was wie Halt und Autorität verschafft. Jetzt fühle ich mich ziemlich nackt. Ich kann mir noch nicht recht vorstellen, wie mir jemand die Rolle des Gendarmen im Auftrag der Kripo abnehmen sollte. Und zuletzt,....", er zögerte.
Berteau forderte ihn mit einer Handbewegung auf, weiterzusprechen.
" Zuletzt, Monsieur le Commissaire, haben Sie mich gerade heute auf dem falschen Fuß erwischt. Ich bin seit vier Uhr früh im Einsatz und hätte jetzt normalerweise Feierabend. Eigentlich sollte ich meinem alten Herrn in der Kneipe etwas zur Hand gehen. Und ich habe da auch noch eine Verabredung. Ich fürchte, ich werde meine zukünftige Schwiegermutter nie kennenlernen, wenn hier weiterhin solche spontane Entscheidungen über meine Person getroffen werden.."
Berteau schmunzelte: " Was Punkt eins betrifft, so verspreche ich Ihnen, am Ende unserer Zusammenarbeit nach einer akzeptablen Lösung zu suchen, aber ich kann Ihnen jetzt noch nicht sagen, wie die aussehen mag. Zu Punkt zwei denke ich, daß Sie sich schnell daran gewöhnen werden. Die Tatsache, daß wir keinen stumpfen Schichtdienst betreiben, hat Vorteile, die das Fehlen der Uniform ausgleicht. Und damit sind wir auch schon bei Punkt drei.
Ich habe für heute keine großen Ansprüche mehr an Sie. Wir haben ein paar Punkte zu besprechen, und dann müssen Sie mir als Ortskundiger behilflich sein, einen Mietwagen zu besorgen. "Er sah auf die Uhr "Die Besprechung können wir genau so gut beim Essen abhalten. Ich habe Hunger, denn seit unserer Frühstücksbegnung habe ich nichts mehr zu mir genommen.
Also zeigen Sie mir, wo "Eisbein mit Sauerkraut" ist, und wir setzen unsere Unterhaltung dort fort. Ach ja, noch was...."
Er zeigte auf Bergers Pistole: " Wenn Sie schon ständig damit herumlaufen müssen, dann ziehen Sie was über, was das Ding einigermaßen verdeckt. Das sieht ja bescheuert martialisch aus." Er lüftete sein Jackett, um seinem neuen Assistenten damit zu zeigen, daß er selbst unbewaffnet war. Berteau war tatsächlich die meiste Zeit ohne Waffe unterwegs. Ihm, der er selbst nur ein mäßiger Schütze war, erschien eine Pistole für den Benutzer gefährlicher, als für einen möglichen Gegner. Die Eigenheiten seines Geschäfts machten die Benutzung einer Waffe in aller Regel sowieso unnötig.
Berger zog jetzt eine Jeansjacke über und knöpfte sie zu. Er versprach, die Pistole bei nächster Gelegenheit auf der Waffenkammer zu deponieren.
Sie benutzten Bergers Privatwagen, einen betagten Renault R4, um zum Fischereihafen zu kommen. Berteau war trotz der Unbequemlichkeit des Gefährts dankbar dafür. Bei seinem Gewicht war für heute sein Bedarf an Fußmärschen gedeckt.
*****
Etwa zur selben Zeit tauchte bei einem Antiquitätenhändler im Zentrum von St.Malo an der Nordküste der Halbinsel ein verwegen aussehender junger Mann auf, der ein in einen alten Teppich gewickeltes Bündel bei sich trug.
Der Händler war in einschlägigen Kreisen dafür bekannt, daß er bei passender Gelegenheit auch Geschäfte jenseits der Legalität machte. So wunderte er sich nicht, daß sich das Bündel des jungen Mannes nach dem Auspacken als eine Madonna mit Kind herausstellte. Der Händler hatte aus den Medien Kenntnis von der jüngsten Kirchenraubserie. So fiel es ihm nicht schwer, die Madonna einem dieser Raubzüge zuzuordnen.
