Mittwoch, 24. April
Armand Berteau trat auf der Stelle. Das heißt, eigentlich saß er auf der Stelle, und das jetzt schon tagelang. Er saß, einem Buddah gleich, auf diesem altersschwachen Bürostuhl in einem Seitenflügel des Commissariats Central von Lorient, und jener, der Stuhl, drohte ächzend unter dem Schwergewicht nachzugeben.
Berteauīs Stimmung war so trist wie die Atmosphäre des Dienstzimmers, das der Chef der Kripo ihm zugewiesen hatte. Die Wände hatten wohl schon dreißig Jahre keinen neuen Farbanstrich erhalten, und im Mobiliar hörte man in ruhigen Momenten die Holzwürmer nagen. An den blinden Fensterscheiben hatte wohl schon eine Ewigkeit keine Putzfrau mehr ihr Werkzeug ausprobiert. Die Masse des Lichts im Raum wurde von einer nackten Glühbirne erzeugt, die von der Decke hing. Und das, obwohl draußen ausnahmsweise die Sonne schien. Davon überzeugte der scharf in den Scheibendreck gezeichnete Schatten einer über dem Fensterstock angebrachten Fahnenstange .
Berteau war nicht besonders anspruchsvoll. Als er vor drei Wochen aus Paris in die bretonische Provinz abkommandiert wurde, gedachte er eigentlich nicht, hier Wurzeln zu schlagen. Er sollte nach einigen verschwundenen Bildern alter Meister fahnden und hielt das zunächst für einen Auftrag der üblichen Routine. Deshalb hielt sich sein Protest über die zugemuteten Arbeitsbedingungen in Grenzen.
Es war nicht das erste mal in seiner Laufbahn, daß ihm ein scheinbar unlösbarer Fall unterkam. Er hatte schon vor einer Woche die Ermittlungen mit dem Vermerk "Unlösbar" abschließen wollen. Aber dann hatte man ihm von der Sureteé her angedeutet, hinter dem Fall stecke eine gewisse politische Brisanz, und er möge doch bitte Ergebnisse liefern.Der letzte Satz im entsprechenden Fax war fett und gesperrt gedruckt gewesen: UND WENN ES JAHRE DAUERT, ES MUSS ETWAS DABEI HERAUSKOMMEN !
Das klang fast nach Strafaktion! Dabei wußte Berteau nicht, womit er sich bei seinen Vorgesetzten unbeliebt gemacht haben könnte. Er begann insgeheim den Tag zu verwünschen, an dem er sich zu einer Polizeikarriere hatte überreden lassen. Eigentlich hatte er es ja nicht nötig gehabt, Beamter zu werden.
Er entstammte einer ehemals durchaus wohlhabenden Familie aus dem Burgundischen. Sein Vater betrieb mit Erfolg ein renommiertes Weingut an der Saonne. Sein Fehler war, daß er sich für ausgesprochen kunstsinnig und kunstverständig gehalten und wie besessen Gemälde gesammelt hatte. Das Geld dafür hatte er dem Weingut entnommen, was sich später rächen sollte.
Armand erhielt eine standesgemäße Schulausbildung in einem Schweizer Internat und studierte anschließend Kunst an der Sorbonne. Zwangsläufig entwickelte er das, was seinem Vater abging, nämlich einen ausgeprägten Kunstverstand. Als dann sein Vater starb und im Zuge der Erbschaftsangelegenheiten die Bilanzen auf den Tisch kamen, stellte sich heraus, daß das väterliche Weingut pleite und die als Sicherheit gedachte Gemäldesammlung nichts wert war. Lauter Schund und Kitsch und, wo wirklich Bilder von Wert vermutet wurden, entpuppten Sie sich zumeist als, teilweise sogar schlecht gemachte, Fälschungen.
Die Ereignisse führten dazu, daß Armand Berteau nie selbst bildender Künstler wurde. Statt dessen verlegte er sich auf die Karriere des Sachverständigen, dessen erste und bitterste Expertisen der Liquidation der eigenen Sammlung dienten. Seine Familie hatte insofern noch Glück, daß Sie aus dieser Geschichte zwar arm wie die Kirchenmäuse ,aber wenigstens ohne Schulden hervorging.
Berteau hatte sich danach einige Jahre als Sachverständiger durchgeschlagen und einen Namen gemacht. Seine Expertisen waren schon bald in der Fachwelt gefürchtet, und er stand in dem Ruf, ihm könne man bestimmt keinen Renoir für einen Kujau vormachen. Dazu entwickelte er ein Gespür für die Methoden und Wege des illegalen Kunsthandels. Nachdem es ihm gelungen war, als Amateur einige spektakulären Bilderdiebstähle aufzuklären und, vor allem, die Werke wieder aufzutreiben und ihren Besitzern zurückzugeben, erhielt er von einem Mäzen im Staats-dienst das Angebot, sich in den Polizeidienst übernehmen zu lassen.
Es war der Stachel der Schmach des selbst erlittenen Debakels, das Angebot anzunehmen. Er wollte sich revanchieren für die Pleite, die die Szene seiner Familie zugefügt hatte. So nahm er die Ungemach der Polizeiakademie auf sich und avancierte dank etlicher Erfolge in kürzester Zeit zum Kommissar mit eigenem Sub- Dezernat "Kunstraub/Kunstfälschungen"
Und jetzt saß er also seit drei Wochen abkommandiert in Lorient, knapp einhundert Kilometer von der Stelle entfernt, an der nach Meinung eines anständigen Franzosen die Welt zu Ende ist, und er hatte nicht den geringsten Fortschritt gemacht.
Der Fall war auch untypisch. Immer wieder, bisher in neun Fällen, verschwanden Alte Meister, meist aus gutgesicherten Depots, in denen Sie zum Transport nach Übersee bereitgestellt worden waren. Das wäre an sich so ungewöhnlich nicht gewesen. Der entscheidende Punkt war jedoch, daß die Bilder immer nach einem Verkauf an potente Ausländer und immer aus diesen Depots verschwanden, wo die Diebe ein erhebliches Risiko eingingen.
Dabei hätten Sie es, hätte ihre Aufmerksamkeit wirklich nur den Bildern gegolten, viel einfacher haben können. Die Bilder hingen vor dem Verkauf ausnahmslos weitgehend unge- und unversichert in mehr oder weniger herunter gekommenen Landgütern bretonischer Besitzer, meist verarmtem Landadel. Zwei davon, so hatte er recherchiert, hingen sogar in Kirchen, die Tag und Nacht offen standen und somit zu jeder Zeit für jedermann zugänglich waren.
Aber nein, trotz solcher Einladung an finsteres Gesindel verschwanden die Kunstwerke nie von ihrem angestammten Platz. Erst, nach, meistens, Notverkauf und dem Verbringen in die scheinbare Sicherheit durch den neuen Besitzer waren sie, schwupp und weg.
Das ging nun schon fast ein Jahr so, und die örtliche Polizei konnte oder wollte die Angelegenheit nicht aufklären. Ein zweiter Umstand irritierte Berteau: Zwar gab es immer wieder Kunstgegenstände, die auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Meistens hingen die dann in den gutgesicherten Kellern pychopatischer Sammler, denen es eine Befriedigung verschaffte, wenn nur sie und niemand sonst auf der Welt ein einzigartiges Kunstwerk betrachten konnten.
Aber die meisten Kunstgegenstände tauchten irgendwann, irgendwo wieder auf. Sei es, daß Sie auf dem internationalen Hehlermarkt angeboten wurden, sei es, daß sie Versicherungen gegen ein saftiges Lösegeld zurückkauften, sei es, daß die Diebe sie schlicht irgendwo stehen ließen, weil es zu riskant war, sie anzubieten.
Aber hier? Nichts!
Berteau saß wie eine fette Spinne in einem im laufe der Jahre gewobenen Informationsnetz, das von London bis Rom und von Berlin bis nach Paris reichte. Wäre eines der gesuchten Bilder irgendwo in Europa wieder aufgetaucht, er hätte davon erfahren. Natürlich gab es die Möglichkeit, daß die Sore nach Übersee außer Landes gebracht worden war, aber ein untrüglicher Sinn sagte ihm, daß dies hier nicht der Fall war.
Berteau wuchtete seine zweihundertzwanzig Pfund ächzend vom Stuhl hoch und ging zur gegenüberliegenden Wand. An einer Pinnwand hatte er neun billige Reproduktionen der Werke aufgespießt, nach denen er suchte. Er ließ den Blick über Sie wandern.
Gauguin Reigen bretonischer Mädchen
van Gogh Park in Paris
Rousseau Mühle
Degas Felsenriff
Renoir ein Mädchenportrait
Monet Seerosen
und zwei alte Gemälde aus dem 17. Jahrhundert von unbekannten, bretonischen Künstlern, eine Lesende und das typische Motiv eines Bootes, das bei Ebbe in einem Mündungsarm irgendeines bretonischen Flusses auf einer Schlammbank lag.
Er seufzte. Nicht nur, daß man ihm im Commissariat in Lorient bedeutet hatte, daß er nicht gerade willkommen war, man behinderte seine Arbeit durch jene Art von Entgegenkommen, die man heutzutage als Mobbing bezeichnete. Seinen Wünschen, so z.B. einem Dienstwagen zu seiner alleinigen Verfügung, legte man alle erdenkbaren bürokratischen Hemmnisse in den Weg. Dazu kam, daß man ihm gegen seinen Willen einen "Assistenten" zuteilte, den man ihm als kunstsinnigen Schöngeist angepriesen hatte. Berteau kam sehr schnell zu dem Ergebnis, daß Bonamy,so hieß der junge Mann, faul und unfähig war und seine Dienstzeit im Wesentlichen damit zubrachte, schwülstige Romane zu lesen.Er fühlte sich wohl als Märchenprinz der die arme Prinzessin vor dem bösen Räuber rettet. Ansonsten war Berteau davon überzeugt, daß die wichtigste Aufgabe seines Assistenten darin bestand , täglich den Chef penibel über seine Schritte zu unterrichten.
Ähnlich ging es ihm mit den Beteiligten an den Diebstählen. Die Vorbesitzer der gestohlenen Bilder gaben sich ihm gegenüber mürrisch und zugeknöpft, manche verweigerten jegliche Mitarbeit. Sie hatten ihren Preis erzielt, und alles andere war ihrer Meinung nach Sache der neuen Besitzer. Mögliche Zeugen zuckten auf seine Fragen nur mit den Schultern oder hielten ihn mit Belanglosigkeiten hin. Die neuen Besitzer und eigentlichen Geschädigten, soweit Sie im Lande weilten, gaben sich fürchterlich empört und aufgeregt und warfen ihm Untätigkeit vor.
Teilweise waren Sie auch bereits von einer Versicherung entschädigt worden und ihr Schmerz über den Verlust der Bilder hielt sich in Grenzen. Die Versicherung wiederum schien kein gesteigertes Interesse an der Wiederbeschaffung des Diebesguts zu haben.
Dazu kam, daß sich die heimische Presse, vorneweg der Kulturredakteur der Ouest France, auf ihn einschoß. Berteau nahm wieder Platz und las zum wiederholten Mal den hämischen Artikel, der ihm am Vormittag von irgend jemandem auf den Tisch gelegt worden war.
"Unsere Kultur, unsere bretonische Kultur, die seit Jahrzehnten, nein Jahrhunderten von der Regierung in Paris unterdrückt wird, droht , soweit in Ansätzen noch vorhanden, durch solche Verkäufe, vollends auszubluten. Es wird uns heute schon nachgesagt, daß wir Bauern ohnehin keine Kultur besäßen. Wir, die wir ohnmächtig mit ansehen mußten, wie aus unseren Kindern systematisch alles Bretonische herausgeprügelt wurde. Die wir selbst den schlimmsten Strafen ausgesetzt waren, wenn wir beispielsweise unsere eigene Muttersprache sprachen. Wir müssen ohnmächtig mitansehen, wie der verbleibende Rest unserer Kulturgüter ins Ausland verhökert
wird. Ohne Not trennen sich die heutigen Besitzer von ihren Kostbarkeiten nicht. Unsere Regierung, die ein Vorerwebsrecht besitzt, tut nichts zu deren Erhalt. Ich werde noch den Tag erleben, an dem unsere Kalvarienberge und Menhire nach Amerika verscherbelt werden.
Nicht genug damit! Neuerdings werden unsere Kulturgüter auch noch gestohlen! Ihre Spur verwischt wie ein Fußabdruck im Watt nach der Flut. Auf diese Art und Weise drohen Sie endgültig und unwiederbringlich verloren zu gehen.
Und unsere Polizei ? Was tut Sie , unsere glorreiche französische Polizei? Sie schickt uns gnädig aus Paris diesen Fleischberg von einem Spezialisten. Und was macht der? Er frißt, pardon, er speist sich durch die bretonische Gastronomie und droht demnächst zu platzen. Man gewinnt den Eindruck als wäre er der Spezialist des Guide Michelin und nicht der schönen Künste. Es werden Wetten angenommen, welcher Wert denn bei seiner Abreise größer sein wird, der der verfressenen Spesen oder der der wiederbeschaften Kunstgegenstände."
Berteau schnaubte gequält. Er zerknüllte die Zeitung und warf Sie zielsicher neben den Papierkorb. Auch das noch! Als einigermaßen ordentlicher Mensch konnte er es dabei nicht belassen. So schickte er sich an, um den Schreibtisch herumzugehen, und den angerichteten Schaden zu beheben.
Auf halbem Wege hörte er aus seinem Vorzimmer ein unterdrücktes Räuspern. Er hielt kurz inne, aber als weiter nichts geschah, setzte er seinen Weg fort. Nach drei Schritten ein erneutes Räuspern, eine erneute Stockung. Dann hatte er seinen Papierkorb erreicht und verbeugte sich tief vor ihm, um das fehlgeleitete Wurfgeschoß aufzunehmen und ordnungsgemäß zu entsorgen.
So kam es denn, daß der Besucher, der just in diesem Moment sein Bureau betrat, von Ihm zunächst nur seine gewaltige Kehrseite zu Gesicht bekam. Berteau registrierte den Ankömmling erst, als dieser ein glucksendes, unterdrücktes Lachen von sich gab und schoß empor.
" Wie kommen Sie denn hier herein?", fauchte er den unverhofften Besucher an.
Der grinste breit: " Monsieur Berteau? Entschuldigen Sie mein Eindringen. Ich hätte mich gerne anmelden lassen. Aber ihr Faktotum da draußen wird anscheinend gerade von Hedwig Courts-Mahler vergewaltigt. Ich glaube nicht, daß er mich überhaupt registriert hat."
Er griff in die Innentasche seines Mantels und hielt Berteau einen Dienstausweis unter die Nase: " Kommissar Moreau von der Mordkommission in Rennes!"
Berteau musterte seinen Gegenüber argwöhnisch. Durchschnittsgröße, Durchschnittsfigur, braun, buschige Augenbrauen und ein dünner Oberlippenbart, dazu auffallend gut gekleidet.
"Dandy", dachte er bei sich, "eitler Geck. So was hat mir jetzt gerade noch gefehlt!"
Laut jedoch sagte er: " Was führt Sie zu mir, MonSieur le Commisaire? Sind Sie sicher, daß meine hiesige Angelegenheit bereits ein Fall für die Mordkommission ist?". Er wies mit einer vagen Handbewegung auf den einzigen Besucherstuhl: "Nehmen Sie doch irgendwo Platz!"
Der Besucher zog den Stuhl heran und ließ sich umständlich nieder. "Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber mein Besuch ist rein privater Natur. Einerseits bin ich buchstäblich auf der Flucht. Ich habe ein paar freie Tage und mich von meiner Frau überreden lassen, den Kergacīs draußen in Fort Bloqué einen Besuch abzustatten. Nun gibt es allerdings zwischen dem jüngeren Kergac und mir , na, sagen wir mal eine gewisse Animosität, und da habe ich es vorgezogen, die Flucht zu ergreifen. Für uns beide ist kein Platz auf dem selben Quadratkilometer Welt"
Er hielt einen Moment inne. Berteau hakte nach: " Wenn Sie aber Polizeischutz beantragen wollen, sind Sie bei mir falsch. Da müssen Sie sich schon an den Chef oder noch besser an der Präfekten persönlich wenden."
Moreaus Schultern zuckten verdächtig. Er schmunzelte." So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Meine Frau wird bis etwa neunzehn Uhr bei den Kergacīs zu tun haben, und ich suche nach einer Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen. Und da trieb mich die bloße Neugier, zu sehen, wer denn derzeit in meine alte Hütte im Commissariat von Lorient verbannt worden ist. Immerhin," er wies auf die Pinnwand mit den Kunstdrucken, " immerhin haben Sie ja den Schuppen wenigstens teilweise renoviert. Letztlich wollte ich auch den Mann kennenlernen, der neuerdings meinen Platz in der Ouest France einnimmt."
Er zog aus der Manteltasche eben jene Ausgabe der Zeitung hervor, von der sich Berteau
gerade eben befreit hatte.
"Wenigstens haben Sie es ja bis auf die Kulturseite gebracht", schmunzelte Moreau, " ich stand immer nur auf der Seite der Subkultur, des gemeinen Polizeiberichtes."
Berteau kannte seinen Gegenüber dem Namen nach. Als er hier einzog hatte er noch selbst eine vergilbte Visitenkarte von der Tür entfernt, die auf den ehemaligen Inhaber dieser Suite hinwies. Dennoch kochte er innerlich. Am liebsten hätte er den ungebetenen Besucher hinausgeworfen. Aber jetzt hörte er aus dem Vorzimmer ein schabendes Geräusch und entschloß sich anders.
Er hielt sich ruheheischend den Zeigefinger an die Lippen und schlich sich an die Tür, horchte einen Moment und stieß diese dann abrupt auf. Die Tür öffnete sich nach außen, kam aber nach wenigen Zentimetern mit einem klatschenden Geräusch wieder zum Stillstand. Von draußen erklang ein unterdrückter Schmerzenslaut, dann öffnete sich die Tür weiter. Auf der anderen Seite stand Bonamy und hielt sich denn Kopf über dem linken Auge.
Berteau herrschte ihn an. " Besorgen Sie uns schleunigst zwei Café noir. Ich habe Besuch, wie Sie sicher schon festgestellt haben. Und verschütten Sie nicht wieder die Hälfte", und undeutlich brummend fügte er etwas hinzu, was wie "Sie Esel" klang.
Er zog die Tür wieder ins Schloß und wandte sich dem Mann aus Rennes zu. "So jetzt ist der wieder ein Weilchen beschäftigt. Der Café-Automat auf diesem Stockwerk ist außer Betrieb und die Kantine hat um diese Zeit geschlossen. Bin gespannt, wie er diese Aufgabe jetzt löst.!"
Er ließ sich wieder an seinem Schreibtisch nieder." Von wegen nicht registriert", grummelte er, "der Kerl hört selbst im Traum das Gras wachsen. Vermutlich hängt er bereits jetzt am Telephon und berichtet dem Chef von Ihrem Besuch."
" Haben Sie Probleme damit?" Moreau zog fragend die Augenbrauen zusammen.
Berteau wußte nicht warum, aber er mußte seinem Ärger einmal Luft machen. Und wenn er schon Dampf abließ, dann war der Bürovorgänger als Zuhörer genau so gut, wie jeder andere.
" Probleme, ja so könnte man das nennen. Probleme mit dem Fall! Probleme mit dem Chef und dem ganzen verflixten Commmissariat. Probleme mit dem dickköpfigen Volk hier. Ich kann Ihnen sagen, ich habe da einen Sch....auftrag angenommen.". In knappen Sätzen umriß er dem Kollegen den Stand der Dinge. Danach war ihm zunächst mal wohler.