Zunächst machte er dem jungen Mann heftige Vorwürfe darüber, daß dieser es wagte, mit seiner Ware am hellichten Tage aufzukreuzen. Dann lehnte er den Ankauf der Figur erst einmal ab, hielt die Ware für zu heiß.
Doch der Anbieter machte ihn darauf aufmerksam, er , der Hehler sei ihm von früheren Geschäften her noch verpflichtet. Außerdem brauche er dringend Geld.
So übernahm der Händler die Figur zwar widerstrebend, doch weit unter Wert. Die Ware war ihm wirklich zu heiß. Ehe man das Stück anbieten konnte, mußte noch viel Gras wachsen.
Deshalb verschwand die Madonna auch vorerst ganz weit hinten im Lager unter allem möglichen Gerümpel.
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Das Lokal "Eisbein mit Sauerkraut" war trotz der Mittagszeit nur mäßig besucht, und Berteau teilte Bergers Einschätzung, daß es ohne einen regelmäßigen Schwung Touristen kaum überlebensfähig sein mochte. Bergers Eltern hatten sich bemüht, dem Restaurant möglichst viel Elsässer Ambiente zu verleihen, aber gerade dadurch wirkte es an seinem Standort etwas deplaciert.
Nichts desto Trotz war die Küche ausgezeichnet.
Der Kommissar, der eigentlich Fisch bevorzugte und eher der Nouvelle Cuisine zugetan war, konnte es sich dennoch nicht verkneifen, gelegentlich die eher deftige Elsässische Küche zu genießen. So vertilgte er neben einem Elsässischen Flammkuchen mit viel Speck und Zwiebeln ein Gericht mit dem eher deutsch klingenden Namen "Bäckaofe", das sich als eine Mischung aus Unmengen von Sauerkraut, vorwiegend Schweinefleisch und überbackenen Kartoffeln herausstellte. Dazu trank er deutsches Bier. Auf ein Dessert verzichtete er, da er sich nach dem Hauptgang bereits wohlgefüllt fühlte.
Berger hielt nur beim Flammkuchen mit und trank dazu ein Glas Weißwein. Er hatte schon vorher, als er Zuhause war, um sich umzuziehen, etwas gegessen. Er konnte es ja nicht ahnen, daß die erste Amtshandlung seines neuen Chefs die Ausforschung ortsansässiger Gastronomie sein würde.
Während des Essens gab Berteau seine Anweisungen: " Es kann sein, daß ich morgen etwas später ins Bureau komme. Auf meinem Schreibtisch liegt eine Liste der Bilderdiebstähle, mit denen ich ursprünglich befaßt war. Bonamy hätte diese Liste nach einem bestimmten System auf die Karte übertragen sollen, aber daraus wurde nichts mehr"
Er machte Berger klar, wie er Bonamys abgebrochene Arbeit beenden sollte und fügte hinzu: "Versuchen Sie mal, mit Ihrer Kenntnis der hiesigen Verhältnisse, ob Sie aus der geographischen Zuordnung so etwas wie ein System erkennen können.
Und dann noch etwas: Lassen Sie sich aus dem Archiv die Unterlagen über alle Kirchendiebstähle der letzten zehn Jahre heraussuchen. Am Interessantesten sind dabei Einbrüche, die offensichtlich irgendwelchen Serien zuzuordnen sind. Wenn Sie dazu kommen, können Sie auch diese Informationen auf die Karte übertragen, einschließlich der jüngsten Ereignisse auf diesen Gebiet. Und denken sie darüber nach, ob Sie da irgendwelche Auffälligkeiten erkennen können.
Zuletzt: Ich erwarte dringende Kurierpost aus Paris. Stellen Sie diese auf der Poststelle sicher, ehe sich allzu neugierige Kollegen damit befassen können."
Er beendete sein Mahl, schob den Teller von sich und ließ sich ein neues Bier bringen.
"Und jetzt brauche ich noch den Rat des Ortskundigen. Ich brauche einen Mietwagen, einen möglichst neutralen. Man hat mir den Rat gegeben, tunlichst nicht auf unsere Dienstfahrzeuge zurückzugreifen, weil die bekannt seien, wie bunte Hunde. Andererseits soll mich auch niemand mit einem Touristen verwechseln, also kein Auto mit "Avis" oder "Europcar"- Werbeaufdruck auf den Türen und mit Pariser Zulassung. Und zuverlässig sollte das Fahrzeug auch noch sein."
Korporal Berger zuckte mit den Schultern: "Nun, viel Auswahl lassen Sie mir da nicht. Ich schlage vor, Sie versuchen es bei der Garage von Yves-Marie le Breton an der Route National Nr.165 im Nordwesten der Stadt. Le Breton handelt eigentlich mit Gebrauchtfahrzeugen, hat aber gerüchteweise auch seine Finger in der Generalvertretung einer Deutschen Nobelkarosse hier am Ort.
Wenn er schon nicht verkaufen kann, vermietet er auch zur Not. Und, so sagt man, er besorgt Ihnen als fahrbaren Untersatz alles, was sie wollen. Seine Autos lassen optisch manchmal zu wünschen übrig, aber auf den technischen Zustand kann man sich verlassen. Er ist nämlich Ralley-Fahrer und der Präsident und der Champ des Racing-Teams Lorient. Diese Leute haben ja ein besonderes Verhältnis zur Technik."Berger grinste vergnügt." Aber daß Sie mir nicht nachher sagen, ich hätte Sie nicht gewarnt: Sich von le Breton ein Auto zu kaufen oder zu mieten, setzt jede Menge Mut voraus!"
Der dicke Mann aus Paris zog fragend die Brauen hoch: "Wieso denn das?"
"Le Breton läßt es sich nicht nehmen, jedem Kunden persönlich vorzuführen, was in seinen Autos steckt. Das heißt, er besteht auf eine Probefahrt mit ihm selbst am Steuer. Gegen seinen Fahrstil ist der des Yves de Kergac ein schwaches Säuseln im Wind."
Der Kommissar beglich seine Rechnung, gewitzt aus der Erfahrung des Vortags, mit Spesenquittung. "Na, so schlimm wird es schon nicht werden. Nun fragen Sie mal ihren Herrn Vater, ob er Sie noch so lange entbehren kann, wie Sie brauchen, um mich dahin zu bringen."
Berger lieferte seinen Vorgesetzten bei Le Bretons Garage ab, beobachtete die Verhandlung zwischen beiden aber, ehe er zurückfuhr. Berteau entschied sich nach einigem Hin und Her für einen schweren Volvo-Kombi. Dann kam trotz seines Protests der Zeitpunkt der unvermeidlichen Probefahrt. Als sie sich anschickten, in das Fahrzeug einzusteigen, rief Berger zu ihnen hinüber.
"Monsieur le Breton, im Moment bedaure ich, daß ich nicht im Dienst bin und nicht mein Polizeimotorrad zur Verfügung habe!" Dann schwang er sich in seinen R4 und fuhr von Dannen.
Der Garagenbesitzer schickte ihm mit drohend erhobener Faust einige Verwünschungen hinterher.
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Le Breton machte es für seine Verhältnisse gnädig. Unter Mißachtung aller Verkehrsregeln raste er fünfundvierzig Minuten kreuz und quer durch die Botanik rund um Lorient, und Berteau war nach kurzer Zeit bereits schweißgebadet. Die Tatsache, daß neben ihm auf dem Beifahrersitz ein leibhaftiger Kommissar saß, störte den Fahrer nicht im Mindesten.
Statt dessen führte er die ersten Minuten lauthals Klage über die, seiner Meinung nach, schlechten Sitten des Polizeikorporals Berger, der ihn an Strafmandaten mehr koste, als seine ganzen Geschäfte abwarfen. Überhaupt war der Autohändler während der ganzen Fahrt so mitteilsam, wie ein Coiffeur während der Produktion einer Dauerwelle. Er sprach ununterbrochen und ohne Punkt und Komma.