Moreau hatte ihn nicht unterbrochen, wirkte aber nach wie vor amüsiert. " Ich verstehe Ihre Schwierigkeiten nur zu gut, waren sie bis vor kurzem doch auch die meinen. Aber, ohne Ihnen etwas zu unterstellen, es liegt an Ihnen, daß Sie hier nichts erreichen. Sie haben einen entscheidenden Fehler: Sie sind nicht von hier! Das ist so ziemlich das zweitschlimmste Vergehen, das man in der Bretagne begehen kann."
Berteau sah seinen Gegenüber an, als habe er ein krankes Kind vor sich. Moreau winkte beschwichtigend ab: "Ich mache ihnen einen Vorschlag: Davon, daß Sie hier Löcher in die Luft starren, lösen Sie den Fall in den nächsten drei, vier Stunden auch nicht. Gehen Sie mit mir ein wenig spazieren und vielleicht eine Kleinigkeit essen, verkürzen Sie mir also meine Wartezeit.
Ersatzweise verrate ich Ihnen einige Dinge, die Sie unbedingt wissen sollten, wollen Sie hier auch nur ein Bein an den Boden bekommen. Ich werde zwar damit Ihren Fall nicht lösen, aber Sie werden eventuell einige neue Denkansätze haben. Und, bewirkt es nichts, so haben wir wenigstens etwas für das leibliche Wohl getan."
Berteau begann, den Mann aus Rennes sympathisch zu finden. Nachdenklich betastete er seinen Bauch in der Magengegend. Moreau hatte recht. Ein Durchbruch in seinem Fall war in den nächsten Stunden nicht zu erwarten, allenfalls ein Magendurchbruch, wenn er nicht die fühlbaren Löcher in seinem Verdauungstrakt auffüllte. " Gut," sagte er, "fahren wir mit der Fähre rüber zur Ile de Croix , dort gibt es ein hervorragendes Fischrestaurant", er sprang auf, griff sich seinen Mantel vom Haken und stürmte zur Tür.
Er stieß dieselbe eben in jedem Moment auf, als auf der anderen Seite sein Assistent mit zwei Bechern Kaffe in den Händen mit den Ellbogen die Klinke herunterdrücken wollte. So machte der Arme an diesem Tag zum zweiten mal mit dem Türblatt Bekanntschaft. Der Kaffee verließ die Becher und landete mit elegantem Schwung auf seiner Hose.
" Passen Sie doch auf , Sie Tölpel", wurde er zu allem Überfluß von Berteau angeschnauzt, "mit dem Café können wir jetzt auch nichts mehr anfangen." Der Kommissar wies anklagend auf die Hose des Assistenten, " na ja, Monsieur Moreau, da bleibt uns keine andere Wahl, als uns außer Haus zu verköstigen."
Moreau betrachtete mitfühlend das Veilchen, das dem jungen Mann wohl von der ersten unsanften Berührung mit der Tür über dem linken Auge wuchs. "Mein Gott, was haben Sie denn mit Ihrem Auge gemacht", säuselte er, "das sollten Sie aber behandeln lassen. Gehen Sie doch gleich mal zu Dr. Lizeau in die Gerichtsmedizin, der soll sich das anschauen. Oder noch besser, lassen Sie sich gegenüber in der Boucherie ein dickes Steak auflegen."
Dann beeilte er sich, Berteau zu folgen, der mit dröhnendem Gelächter im Treppenhaus entschwand.
*****
Etwa zur selben Zeit saß ein Mann unbestimmbaren Alters einige Kilometer außerhalb Lorients auf den Klippen der Steilküste und betrachtete die auflaufende Flut. Er hatte eine handvoll flacher Steine gesammelt und warf nun diese in regelmäßigen Abständen flach ins Wasser. Jedes mal wenn es ihm gelang, trotz des Wellengangs einen Stein zum Springen zu bringen, glitt ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.
Er trug das dunkle Haar schulterlang in einer struppigen Frisur, die vermuten liess, daß ein Kamm nicht zu seinen meistgebrauchten Besitztümern gehörte. Ebenso struppig war auch der Vollbart, der von seinem Gesicht nicht viel mehr als seine auffallend wasserblauen Augen und die seitlich etwas verbogene Nase erkennen lies. Nur dem sehr aufmerksamen Betrachter mochte die haarfeine Narbe auffallen, die sich über den Nasenrücken zog und die wohl von einer kosmetischen Operation stammen mußte.
Ansonsten sah der Mann nicht so aus, als könne er sich eine kosmetische Operation leisten.. Er steckte in einem aus sehr grober und naturbelassener Wolle gestrickten Pullover und einer Jeans, die auch schon bessere Tage gesehen haben mochte. Diese war übersät von Farbklecksen aller Schattierungen, als wäre Sie dereinst das Kunstobjekt eines abstrakten Malers gewesen. Seine Füße waren nackt , und genießerisch lies er den wenigen Sand, der zwischen den Felsen seines Ausgucks zu finden war, durch die Zehen gleiten.
Le Sauvage, den Wilden nannten ihn die Leute in der Umgebung. Denjenigen, die ihn nicht so gut kannten, war er ein wenig unheimlich, und Sie mieden seine Umgebung. Die wenigen, die ihn kannten und um seine Identität wußten, hielten zu ihm und ihn über Wasser. So lebte er zwar unter primitiven Verhältnissen, aber ohne eigentliche materielle Not.
Er wohnte am Rand von Guidel Plage in einer halbverfallenen Hütte, die er für seine Bedürfnisse einigermaßen hergerichtet hatte., ohne Strom, ohne Wasseranschluß und vor allem ohne Telephon, wie er Wert darauf legte, es festzustellen.
Er war Maler. Dem genauen Betrachter seiner Bilder mochte hier und da der Ansatz einer genialen Begabung auffallen, aber was er insgesamt so malte, war nicht dazu angetan, Genialität vermuten zu lassen. Er produzierte billige, nachlässig dahingeschluderten Massenware, wie man Sie zu gewissen Zeiten für 100 oder 200 FF in Kaufhausketten angeboten bekam. Er produzierte auch nur so viel, wie zum Überleben unumgänglich notwendig war.
Überhaupt hatte er sein Geld noch nie mit hochklassigen Eigenprodukten verdient. Irgend wann hatte er herausgefunden, daß er mühelos den Stil renommierter Meister perfekt kopieren konnte. Und solche Kopien, versah man Sie mir der Signatur des echten Meisters, brachten viel mehr ein, als das Eigenprodukt eines relativ unbekannten, aber zeitgenössischen Malers.
Oh, ja, er war in Fachkreisen eine Berühmtheit gewesen, und, hätte er mit Geld umgehen können, wäre er bestimmt ein reicher Mann geworden. Er schätzte, daß in den Museen und Privatsammlungen Europas auch heute noch mindestens einhundert Renoirs, Gauguins, Van Goghs, Canalettos und Dürers hingen, die aus seiner Produktion stammten und die als Fälschungen nie erkannt worden waren.
Le Sauvage brummte vergnügt vor sich hin. Ja es war schon eine aufregende Sache gewesen, als Meister der Meisterfälscher aufzutreten und sich im Ruhm des anerkannten Täuschers zu sonnen. Und wäre da nicht irgendwann in Paris jener Polizist aufgetaucht, der von Kunst im Allgemeinen und von Malerei im Besonderen etwas verstand, hätte es ganz gerne so weitergehen können. Aber Berteau, so hieß jener Polizist, der ganz schnell Karriere machte und zum Kommissar avancierte, biß sich an ihm fest und verfolgte ihn, als habe er eine persönliche Fehde mit ihm auszutragen. Kurz, Berteau verdarb ihm damals gründlich den Spaß, und er verdankte ihm auch zwei Jahre im Knast.
Vor fünf Jahren kam dann auch noch eine unglückliche Weibergeschichte dazu, die ihn ziemlich mitgenommen hatte. Damals hatte er sich mit dem deutschen Allerweltsnamen Hans Meier geschmückt und als solcher eine gewisse Berühmtheit in der Fachhalbwelt erlangt. Weibergeschichte und Frust über Berteaus Erfolge führten dazu, daß besagter Hans Meier in den Pyrenäen mit besoffenem Kopf und gestohlenem Auto einen folgenschweren Unfall erlitt, als dessen Ergebnis er ziemlich entstellt war. Irgendwie gelang es ihm damals, die Unfallstelle zu verlassen und Hilfe zu finden. Als die Polizei das Unfallfahrzeug aus dem Fluß geborgen hatte, in den es gestürzt war, kam man zu dem Ergebnis, das Wasser habe die Leiche mitgerissen und Sie würde in den unwegsamen Bergen wohl nie gefunden werden.
Durch eine besondere Fügung geriet der Fälscher in der Folge an einen kosmetischen Chirurgen, selbst Mitglied der Kunsthalbwelt ,dem sein Name etwas sagte. Und so wurde aus ihm Le Sauvage , der Wilde, und der Fälscher tauchte ab. Die notwendige Gesichtskorrektur bezahlte er mit zwei bisher unbekannten Gauguins. Das waren im Grunde seine letzten professionellen Fälschungen. Das heißt, nicht ganz.
Er hatte, als er sich hier niedergelassen hatte, wieder auf seinen angestammten bürgerlichen Namen zurückgegriffen: "Kasurintin le Breton". Dadurch mußte wegen der Gesichtsveränderung auch sein Paß an die bestehenden Verhältnisse angepaßt werden. Er mußte also das Paßbild austauschen, konnte das aber schlecht ganz offiziell machen lassen. Also, der Paß war echt, das neue Bild auch, und der zugehörige Stempel sah zumindest so echt aus, daß es bisher niemand aufgefallen war.
Er wußte natürlich, daß er noch nicht quitt war mit dem Strafanspruch des Staates. Das lag schon allein daran, daß hin und wieder eines seiner noch im Umlauf befindlichen Falsifikate als solches erkannt und teilweise auch richtig ihm zugeordnet wurde. Würde ihn also jener Kommissar Berteau wider Erwarten aufspüren, käme er schon ziemlich in Beweisnot mit der Behauptung, die Anfertigung dieses oder jenes Werks läge bereits so weit zurück, daß es unter die Verjährung fiele. Außerdem hatte er sich in den letzten Monaten auf eine Sache eingelassen, die ziemlich jenseits der Legalitätsgrenze war.