Berteau war viel zu sehr damit beschäftigt , sich krampfhaft irgendwo festzuhalten, als daß er in der Lage gewesen wäre, le Breton zu widersprechen oder gar seinen Redefluß zu stoppen. So gelangte der Fahnder ganz nebenbei an eine für ihn interessante Information, die ihm bei direkter Nachfrage vermutlich nicht so willig angeboten worden wäre.
Monsieur le Breton zeigte sich untröstlich, daß er ausgerechnet heute nicht ausreichend Zeit zur Verfügung hatte, um seinem Kunden die Vorzüge des von ihm gewählten Wagens zu demonstrieren. Aber er habe heute noch einen Termin. Er müsse mit seiner Frau, die in der Stadt eine Galerie betrieb, einen Maler aufsuchen, den seine Frau demnächst ausstellen wolle. Eigentlich halte er ja nichts von selbständigen Geschäftsfrauen, aber wenn diese ihr Seelenheil davon abhängig machen wollten, bliebe einem ja keine andre Wahl, als zuzustimmen. Da er seiner Frau die Galerie finanziere, wolle er natürlich an ihren Entscheidungen beteiligt sein. Sie mochte wohl etwas von Bildern verstehen, aber nichts von Geschäften. Und jetzt habe sie sich in den Kopf gesetzt, so einen spinnerten Maler aus der Gegend auszustellen, von dem noch keiner etwas gehört hätte. Dabei führe der denselben Familiennamen wie er, le Breton. Aber der Vorname! Wer, um Gottes Willen ,bestrafe denn seine Kinder diesem Jahrhundert damit, sie Kasurintin zu nennen?
Bei der Nennung des Namens Kasurintin le Breton klingelte es in Berteaus Gehirn. Das war doch einer der vielen Namen, die sein ehedem beliebtestes Jagdwild vor etlichen Jahren getragen hatte, und das nach einem mysteriösen Unfall in den Pyrenäen offiziell als tot galt. Er, Berteau, hatte schon immer geahnt, daß er irgendwann noch einmal auf den Fälscher stoßen würde.
Er ließ sich nichts anmerken und tat nichts, um le Bretons Redefluß zu stoppen. Er erhoffte so weitere verwertbare Informationen. Der geschilderte Lebensstil des Malers entsprach eigentlich so gar nicht dem des Kasurintins, den er gekannt hatte, aber das mochte eine perfekte Tarnung sein. Die Tatsache, daß eigentlich niemand den Wilden, wie sich sein Fahrer ausdrückte, kannte und daß er vor etwa vier Jahren hier aufgetaucht war und sich nun möglichst von allen Leuten fernhielt, sprach jedoch für einen Mann mit Vergangenheit.
Berteau war überzeugt, würde sich sein Verdacht bewahrheiten, so wäre der Maler kaum mit seinen derzeitigen Fällen in Verbindung zu bringen. Sein Kasurintin war ein genialer Fälscher, aber kein Dieb. Aber er glaubte, mit diesem noch ein Hühnchen rupfen zu müssen, und bechloß, ein Auge auf den Wilden zu werfen.
Als der Autohändler sich in der Demonstration seiner fahrerischen Fähigkeiten genug ausgetobt hatte und Berteau endlich das Fahrzeug übernehmen konnte, war er fix und fertig. Er verzichtete darauf, noch einmal das Commissariat aufzusuchen und fuhr direkt zu seinem Hotel. Dort marschierte er direkt in die Bar ,um seine Nerven mit einigen Cognacs zu beruhigen.
*****
Der Garagenbesitzer und die Galeristin fielen wie ein Herbststurm in der Abgeschiedenheit von le Sauvage ein. Madame hatte in Kenntnis der gastgeberischen Möglichkeiten des Malers alles für ein ausgiebiges Picknick eingepackt, insbesondere eine Batterie Bejaulais, dem man nachsagt, daß er Verhandlungen erheblich erleichtert.