Eigentlich fühlte er sich sicher. Dennoch war ihm nicht ganz wohl. Aus der Zeitung, die ihm von einer Nachbarin gelegentlich überlassen wurde, wußte er, daß sein Intimfeind Berteau derzeit keine zehn Kilometer von hier residierte.
Er stieß einen Pfiff aus, und zwischen den Felsen tauchte ein Hund auf, der ein Zwischending zwischen Stier und Dogge sein mußte und sich jetzt sabbernd zu ihm gesellte.
"Komm, Hund", sagte der Wilde, "wir haben noch einige Arbeit zu erledigen."
*****
Die beiden Kommissare waren einige Minuten schweigsam nebeneinander am inneren Hafenbecken entlang gegangen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Berteau hielt kurz inne, sah den anderen an und brach das Schweigen: " Nun ,Monsieur Moreau, fangen Sie an!"
Der Angesprochene hob die Schultern und spreizte die Unterarme seitlich ab. " Anfangen, womit?"
"Nun Sie wollten mir eine Gardinenpredigt halten, den Kopf waschen oder sonst was. Sie wollten mir klar machen, wo meine Denkansätze falsch sind und warum ich hier anscheinend zum Scheitern verurteilt bin!"
Moreau ließ die Schultern wieder fallen und ging gestikulierend weiter. " Halten Sie mich nicht für so vertrottelt, daß ich das nicht mehr weiß. Die Frage ist lediglich, wo anfangen oder besser: Mit welcher Taktik bringe ich einem burgundischen Schöngeist bei, daß seine Lebenserfahrung hier nichts taugt? Versuchen wir es mal damit: Was wissen Sie über die Bretagne?"
Armand Berteau kramte aus seinem Gedächtnis die Fakten, die ihm geläufig waren: " Bretagne, größte Halbinsel Frankreichs, stark gegliederte, inselreiche Steilküste. Fünf Departements als da sind Ille-et -Vilaine, Côtes -du-Nord, Finistère, Morbihan und Loire-Atlantique, zusammen etwa Siebenundzwanzigtausend Quadratkilometer, Provinzhauptstadt Rennes, etwa zweieinhalb Millionen Einwohner, davon einskommazwei Millionen, die sich als ursprüngliche Bretonen bezeichnen, was immer das sein mag. Haupterwerbszweige sind Fischerei und Landwirtschaft. Je weiter man nach Westen kommt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß man auf Leute trifft, die sich untereinander in einem fürchterlichen Kauderwelsch unterhalten, das man Bretonisch nennt. Soweit mein Schülerlexikon. Eigene Anmerkung: Die Bretonen, echte oder unechte, sind verschlossene, eigenbrötlerische und unhöfliche Rüpel. Wenn Sie nicht auf das Geld von Touristen, also Nichtbretonen angewiesen wären, würden Sie einen glatt verhungern lassen."
Sie hatten mittlerweile das äußere Hafenbecken erreicht und gingen in Richtung Fähranleger Embarcadere Lorient- Ile de Croix am Boulevard de līEstacade. Berteau hatte die letzten beiden Sätze mit erhobener Stimme von sich gegeben, so daß einige Fischer aufmerksam wurden und ärgerlich zu ihnen herüber sahen.
Moreau machte eine beschwichtigende Geste: " Sehen Sie, das ist bereits der erste Fehler, den Sie machen. So etwas mag man vielleicht bei sich denken, aber, besonders wenn es auch noch falsch ist, niemals laut sagen. Fahren wir fort im Quiz. Kennen Sie Uderzo?"
Der Dicke machte eine wegwerfende Handbewegung: "Wenn Sie den mit diesen läppischen Comics meinen - äh- wie heißen die doch gleich? Ah ja, Asterix und Obelix. Diese Comics sind weder literarisch noch malerisch so anspruchsvoll, daß sich, wie nannten Sie mich, ein burgundischer Schöngeist, intensiv hätte damit beschäftigen müssen."
Der andere lehnte sich an das Geländer der Gangway am Fähranleger und fing jetzt an zu dozieren: "Das hätten Sie aber sollen. Denn hinter den läppischen Comics, wie Sie sie nennen, steckt viel Wahrheit. Dieses bewußte unbeugsame gallische Dorf zeichnet Uderzo hier in die Bretagne, an die Côte-du- Nord genaugenommen. So gesehen sind die Bretonen die eigentlichen Gallier oder genau genommen die Kelten, denn das sind die Bretonen ihrer Abstammung nach. Wenn Sie aus Ihrem Schulwissen mal das Stichwort Kelten abrufen, so werden Sie feststellen, daß diese bekannterweise vor mehr als zweitausend Jahren einmal ganz Europa nördlich der Alpen besiedelt haben. Zuerst die Römer, dann die Germanen haben Sie nach und nach immer mehr zurückgedrängt, hierher in die Bretagne, dem letzten Zipfel auf dem Festland, der ihnen noch geblieben ist. Außerdem noch über den Kanal nach Irland, Schottland und Wales.
Von hier haben sie sich nicht weiter vertreiben lassen, auch wenn sie im Laufe der zweitausend Jahre immer wieder verprügelt, geknechtet und beraubt worden sind, zuerst von den Römern und Germanen, dann von den Burgundern und den Wickingern. Später von den Bourbonen, dann von Napoleon,und den Republikanern unter Lasalle. Alle haben sie die Bretonen unterdrückt und ausgepreßt, und alle wollten aus ihnen letztlich angeblich nur gute Franzosen machen. Will sagen, Sie wollten ihnen ihre keltische Identität nehmen. Die Deutschen unter Hitler, deren Spuren heute noch allgegenwärtig sind, waren keinen Deut besser, wenn Sie auch darauf verzichtet haben, die Bretonen zu Franzosen umerziehen zu wollen. Das haben danach wieder die Gaullisten und die Kommunisten und die Nationalisten und was weiß ich, wer noch alles versucht.
Nun gut, seit die Kelten durch Cäsar ihre entscheidende Schlappe erlitten haben, waren Sie militärisch bedeutungslos, mal abgesehen von einer Zeit relativer Selbständigkeit von etwa den Jahren neunhundert bis vierzehnhundert. Aber ihre Identität und ihre Kultur wollten Sie sich nicht nehmen lassen, bis heute nicht. Und deshalb sprechen etwa siebenhunderttausend Bretonen bis heute noch ihr - wie sagten Sie- schreckliches Kauderwelsch, trotz aller Verbote und Strafandrohungen, die es in der Vergangenheit genug gegeben hat. Und deshalb ist ihr zwar intensives, aber nichts desto trotz aufgezwungenes Christentum noch heute durchsetzt von alten, keltischen Bräuchen. Deshalb hüten Sie auch ihre alten Menhire und Dolmen wie Augäpfel. Deshalb sind Sie auch jeder fremden Autorität gegenüber mißtrauisch und zurückhaltend. Sie haben die aufgezwungene Fremdbestimmung nie akzeptiert, sich immer zur Wehr gesetzt, wenn auch nicht so militant, wie die Korsen oder Basken.
Nun, die Region ist von der Zentralverwaltung immer, auch in der neuesten Zeit, erheblich vernachlässigt worden und ist dementsprechend unterentwickelt. Dabei schenkt die Verwaltung der Bretagne dort durchaus ihre Aufmerksamkeit, wo es etwas zu holen gibt oder wo man der Region etwas aufzwingen kann, was das übrige Frankreich nicht haben will.
Da sind, zum Beispiel, die Ölverladestation im Hafen von Brest und die Raffinerien in der Umgebung. Gegen beides haben sich die Bretonen erbittert zur Wehr gesetzt, weil absehbar war, daß die Ölmultis aus diesen Standorten alle Vorteile haben und die Region alle Nachteile ziehen würde. Und die durch die Havarie der Amoco Cadiz hervorgerufenen Ölpest gab den Kassandrarufen nur recht. Mit dem Beseitigen der angerichteten Schäden hat es die Zentralverwaltung dann nicht so eilig. Sehen Sie sich heute die Côte de Léon an, und Sie verstehen, was ich meine.
Die von Ihnen erwähnten Haupterwerbszweige Landwirtschaft und Fischerei stagnieren, um nicht zu sagen, kämpfen ums Überleben. Die Küsten sind dank der Richtlinien der Europäischen Union gründlich überfischt, die Fischer müssen immer weiter hinausfahren und fangen immer weniger. Die Landwirtschaft ist gemessen am übrigen Frankreich klimatisch im Nachteil, die dort vorhandenen Renommierprodukte gedeihen hier nicht. So heißt der Cognac hier Calvados und der Champagner der Bretagne ist der Cidre. Statt zum Burgunder reicht es hier allenfalls zum Apfelwein, und der läßt sich nur schlecht vermarkten.
Die Viehzucht und Milchwirtschaft wird von der EU eingeschränkt, und Ausgleichszahlungen versickern irgendwo sonst in Frankreich.
Und jetzt kommen Sie als Vertreter jener aufgezwungenen Staatsmacht und erwarten, daß, winken Sie nur mit Ihrem Dienstausweis, alle Welt eilfertig zu Diensten steht. Nennen Sie mal das, was Ihnen hier widerfährt, passiven Widerstand oder die bretonische Form der Ressistance, dann werden Sie manches mit anderen Augen sehen.
Dabei sind die Bretonen ein durchaus fröhliches und aufgeschlossenes Volk. Nur mit der französischen Allgewalt haben Sie es nicht so.