Noch ehe der Maler protestieren konnte, waren vor seiner Hütte ein Klapptisch und einige Stühle aufgestellt, und die Galeristin schleppte aus dem Auto alles herbei, was Küche und Keller zu bieten hatten.
Monsieur seinerseits schien keine Zeit verlieren zu wollen. Er packte eine Anzahl von Akku-Leuchten aus, und begann das Atelier bis in den hintersten Winkel auszuleuchten. Er griff mal hier, mal da nach einem Bild, hob es hoch, nickte zustimmend und stellte es wieder ab. Von Kasurintin schien er zunächst keine Notiz zu nehmen.
Dieser hatte schnell eingesehen, daß er dem Autohändler seinen Willen lassen mußte. So nahm er mit dessen Frau an der gedeckten Tafel Platz und griff zu. Sie bemühten sich, die etwas schleppende Unterhaltung möglichst förmlich zu gestalten. Er nannte sie Madame, sie ihn Monsieur, und die Unterhaltung drehte sich zunächst um jene Allgemeinplätze, die man in der Gesellschaft als die "honneurs" bezeichnet.
Yves-Marie le Breton gesellte sich nach etwa zwanzig Minuten zu ihnen und entkorkte eine Flasche. Er setzte sich und folgte der Unterhaltung der Anderen einige Minuten schweigend.
Dann beugte er sich vor und ergriff das Wort:
"Kinder, nun laßt doch die Förmlichkeiten. Ich mag zwar nichts von Eurer Kunst verstehen, aber ich bin nicht dämlich. Marie-Thérèse kann furchtbar schlecht lügen, und ich weiß, daß Ihr euch seit Jahren kennt."
Er fixierte den Maler scharf: "Monsieur, ich bin Ihnen nicht gram darüber, daß Sie vor Jahren eine zeitlang mit meiner Frau geschlafen haben. Ich hätte im umgekehrten Fall sicher das Gleiche getan. Und letztlich habe ich ja doch gewonnen, nicht wahr, ma chérie?", er blickte seine Frau an.
Dieser war die Wendung der Unterhaltung sichtlich peinlich. Trotz ihres intensiven Makeups konnte man sehen, daß sie rot angelaufen war. Sie erhob sich und spielte etwas abseits mit dem Hund des Malers. Ihr Gemahl wandte sich wieder an diesen.
"Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, bin ich bereit mit Ihnen ein Geschäft zu machen. Denn abgesehen von persönlichen Empfindlichkeiten hat Eure damalige Affäre mir einen nicht unerheblichen finanziellen Verlust eingebracht. Und der ist noch nicht ganz wieder hereingewirtschaftet."
Er nahm einen langen Schluck Rotwein." Wie gesagt, ich verstehe nicht viel von Malerei", fuhr er fort, " aber ich habe einen Riecher für das, was sich verkaufen läßt. Im Gegensatz zu Marie-Thérèse, die zwar feinsinnig, aber eine lausige Geschäftsfrau ist. Nachdem sie aber mit meinem Geld wirtschaftet, muß ich gelegentlich schon darauf achten, daß sie auch etwas verkauft. Marie Thérèse sagte mir, daß das Zeug da", er deutete über die Schulter Richtung
Hütte, "teilweise von lausiger Qualität ist, aber ich bin sicher, mit der nötigen Strategie läßt es sich verkaufen. Und wenn es sich verkauft, Monsieur, dann helfen Sie immerhin mit, den mir vor fünf Jahren angerichteten Schaden zu begleichen."
Le Sauvage hätte dem anderen am Liebsten den Hals umgedreht. Doch so, wie sich die Dinge entwickelten, konnte er den Garagenbesitzer nicht einmal hinauswerfen, wollte er seine Ex-Geliebte vor Schaden bewahren.