Ich will Ihnen anhand einer kleinen aber wahren Geschichte verdeutlichen, wie unbeliebt hier alles Französische ist. Vor einiger Zeit war in Hennebonnt eine junge Dame bei ihren dort lebenden Eltern zu Besuch. Sie stammte von dort und war folglich auch bekannt, lebte aus beruflichen Gründen aber in Paris. Besagte junge Dame wurde auf der Straße von ausländischen Touristen angesprochen, wo denn eine Bank sei, in der sie sich auf einen Eurocheque Geld besorgen könnten. Nun, nachdem sie die Sprache der Touristen sprach und sah, daß diese ziemlich hilflos waren, begleitete sie diese zu der wenige Schritte entfernten Filiale der Banque National de la Bretagne, wo, dank ihrer Hilfe diese auch problemlos ihre 1500 FF ausgezahlt bekamen. Nun war unsere Pariser Bretonin auch gerade knapp bei Kasse, und Sie zog ihr eigenes Scheckheft, um sich auch Geld auszahlen zu lassen. Das war aber ein Scheckheft der Banque du France. Der Filialleiter wurde darauf stocksteif und abweisend. No, Madame, auf einen Scheck der Banque du France gibt es hier kein Geld! Nein auch nicht an Leute, die wir persönlich kennen. No, Madame , nichts zu machen. Der Guten half auch ein mittlerer Tobsuchtsanfall nichts, der Filialleiter blieb eisern. So mußte die Arme hierher nach Lorient fahren, um bei der Banque du France Bargeld zu bekommen."
Mittlerweile hatte die Fähre angelegt. Sie gingen an Bord und nahmen auf dem Oberdeck Platz, wo sie einigermaßen ungestört waren.
Berteau war nicht überzeugt, nahm aber den Faden wieder auf.
"Nun, Robin Hood, flammender Anwalt der Geknechteten und Entrechteten. Ihrer Aussprache nach sind Sie doch auch kein Bretone. Ehe Sie mich hier weiter zur Sau machen, machen Sie mich mal schlau, woher Sie kommen und warum Sie sich so für die Bretonen ins Zeug legen."
Moreau schmunzelte. Er sagte nur ein Wort: "Gascogne"
Berteau konnte es sich nicht verkneifen: "Mein Gott, ein Musketier. Jetzt wird mir manches klar: Einer für Alle und so weiter."
Der andere versuchte, komisch zu wirken und verdrehte die Augen zum Himmel: " Ich habīes gewußt, daß das kommen mußte. Gütiger Himmel, der Kerl hat so viele Vorurteile am Leib wie Pfunde. Aber im Ernst, ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich anfangs dieselben Schwierigkeiten hatte, wie Sie jetzt. Wenn Sie nicht schon verheiratet sind, gebe ich Ihnen den Rat: Heiraten Sie eine Ausländerin, das fördert die Toleranz. Auch für die Eigenheiten französischer Minderheiten. Vereinfacht würde ich sagen, ich habe mich so nach und nach in die Bretagne verliebt"
Sie unterbrachen ihre Unterhaltung, denn die Fähre hatte ihr Ziel erreicht. Sie verließen das Schiff und wandten sich stracks dem Restaurant zu, das einladend nur wenige Schritte vom Anleger entfernt lag.
*****
Der Maler hatte seine Kate erreicht und stieß die Tür auf . Er betrat die Hütte und sah sich im vorderen Raum um. Es war eine Art Küche mit Schlafgelegenheit auf primitivstem Niveau.
Ein uralter, eiserner Herd diente als Kochstelle und - zur Winterzeit wohl gleichzeitig als Heizung. Ein roh behauener Tisch und zwei umgedrehte Obstkisten als Sitzgelegenheit, sowie eine aus Brettern zusammengenagelte Schlafstatt ergänzten das dürftige Mobiliar. Etwas, was man mit viel Phantasie als eine Art Regal bezeichnen konnte, hing an der Wand über dem Herd und beherbergte ein Paar Küchenutensilien. Einen Schrank gab es nicht. Des Wilden wenige Habseligkeiten waren als Bündel in eine Ecke neben dem Bett gestapelt.
Neben dem Herd standen zwei Plastikeimer. Kasurentin nahm einen davon auf und hob den Deckel an. Der Eimer war zu einem Drittel mit Fleischabfällen gefüllt, die einen betäubenden Geruch verströmten.
Er nahm den Eimer und stellte ihn in gebührendem Abstand vor der Hütte ab. "Da, du alter Aasfresser," er knuffte den Hund in die Seite, weil der gar zu sehr drängte, "das ist der Rest aus der letzten Lieferung. Ich denke, morgen müssen wir den Fleischer wieder um eine milde Gabe bitten."
Mit dem anderen Eimer holte er an einer etwa hundert Meter entfernten Quelle Wasser und stellte es ebenfalls dem Hund hin. Danach zog er sich in die Hütte zurück und kramte im Regal.
Nach einigen Minuten hatte er sich sein Mahl zubereitet. Ein Stück Ringsalami, ein halbes Baguette, eine angebrochene Flasche Cidre.
Er aß konzentriert und sah durch die offene Tür seinem Hund zu, der mittlerweile grunzend und schmatzend die Fleischreste vernichtet hatte und jetzt einen halben Eimer Wasser hinterherschlabberte. Danach lies er sich mit einem lauten Rülpser auf den Bauch nieder, legte den Kopf auf die Vorderläufe und zog die Stirn in Denkerfalten. So harrte er der Dinge, die da kommen sollten oder auch nicht.
Der Maler verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen: "Fürwahr, ein reiner Philosoph", rief er dem Hund zu. Er hatte sein karges Mahl ebenfalls beendet, wischte nachlässig die Krümel vom Tisch und begab sich in den hinteren Raum seiner Behausung.
Hier war das, was er sein Atelier nannte. Ein unbeschreibliches Durcheinander an loser und aufgespannter Leinwand, Farbtuben und -Töpfen, Pinseln, lose herumliegend oder in ein Glas mit Lösungsmittel getaucht. Dutzende von Bildern in allen Stadien der Fertigstellung lagen oder standen in unordentlichen Stapeln herum. Man brauchte nicht genau hinzusehen, daß die Masse davon zu seiner sogenannten Kaufhausproduktion gehörten.
Er zündete eine Petroleumlampe an, die jetzt ihren trüben Schein auf ein fast fertiggestelltes, großformatiges Bild auf einer Staffelei warf. Die Qualität dieses Bildes war sichtlich besser, als die meisten anderen, auch wenn das Motiv nicht jedermanns Sache sein mochte. Aber ihm konnte das egal sein. Es war eine Auftragsarbeit, und sein Auftraggeber hatte sinngemäß wie folgt bestellt. " Mal irgend was, ich muß damit lediglich ein Loch verdecken, das ich versehentlich mit der Jagdflinte in die Wand geschossen habe."
Nun, so malte le Sauvage "irgend etwas", eine Szene, die er vor einigen Jahren irgendwo an der Steilküste in der Nähe von St. Malo beobachtet hatte und die ihm wegen ihrer Unwirklichkeit nicht aus dem Sinn ging:
Einige Männer bemühten sich verzweifelt, ein Boot ins Wasser zu schieben, obwohl am Himmel ein Sturm aufzog. Im Bug des Bootes lag als besonderes Detail eine goldene Madonnenfigur, mit Seilen festgezurrt, fast wie eine Galionsfigur. Am linken Bildrand erhob sich über die Klippen ein Kalvarienberg mit einer Kapelle mit windschiefem Turm. Am Horizont ragte eine Insel aus dem Wasser, auf der schemenhaft einige Gebäude sichtbar waren. Dem Betrachter drängte sich der Eindruck auf , als legten die Männer Wert darauf, die Insel noch vor dem Ausbruch des Sturms zu erreichen.
Er arbeitete einige Stunden konzentriert, betrachtete das Bild dann aus einiger Entfernung. Er nickte beifällig, signierte das Werk und lehnte es dann vorsichtig an die Wand. Dann holte er eine bereits fertig aufgezogen und grundierte neue Leinwand hervor, die in den Abmessungen dem grade beendeten Werk entsprach. Er klemmte die neue Leinwand auf der Staffelei fest und begann mit Zeichenkohle mit schnellen Strichen noch einmal dieselbe Szene zu skizzieren....
*****
Die beiden Kommissare waren die nächste halbe Stunde mit dem Studium der Speisekarte und mit der Bestellung beschäftigt. Berteau, der sich eingeladen fühlte, und der sich ein wenig über die belehrenden Worte seines Gegenübers ärgerte, nahm stille Rache dadurch, daß er der an seiner Figur ablesbaren Verfressenheit bei der Bestellung Ausdruck gab.
Moreau gab jedoch seinerseits kein Pardon, und Berteau zog anerkennend die Brauen hoch. Wenn der kleinere und eher schmächtig wirkende Moreau das in Auftrag gegebene wirklich alles vertilgen wollte, dann verstand er zumindest zu kämpfen.
Der Dicke nippte genießerisch an seinem Aperitif und nahm den Faden wieder auf: " Und was, mein verehrter Völkerkundler, was mache ich Ihrer Meinung nach falsch? Was müßte ich Ihrer Meinung nach anders anfangen, um vorwärts zu kommen.?"
" Sehen Sie, Berteau," der Mann aus Rennes zog ein schiefes Gesicht, "ich habe hier in Lorient immer noch meinen bestens funktionierenden Nachrichtendienst. Deshalb weiß ich, daß Sie genau der Typ sind, der versucht, wie weiland Sherlok Holmes, seine Fälle mittels Intellekt und möglichst vom Schreibtisch aus zu lösen. Sie bestellen Ihre Zeugen ins Commissariat, um Sie zu vernehmen, anstatt Sie in ihrer gewohnten Umgebung aufzusuchen. Dann wedeln Sie viel zu schnell und viel zu oft mit Ihrem Dienstausweis herum. Sie blockieren damit eine eventuell vorhandene Mitteilungsbereitschaft sofort.
Dazu kommt unser beider derzeitiges Outfit", er zog andeutungsweise an seiner Krawatte, "Solange wir im Moment keine Fragen an die Leute stellen, mögen wir vielleicht noch als betuchte Touristen durchgehen. Aber sobald Sie zu unserem Kellner sagen: " Monsieur, haben Sie einen Moment Zeit für mich, ich möchte mit Ihnen reden" wittert der sofort auch ohne Ausweis und Uniform die geballte Staatsmacht und schaltet die Ohren auf Durchzug.
In der Stadt selbst mag das ja angehen, aber sobald Sie die Grenzen Lorients verlassen, sollten Sie Pullover und Gummistiefel bevorzugen.