"Nun, ich kenne die Hintergründe Ihres Handelns nicht", knurrte er, "aber ich glaube nicht, daß wir damit reich werden können." Er deutete auch auf die Hütte.
Der Händler zuckte mit den Schultern: "Nun, Monsieur, ich denke, Sie werden schon noch verstehen lernen. Kommen wir also zu den Modalitäten:
Dieser marokkanische Michelangelo, der bis jetzt bei Marie-Thérèse ausgestellt hat, baut derzeit seinen Krempel ab. Ich denke, wir nehmen alles, was Sie so zu bieten haben. Dieser Schinken mit dem Boot am Wasser wird das Zentrum der Ausstellung. Wenn es uns gelingt, den zu verkaufen, sollten die Kosten wieder drin sein.
Wir brauchen Zeit zum Rahmen und Dekorieren. Wenn wir Ihr Lager Mitte nächste Woche abholen lassen, kann in schätzungsweise drei Wochen die Vernissage sein. Dann ist Pfingsten und die ersten Touristenschwärme fallen über unser schönes Land her und sind hungrig nach möglichst teuren Souveniers. Wir brauchen auch einen kleinen Katalog! Am Besten wäre für die Titelseite ein Selbstportrait! Haben Sie nicht? Gut, dann brauchen wir wenigstens ein brauchbares Photo von Ihnen! Marie-Thérèse, holst Du mal bitte die Kamera aus dem Wagen?"
Der Wilde spürte, wie ihm die Situation entglitt. Mit Yves-Marie le Breton kam eine Dampfwalze auf ihn zu, vor der es kein Entrinnen gab. Er hatte Mühe, seinem Gegenüber klarzumachen, daß der über alles verfügen konnte, nur nicht über das Portrait von Madame Leblanc und eben jenem als Zentrum der Ausstellung gedachten "Schinkens"
Der Autohändler wollte zuerst das Argument der bereits bezahlten Auftragsarbeit nicht gelten lassen, wollte den Auftraggeber genannt haben, um jenem das Bild abzukaufen. Dann verblieb man so, daß der Wilde rechtzeitig zur Vernissage das Duplikat fertigstellen sollte, und daß das bereits fertige Bild wegen der identischen Größe zur Anpassung eines Rahmens für das andere mit der übrigen Ware zur Galerie geschafft werden sollte. Der Austausch würde dann kurz vor der Eröffnung der Ausstellung vorgenommen.
Was der Maler erlebte, war keine Verhandlung, es war ein Diktat. Er wollte seinen Geschäft-spartner möglichst schnell wieder loswerden, und so stimmte er dessen Forderung nach vierzig Prozent des Reinerlöses widerspruchslos zu. Als die beiden ihre mitgebrachten Utensilien zusammenpackten, atmete er erleichtert auf. Dabei registrierte er dankbar, daß sie die Reste des Picknicks und etliche volle Flaschen Wein zurückließen.
Er sah dem davonfahrenden Wagen lange nach. Marie-Thérèse mußte wohl einen schweren Stand gegenüber ihrem alles dominierenden Ehemann haben.
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Berteau benutzte mit Einverständnis der Hotelmanagerin das Minitel-Terminal des Hotels. Er hatte es eilig, aus den Archivdatenbänken des zentralen Fahndungscomputers in Paris einige Daten abzufragen.
Er kannte sich mit diesem neumodischen Zeugs nicht besonders gut aus, und er benötigte die Unterstützung der Managerin, um überhaupt an den Fahndungscomputer heranzukommen. Als dieser dann den Zugangscode zu den Datenbänken verlangte, mußte er die Dame bitten, vorübergehend den Raum zu verlasen. Die Managerin zog ein beleidigtes Gesicht und rauschte ab.
Der Kommissar war mit der Suchsystematik des Programms nicht vertraut, und er benötigte ein Dutzend Versuche, bis er die Informationen auf dem Bildschirm hatte, die er brauchte.
Kasurintin le Breton alias Hans Meier alias Francois le Brun alias Michel le Comte alias Emanuel de Brise, geboren 1948 in Guehenno/Bretagne
Soweit bekannt, keine Höhere Schulausbildung, kein Studium, unauffällig bis 1984
1984 :In Paris wird er unter dem Namen Emanuel de Brise verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich nicht nur die Mühe gemacht hat, die Werke sämtlicher Impressionisten zu kopieren, sondern auch noch als solche zu verkaufen.
1986: Kurz vor der Haftentlassung stellt die Polizei fest, daß der aus dem Verkehr gezogene Maler wieder gar fleißig an der Arbeit ist, diesmal allerdings in einer gemütlich eingerichteten, hellen Zelle. Den Vertrieb der Bilder hat diesmal der Gefängnisdirektor übernommen. Um einen Skandal zu vermeiden, reicht dieser um seine Pensionierung ein und die Angelegenheit wird vertuscht.
1987 Ausgerechnet wieder in Paris werden Bilder eines Gauguinschülers verkauft. Die Polizei entdeckt, daß dieser unter dem Namen Emanuelle de Brise auf Sizilien lebt und stellt einen Auslieferungsantrag, der jedoch abgelehnt wird, da die italienischen Kollegen die Meinung vertreten, man könne de Brise doch als Gauguinschüler an sehen, wenn auch als einen sehr späten. Erst später stellt sich heraus, daß der Name so falsch ist, wie die Bilder, die er verkauft.
1988 : Calvi/Korsika: Ein Mann mit dem klingenden Namen Hans Meier verkauft Bilder eines unbekannten Meisters aus dem sechzehnten Jahrhundert im Auftrag einer ungenannten Person des öffentlichen Lebens. Eine Expertise eines gewissen Kommissars Berteau, Kripo Paris, belegt, daß die Werke des alten Meisters höchstens sechs Wochen alt sind. Bis sich die korsischen Kollegen von dem französischen Polizisten überzeugen lassen, hat Hans Meier sein Bündel gepackt und ist aufs Festland verschwunden.
1989: In Lyon verkauft ein gewisser Michel le Comte bisher unbekannte Werke von Picasso und Kandinski. Die Werke waren so unbekannt, daß nicht einmal die genannten Künstler sie erkannt hätten, hätten sie denn die merkwürdige Ausstellung erlebt. Le Comte wird als Kasurintin le Breton identifiziert und entzieht sich der Festnahme durch eine überstürzte Abreise. Im selben Jahr verliert sich die Spur in den Pyrenäen. Fest steht, das le Breton nach einem wüsten Saufgelage einen ausländischen Sportwagen stahl und mit diesem ineine Schlucht in einen hochwasserführenden Fluß stürzte. Weder er selbst, noch seine Leiche tauchten wieder auf. Zwar wird er nie offiziell für tot erklärt, aber die Akte wird geschlossen.
Aus den zuletzt gespeicherten Vernehmungsprotokollen ging hervor, daß unter anderen auch eine gewisse Madame Marie-Thérèse le Breton, Galeristin aus Lorient/Bretagne befragt wurde, weil sie in den letzten Tagen vor dem Unfall mit dem Fälscher zusammengewesen war. Die Dame trauerte sehr, konnte aber zum Verbleib des Gesuchten nichts sagen, da sie zwei Tage vor dem Unfall abgereist war.
Bei früheren Sichtungen des Materials hatte Berteau wegen der Namensgleichheit die Dame für eine Verwandte, vielleicht sogar die Ehefrau gehalten. Aus seinen heutigen Erkenntnissen heraus mußte es sich wohl um eine Messalliance gehandelt haben.
Das Minitel verfügte zwar über einen Drucker und Berteau hätte sich das Material gerne ausgedruckt. Aber er wußte nicht, wie das Gerät zu bedienen war. So hinterließ er Leroux, seinem Präfekten, eine Nachricht in der Mailbox mit der Bitte, ihm die Akte zuzuschicken
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