Dasselbe gilt für Ihre Neigungen, ständig einen Dienstwagen zu benutzen. Jeder Bauer hier erkennt ein Fahrzeug des Fuhrparks des Commissariats auf fünf Kilometer Entfernung, und keiner der einfachen Leute hier wird gegenüber der Obrigkeit den Mund auftun, wenn er sich nicht sicher ist, daß Yann de Kergac zustimmend mit dem Kopf nicken würde."
Berteau blickte seinen Gegenüber unwillig an: " Sie erwähnen jetzt den Namen Kergac zum wiederholten Male. Das müssen ja mächtig wichtige Leute sein, Ihre Kergacs?"
Der Andere seufzte: " Das ist der nächste Punkt. Sie kennen hier nicht die wichtigsten Leute oder Sie wollen Sie nicht kennen. Was ist der Präfekt oder der Bürgermeister von Lorient schon gegen den vierzehnten Comte de Kergac?
Ich sehe schon, ich muß Sie über diese Familie und ihre Rolle hier im Departement aufklären.
Wenn Sie der Küstenstraße Richtung Le Pouldu und Pont Aven folgen, kommen Sie nach etwa fünf Kilometern durch ein kleines Nest namens Fort Bloqué. Ihm ist auf einer kleinen Insel vorgelagert das gleichnamige Fort, einstmals von erheblicher strategischer Bedeutung. Nach der militärischen Nutzung haben es die Besitzer trotz seines tristen Äußeren einigermaßen wohnlich eingerichtet, und seither ist es der Stammsitz derer von Kergac. Die Grafen von Kergac gibt es seit etwa sechshunderfünfzig Jahren, eigentlich stammen Sie la Rochelle, zumindest der erste Ahnherr der Grafen, und sie hatten sich ursprünglich in der Umgebung von Hennebont niedergelassen. Ihre Domäne war einstmals etwa zwölftausend Quadratkilometer groß, und unter anderem steht auch die Stadt Lorient auf ihrem ehemaligen Besitz.
Land und Macht verdanken die Kergacīs genaugenommen der Tatsache, daß die ersten zwölf Comteīs stets mit der jeweiligen Zentralmacht kollaboriert haben, was für Sie den Vorteil einbrachte, nie ernstlich in Schwierigkeiten zu kommen. Einerseits hat man der Familie die Kollaboration zwar übel genommen, andererseits haben diese allerdings ihre ehemals Leibeigenen immer relativ gut behandelt, so daß ihre Stellung eigentlich bis heute unumstritten ist. Lediglich unter Napoleon mußten Sie im Rahmen der Säkularisation und der damit verbundenen Umverteilung von Ländedereien etwas Federn lassen.
Auch wenn die Feudalherrschaft abgeschafft ist und auch wenn sich der jetzige Comte, Yann de Kergac, weitgehend aus der Politik heraushält, gilt er in der Gegend nach wie vor als die Autorität schlechthin. Dabei ist er im Grunde ein wohlhabender Nichtstuer, der letztlich von den Pfründen seiner Vorfahren lebt. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß er sich einerseits mit einem gewissen sozialen Touch umgibt und, da selber kinderlos, ein halbes Waisenhaus voll Adoptivzöglinge hält. Zum andern hat er, das heißt nein, schon sein Vater, den Bretonischen Kulturverein ins Leben gerufen, der sich kontra der Staatsmacht der bretonischen Eigenheiten annimmt.
Der Comte, übrigens äußerlich ein Typ wie Sie, wäre ja ganz erträglich, gäbe es da nicht seinen unsäglichen Bruder. Der führt, oder besser führte, sich bis vor einigen Jahren so auf, als gebe es noch die alte Feudalherrschaft. Nicht, daß er seine Launen an der Bevölkerung ausgelassen hätte, nein er lag in ständigem Krieg mit der Obrigkeit. Den Bürgermeister Lorients betitelte er zum Beispiel immer mit "der Landvogt der Kergacīs in Lorient", die Polizei als "unsere Truppen in Königs Sold". Allgemeingültige Spielregeln, wie beispielsweise Verkehrsregeln galten für ihn nicht. Sein Standpunkt war: "Wann haben Wir angeordnet, daß hier eine Einbahnstraße entstehen soll?". Er war ständig pleite, da sein Vater ihm in weiser Voraussicht zwar ein großzügiges Legat ausgesetzt hatte, über das er allerdings nur im Falle einer Heirat verfügen durfte. Steuern und Strafmandate bezahlte er grundsätzlich nie, auch selten Rechnungen, und wäre der Graf, sein Bruder, nicht immer wieder für ihn eingesprungen, Yves de Kergac hätte den größten Teil seines Lebens im staatlichen Schuldturm zugebracht.
Hinter den Weibern war er her, wie ein Rüde hinter den läufigen Hündinnen. Und weil diese zum Teil in Kenntnis des in Aussicht gestellten Legats recht willig waren, hat er die Familie um etliche illegitime Mitglieder erweitert, so daß im Moment die Erbfolge eine ziemlich komplizierte Angelegenheit sein dürfte.
Beruflich ist er Anwalt, Strafverteidiger, um genau zu sein. Aber ein ebenso genialer, wie fauler. Er arbeitet nur, wenn es unumgänglich notwendig ist, aber dann mit der Präzision eines Chirurgen. Ich weiß, wovon ich rede, denn er hat mich selbst einmal herausgepaukt. Aber das ist eine andere Geschichte, und es ist mir nicht angenehm darüber zu reden"
Moreau wandte sich den Austern zu, die mittlerweile serviert worden waren. Berteau, der die ganze Zeit geschwiegen und sich dem Mahl gewidmet hatte, war bereits beträchtlich im Vorteil. Er wischte sich den Mund ab und sprach mit vollen Backen:
" Sie haben in der Vergangenheitsform gesprochen, als Sie die Eigenheiten des jüngeren Kergacs erwähnten. Wollen Sie damit andeuten, daß er mittlerweile umweltverträglicher geworden ist?"
Der Andere nahm einen Schluck Wein und sagte dann zögernd: "Nun, da kommt jetzt meine Verbindung mit ihm ins Spiel. Er hat sich tatsächlich einigermaßen abgeschliffen, oder, soll ich sagen, sein Verhaltensmuster wird erheblich unterdrückt? Wir sind beide vor einigen Jahren, unabhängig voneinander, aber zeitgleich, an zwei deutsche Touristinnen geraten. Bei mir war es eine Sache von wenigen Tagen, dann waren wir verheiratet.
Bei ihm war das eine Angelegenheit von zwei Jahren, und es wurden schon Wetten abgeschlossen, ob er Sie nun kriegt oder nicht. Irgendwie hat sein Charme bei ihr nicht funktioniert und Sie hat ihn am ausgestreckten Arm beinahe verhungern lassen. Böse Zungen behaupten, wenn der Graf nicht daran gedreht hätte, läge der arme Yves heute mit gebrochenem Herzen unter der Erde.
Nun die Meine und die Seine kennen sich und bestehen darauf, sich gelegentlich zu treffen und über alte Schandtaten zu plaudern. Und er und ich, wir kennen uns auch und können uns nicht riechen, und deshalb kommen Tage wie heute zustande."
Moreau hatte sich mittlerweile über ein riesiges Haifischsteak hergemacht und stieß mit der Gabel angriffslustig in Berteauīs Richtung, der immer noch einen erheblichen Vorsprung hatte:
" Nun sagen Sie nicht, daß ich dem ehrenwerten Maître eigentlich dankbar sein müßte, weil er mich aus einer ziemlich aussichtslosen Geschichte herausgepaukt hat. Letztlich ist er denn auch dafür verantwortlich, daß ich gegen meinen Willen von hier wegbefördert worden bin.
Und dabei habe ich hier meinen bis heute einzigen ungeklärten Fall hinterlassen. Das wurmt mich mächtig. Ich sinne heute noch nächtelang über der Frage, ob der verzogene Adelssproß ein persönliches Interesse daran hatte, daß die Geschichte nie abgeschlossen wurde."
*****
Der Maler saß auf einem großen Feldstein vor seiner Hütte und betrachtete die untergehende Sonne. Er seufzte. Er hatte ein wenig Sorgen. Der Aufkäufer des Warenhauskonzerns, der ihm bisher in regelmäßigen Abständen seine Massenware abgekauft hatte, war seit einigen Tagen überfällig.
Nicht, daß die Gefahr bestanden hätte, er müßte demnächst am Hungertuch nagen. Für seine zwingenden Bedürfnisse würde seine Barschaft schon noch etwas reichen. Außerdem gab es da noch ein paar wohlmeinende Nachbarn, besser gesagt Nachbarinnen, für die es Ehrensache war, ihn nicht vor den Hund gehen zu lassen.
Aber aus seinen früheren Tagen kannte er doch die Tatsache, daß ein wenig Geld auf der hohen Kante das Leben zwar nicht unbedingt glücklicher, so doch zumindest einfacher machte. Zudem gab es da noch dieses Konto in Concarneau, auf das er hin und wieder, das heißt, wenn er selbst flüssig war, diverse Beträge einzahlte. Und er wußte, daß der Inhaber jenes Kontos diese Beträge zwar widerstrebend, doch gleichermaßen dankbar vereinnahmte, halfen Sie ihm doch seinerseits immer wieder über gewisse Existenznöte hinweg.
Wenn der Aufkäufer in den nächsten Tagen nicht auftauchen sollte, würde sich der Maler ernsthaft etwas einfallen lassen müssen.
Den Feldweg, der von der Küstenstraße in Richtung auf seine Kate abbog und etwa hundert Meter vor dieser in der Wiese endete kam mit heulendem Motor ein 2CV heraufgeschossen. Der Maler wunderte sich etwas darüber, denn eigentlich konnte nur seine Behausung das Ziel des noch unbekannten Besuchers sein.
Der Wagen hielt am Wegende, eine Tür wurde geöffnet und wieder ins Schloß geworfen. Dann kam eine Frau um das Fahrzeug herum und hielt auf ihn zu.
Kasurintin pfiff zwischen den Zähnen hindurch. Trotz hereinbrechender Dämmerung war die Sicht noch gut genug, um die Frau zu erkennen. Sie war dunkelhaarig, mittelgroß, schlank und rassig, und in der Stadt mochten wohl etliche Männer anerkennend hinter ihr hersehen.
Er kannte die Frau, wußte, daß Sie aus dieser Gegend hier stammte. Aber er hatte nicht an den Zufall geglaubt, ihr hier zu begegnen. Er dachte noch darüber nach, wie er sich verhalten und ob er sich zu erkennen geben sollte, als die Dogge seine Überlegungen zunichte machte.
Der Hund schnürte mit der Nase am Boden auf die Frau zu, kaum, daß Sie aus dem Auto ausgestiegen war. Am Verhalten der Frau konnte man erkennen, daß Sie sich mit Hunden auskannte. Sie ging mit festem Schritt auf das Untier zu und rief ihm etwas zu. Der Hund blieb einige Schritte vor ihr stehen, legte, wie zum Nachdenken den Kopf auf die Seite. Dann wedelte er mit seinem Schwanzstummel, seine Körpersprache drückte Erkennen und Freude aus. Er umkreiste die Frau einige Male mit wilden Sprüngen wie ein störrisches Pferd, lief dann zu ihr hin und beschnupperte die dargebotene Hand.
Sie spielte einige Sekunden mit dem Tier und kam dann weiter auf den Maler zu.
"Alter Verräter", knurrte le Sauvage und erhob sich seufzend von seinem Stein. Die Frau war mittlerweile herangekommen und blieb drei Schritte von ihm entfernt stehen. Ihm schossen in Windeseile Erinnerungen durch den Kopf. Sie war jene Weibergeschichte gewesen, die damals in den Pyrenäen so unglücklich geendet hatte. Einige wilde Tage und Nächte hatten Sie miteinander verbracht und er war ganz von der Rolle. Dann, von einer Stunde auf die andere, war Sie verschwunden und nicht mehr aufzutreiben gewesen. Ihretwegen hatte er sich bis zur Bewußtlosigkeit besoffen und ihretwegen hatte er die Amokfahrt in dem gestohlenen Sportwagen hingelegt, die letztlich zu diesem Unfall geführt hatte.
" Hans?", sage Sie fragend, "Hans Maier?". Wie alle Franzosen konnte Sie das deutsche H am Beginn eines Wortes nicht sprechen. Also klang ihre Frage wie "Ans? Ans Maier?"
Der Wilde hatte die schwache Hoffnung, Sie möge ihn nicht erkannt haben: "Bon soir, Madame, ich fürchte, Sie müssen mich mit jemand verwechseln! Meine Geburtsurkunde lautet auf Kasurintin le Breton." Er zog die Schultern hoch.
Sie lauschte dem Klang seiner Stimme nach. Nach einigen Sekunden ging ein spöttisches Lächeln über ihr Gesicht.
"Hans Maier!", stelle Sie fest, " Du magst Dich hier nennen, wie Du willst, aber Du solltest nicht versuchen, mich zu täuschen. Daß Hans Maier nicht dein richtiger oder zumindest nicht dein einziger Name war, habe ich geahnt, als ich von der Polizei nach Deinem Verbleib gefragt worden bin, nach diesem Unfall, über den überall in den Zeitungen zu lesen war.
Du hast dein Gesicht verändert. Nun, für viele Leute mag das als Tarnung genügen. Aber für jemand, der mit Dir so intensiv zusammengelebt hat wie ich, wenn es auch nur wenige Tage waren, reicht das nicht. Drei Fehler, mein lieber Kasurintin, oder wie Du wirklich heißen magst sind dir unterlaufen, und das schon nach drei Minuten. Möchtest du wissen welche?"
Die Schlacht hatte er verloren. Der Maler ließ die Schultern wieder fallen. "OK, Marie-Thérèse, Du hast gewonnen. Er hat es dir verraten, nicht wahr?", er zeigte auf den Hund.
"Er gab mir nur das erste Indiz", grollte Sie, "den Rest hast Du mir selber geliefert. Selbst wenn Du denn Hund damals in den Pyrenäen zurückgelassen hättest, deine Stimme und deine Körpersprache verraten dich. Und ich denke, die Profis haben noch eine ganze Reihe anderer Mittel , Deine Identität festzustellen."
Der Wilde ließ sich wieder auf seinen Stein nieder. Er deutete mit dar Hand zum Hütteneingang. "Wenn Du dich auch setzten willst, mußt Du Dir aus meinem Palast meinen einzigen Stuhl holen. Anbieten kann ich Dir leider nichts, außer Calvados aus Guehenno, und der ist für Autofahrer zu gefährlich."
Sie winkte ab und verschränkte die Arme: "Laß uns lieber ein paar Schritte hinunter zum Strand gehen!"
Sie wanderten am Auto vorbei den Weg zur Uferstraße hinab. Der Hund trottete zwischen ihnen. Marie Therese deutete auf das Tier: "Sag mal, hat er wenigstens mittlerweile einen Namen?"
Der Maler schüttelte den Kopf: "Ich nenne ihn einfach nur Hund. Ich nehme an, er wäre doch sehr verwirrt, wollte ich ihn plötzlich anders rufen. Und wie auch? Ich könnte ihm meinen Familiennamen geben, le Breton. Aber ob er sich dadurch geehrt fühlen würde? Und ein geeigneter Vorname fällt mir auch nicht ein."
Sie sah ihn schräg an: " Du heißt wirklich le Breton? Du bist doch hoffentlich nicht mit der Familie meines Mannes verwandt?"
Er machte eine wegwerfende Handbewegung: "Ich denke nicht! Aber wer weiß das schon so genau? Le Breton gibt es hier wie Sand am Meer. Wer will da schon entscheiden, wer mit wem verwandt ist."
Er wechselte unvermittelt das Thema: " Was willst Du jetzt tun, nachdem Du mich aufgespürt hast? Ich denke, bei der Polizei gibt es noch ein paar hübsche Steckbriefe mit ebenso hübschen Summen auf meinen Namen."
Sie sah ihn vorwurfsvoll an: " Sag mal, wofür hältst Du mich eigentlich? Solange Du mich nicht mit einem falschen Dali oder Klee bescheißt, ist mir völlig schnuppe, was Du früher gemacht hast! Daß ich auf dich gestoßen bin, ist sowieso reiner Zufall. Du weißt doch, daß ich vor unsrer Zeit in Lorient eine kleine Galerie betrieben habe. Nun , die Galerie habe ich immer noch. Zur Zeit neigt sich eine Ausstellung mit einem jungen Marokkaner dem Ende zu, die ein ziemlicher Flop war. Yves- Marie, mein Mann, finanziert mir die Galerie zwar, aber er ist zu sehr Geschäftsmann, als daß er mich auf Dauer Miese machen ließe. Er hat schon gedroht, die Galerie zu schließen.
Also suche ich jetzt zur Abwechslung mal einen Maler, der sich auch verkaufen läßt. Edith Leblanc hier aus der Nachbarschaft, die Dir ab und zu einen Schweinebraten serviert, damit Du nicht verhungerst, hat mich auf Dich aufmerksam gemacht. Sie meint zwar, Du produzierst nur Kitsch und Schund, aber an Touristen ließe sich das allemal verkaufen."
"Alte Schwatzbase", knurrte der Maler, dann deutete er auf den Hund, "Yves-Marie le Breton", sagte er in strengen Ton, " Du bringst mich in arge Verlegenheit! Erstens produziere ich zur Zeit tatsächlich überwiegend nur Schund, grade gut genug für den Supermarkt. Zweitens sollte ich zur derzeit wirklich nicht ausstellen, denn" er wandte sich an die Frau, " Wenn Du mich schon so leicht erkannt hast, wieso sollte es anderen schwerer fallen. Im Augenblick, so habe ich gelesen, befindet sich ein gewisser Kommissar Berteau in der Stadt, der Kunstexperte aus Paris. Mit ihm habe ich lange Jahre meinen kleinen Privatkrieg gehabt, und ich fürchte, er glaubt, daß er mit mir noch nicht quitt ist.
Andererseits bin ich zur Zeit reichlich pleite, und wenn nicht bald Bertignol, der Ramschhändler auftaucht, sieht es düster aus."
Sie hakte nach: "Wenn Du denselben Bertignol meinst, den ich kenne, kannst Du lange auf ihn warten. Das kommt davon, wenn man nur unregelmäßig Zeitung liest. Der "Kunsthändler" Bertignol hat vergangene Woche in der Nähe von Quimper einen bösen Unfall gehabt und wird mindesten für ein halbes Jahr die Bildergalerien in den Krankenhausfluren bewundern müssen.
Ich denke, Du hast keine Wahl. Du mußt verkaufen, ich will verkaufen und ich habe eine Galerie. Ich denke, um Berteau nicht unbedingt auf dich aufmerksam zu machen, solltest Du dich während der Vernissage gegenüber den Photographen ein wenig zurückhalten."
Es war mittlerweile dunkel geworden und ein empfindlich kühler Wind strich von der See her. Marie-Thérèse fror, und Sie machten sich auf den Rückweg. Der Maler dachte lange schweigend nach. An ihrem Auto angekommen, gab er sich einen Ruck.
"Nun gut, Du hast mich überredet. Ich sag Dir aber zweierlei: Erstens, ich bin zu pleite, um mein Zeug rahmen zu können. Das ist Dein Bier. Zweitens :Ich kann Dir auch nicht die üblichen 10 000 FF Kaution geben. Stellst Du meinen Krempel aus und verkaufst genug, kannst Du die Kosten einbehalten, wenn nicht, hast Du Pech gehabt."
Sie nickte. " Ich denke, das kann ich mit meinem Geldgeber, sprich mit meinem Gemahl hinkriegen. Er wird allerdings zur Sichtung mitkommen wollen, um dann hier zu entscheiden, ob sich der Aufwand für ihn lohnt. Er hat Dich ja nie gesehen, so besteht auch nicht die Gefahr, daß er Dich erkennt."
Er reichte ihr die Hand. " Ich glaube, es ist besser, Du fährst jetzt. Wir zwei hier im Dunkeln, das ist gefährlich für uns beide. Gelegentlich mußt Du mir erzählen, warum Du damals so plötzlich verschwunden bist."
Sie hielt seine Hand einen Augenblick länger als es die Höflichkeit gebot. Dann stieg Sie ein, klappte die Seitenscheibe hoch und ließ den Motor an. " Im Grunde ist das eine kurze und doch komplizierte Geschichte", sagte Sie, "glaub mir, freiwillig war es nicht!" Sie wendete den Wagen und fuhr geräuschvoll zur Küstenstraße zurück.
*****
Ein opulente Meeresfrüchteplatte, ein Dessert, einen Café Noir und drei Calvados später beendeten die Kommissare ihr Mahl. Zu Berteauīs Verwunderung ließ sich Moreau ohne Protest die Rechnung geben, verlangte aber zu seiner Enttäuschung eine Spesenquittung. "War ja schließlich eine dienstliche Besprechung", feixte er, als Sie das Lokal verließen.
Als Sie das Festland wieder erreichten, verabschiedete sich Moreau direkt am Fähranleger und winkte einem Taxi. Berteau empfand ein gewisses Völlegefühl und entschloß sich, zu Fuß zu gehen. Es dunkelte bereits, und so vermied er es, noch einmal die Richtung zum Commissariat einzuschlagen und ging direkt zum Hotel Atlantique, wo er für die Dauer seines hiesigen Einsatzes Quartier genommen hatte.
Er schlief schlecht in dieser Nacht. Auch eine halbe Flasche Calvados konnte ihm sein Magendrücken nicht nehmen.
Zudem ging ihm der lange Vortrag des Kollegen aus Rennes lange im Kopf herum. Mochte es sein, daß dieser irgendwo recht hatte?
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An der Mündung des Elorn, gegenüber von Brest, liegt die kleine Stadt Plougastel. das heißt, eigentlich liegt Sie auf der zerklüfteten Anhöhe, die die Wasser des Elorn und des Ellez zwischen ihren tiefeingeschnittenen, fjordartigen Mündungen übriggelassen haben. Der aggressive Küstenwind pfeift das ganze Jahr über die Anhöhe, und demensprechend verwittert sehen die meist älteren, aus Naturstein errichteten Häuser der Stadt aus. Die Ortschaft krallt sich förmlich vor dem Wind schutzsuchend in die Landschaft.
Einzige Ausnahme davon macht der Turm von Sainte-Anne-la-Palud, der kleinen Kirche am Rande der Stadt. Das Kirchenanwesen samt Pfarrhaus wird von einer mannshohen Feldsteinmauer eingesäumt, die auch einen, selbst bei Tag, etwas unheimlich wirkenden Kalvarienberg einschließt.
Das Kirchenschiff duckt sich wie die meisten anderen Gebäude vor dem unfreundlichen Wetter. Der schlanke, viereckige Turm reckt sich jedoch trotzig dem Wind entgegen. In etwa zwölf Metern Höhe besitzt er eine umlaufende, balkonartige Galerie, wie Sie viele der hiesigen Kirchtürme aufweisen. Über der Galerie erhebt sich in zwei Stockwerken der Glockenstuhl, der nach allen Seiten durch vier im Quadrat angeordnete Rundbögen,ähnlich Arkaden, völlig offen erscheint. Die tragenden Säulen der Rundbögen sind so dünn, daß im Gegenlicht eines Sonnentages die darüberliegende, eher gotische Turmspitze über der Kirche zu schweben scheint. Gegen das spärliche Licht des Nachthimmels erweckt der Turm den Eindruck eines eher anklagend, als mahnend, zum Himmel gestreckten knöchernen Fingers.
Sainte-Anne-la-Palud ist bekannt wegen seiner überaus reichen Innenausstattung, die allerdings deutlich jünger ist, als die Kirche selbst. Die Kirche datiert aus dem zwölften Jahrhundert, die Innenausstattung ist dem ausgehenden Barock zuzuordnen und stammt, zumindest finanziell, von einem renommiersüchtigen Aristokraten. Der Künstler, der die Ausstattung übernahm, ist unbekannt. Auch wenn die Gesamtheit wegen der verschiedenen Stile etwas verkrampft wirkt, so stellt die Kirche gerade wegen der reichverschnörkelten, blattvergoldeten Dekoration mit zahlreichen Madonnen, Heiligenfiguren, Fresken und Putten einen unschätzbaren Wert dar.
In dieser Nacht gegen Mitternacht knatterte ein alter Citroen-Lieferwagen von Le Faou her kommend nach Plougastel hinein und bog die gepflasterte Dorfstraße zur Kirche hin ab.
Das Fahrzeug hielt gegenüber dem schmiedeeisernen Tor der Umfriedung an, und drei Männer stiegen aus. Sie trugen Wollmasken über den Gesichtern und führten Werkzeuge wie Brecheisen und Bolzenschneider mit sich.
Während sie sich am Tor zu schaffen machten, zündete sich der im Wagen verbliebene Fahrer eine Zigarette an und rauchte diese in der hohlen Hand. Mit leisem Klirren öffnete sich das eiserne Tor, und die Männer huschten zum Portal der Kirche.
In der heutigen Zeit sind selbst in der Bretagne die Kirchentüren nachts verschlossen, aber einem geübten Einbrecher stellen Sie kein ernstzunehmendes Hindernis dar. Zwei dumpfe Schläge und ein Geräusch splitternden Holzes später schwang das Portal zurück und die Männer verschwanden im Kircheninnern.
Sie arbeiteten schnell und zielbewußt. Zwei von ihnen holten ein halbes Dutzend Heiligenfiguren von ihren Sockeln, während der Dritte sich an der Tür zur Sakristei zu schaffen machte. Er verschwand darin und kam nach wenigen Augenblicken mit einer goldenen Monstranz und einem silbernen Kelch wieder zum Vorschein.
Der Fahrer war mittlerweile ausgestiegen und hatte die Hecktüren des Lieferwagens geöffnet. Argwöhnisch beobachtete er die Umgebung, und als aus der ansonsten verdunkelten Stadt der Scheinwerferkegel eines fahrenden Motorrads zu erkennen war, stieß er einen scharfen Pfiff aus.
Die Anderen huschten aus der Kirche und verstauten ihre Beute hastig in dem Citroen. Sie warteten ab, bis sich das Licht des anderen Fahrzeugs auf der Straße in Richtung Brasparts verlor, dann starteten Sie ihren Wagen und fuhren ohne Licht zunächst bis zur Hauptstraße. Sie verließen die Stadt auf dem selben Weg, auf dem Sie gekommen waren.
Der alte Pfarrer der Gemeinde hatte einen leichten Schlaf. Bereits das Motorengeräusch des ankommenden Lieferwagens hatte ihn geweckt. Er beobachtete hinter den dunklen Scheiben seines Pfarrhauses den Teil des Vorgangs, den er von dort einsehen konnte. Aber er war nicht der Mutigsten einer.
Zum Einschreiten fehlte ihm die Kraft und er betete darum, die Gangster möchten nicht bemerken, daß es einen Zeugen des Vorfalls gab. Über ein Telephon verfügte er nicht, so daß er auch nicht unmittelbar Hilfe herbeirufen konnte.
Das Gesicht des Fahrers, der keine Maske trug und der so unvorsichtig war, sich eine Zigarette anzuzünden, konnte er im Schein des Feuerzeugs kurz sehen. Er war sich sicher, ihn wiedererkennen zu können.
Nachdem die Ganoven den Tatort verlassen hatten, wartete der Geistliche sicherheitshalber einige Minuten ab, ehe er sich hastig ankleidete und zu Fuß in die Stadt eilte, um den dortigen Gendarmerieposten zu verständigen. So verlor er zu viel Zeit, als daß die eingeleitete Fahndung einen sofortigen Erfolg hätte bringen können.
So blieb den Gendarmen in dieser Nacht nichts weiter, als am Tatort, so gut es ging, Spuren zu sichern und den armen Priester immer wieder zu verhören. Dies geschah nicht ohne ein gerüttelt Maß an Vorwürfen ob seiner Zögerlichkeit.
*****
Einige Stunden später, der Morgen graute bereits, bog der besagte Lieferwagen auf einen Touristenparkplatz an der Steilküste bei St. Lunaire unweit Dinard ein. Der Fahrer steuerte das Fahrzeug direkt bis zu einer Stelle an der Felskante, von der sich ein Trampelpfad hinunter zu dem schmalen Strandstreifen schlängelte, der bei durchschnittlichem Wasserstand das Meer von den Felsen trennt.
Unten, an der Wasserlinie lag ein Fischerboot halb auf dem Strand, gehalten von einem Anker, der an langer Leine einige Meter oberhalb im Sand steckte. Offensichtlich war das Boot während des Fluthöchststandes dort geankert worden, und die einsetzende Ebbe drohte, es nun aufs Trockene zu setzen.
Die Männer stiegen aus, vergewisserten sich, daß Sie keine Zuschauer hatten, und entluden hastig das Auto.
"Verdammt" ,fluchte einer, "wieder keine Minute zu früh! Das Boot liegt schon fast trocken. Eine Viertelstunde später, und wir wären mit der Sore nicht mehr weggekommen."
Die vier hasteten mit ihren Gepäckstücken zum Strand hinunter und warfen Sie unsanft ins Boot.
"Reg dich nicht auf", knurrte der Fahrer zwischendurch, " es ist ja noch einmal gutgegangen. Du weißt doch, Timing ist alles."
Sie schoben das Boot mit vereinten Kräften ins Wasser. Drei schwangen sich über die Bordwand und machten sich am Motor zu schaffen. Der Fahrer des Lieferwagens wartete am Strand ab, bis der Außenborder zu tuckern begann und das Boot langsam mit Kurs auf die offene See im Morgennebel verschwand.
Dann stieg er wieder hinauf zum Parkplatz und entfernte sich mit seinem Fahrzeug gemächlich Richtung St. Malo.
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