2.2.4. Die Vorschriftenneurose

Es war bereits 1972, da hat ein schlauer Kopf mal ausgerechnet, wie groß der Vorschriftenwust der Bundeswehr ist. Er kam zu folgendem verblüffenden Ergebnis:

Wenn man aus dem Vorschriftenbestand einer einzigen selbständigen Einheit von jeder dort vorhandenen Dienstvorschrift und sogenanntem vorschriftenähnlichen Schriftgut je ein einziges Exemplar herausgreift und die Seiten addiert, so kommt man auf eine Seitenzahl von über 40 000 (in Worten vierzigtausend). Wie gesagt, das war 1972

Es gibt Zentrale Dienstvorschriften, Heeresdienstvorschriften, Luftwaffendienstvorschriften, Marinedienstvorschriften, Waffengattungsspezifische Dienstvorschriften, Gerätespezifische Ausbildungsvorschriften, Technische Dienstvorschriften, Einzelanweisungen, Versorgungsweisungen, Ausbildungskataloge, Vorschriftenkataloge, und, und, und......

Es gibt im Grunde keinen Lebensbereich des Soldaten, der nicht in einer, häufig sogar in mehreren Vorschriften geregelt ist. Das heißt, doch, einen Bereich habe ich entdeckt, und ich bin wild entschlossen, diese Lücke zu schließen.. Ich komme ganz am Ende meiner Betrachtungen darauf zurück.

Dabei hat man nach vielen Jahren solchen Unsinn wie "Bei hereinbrechender Nacht ist mit zunehmender Dunkelheit zu rechnen" oder "Ab 60 cm Wassertiefe beginnt der Soldat selbständig mir Schwimmbewegungen" (beides aus der ersten Auflage der ZDv 3/11 - Gefechtdienst aller Truppen erfreulicherweise ausgemerzt. Aber bei genauerem Vorschriftenstudium bleibt immer noch genügend Widersprüchliches und Unsinniges zurück.

Wo zuviel ist, tritt zwangsläufig ein Punkt der Übersättigung ein, das heißt, kein Mensch (auch kein Soldat) liest alles, was in den Dienstvorschriften steht, handelt häufig nach Gutdünken.

Nichts desto Trotz ist beim Militär die meist gebrauchte dumme Ausrede auf noch dümmere Fragen "Das steht in der Vorschrift". Das hat den Vorteil, dass man für belesen gilt, und - es unterdrückt jeden Widerspruch.

Ist man dreist genug und behauptet man mit dem Brustton der Überzeugung: " Das steht in der ZDV A-Strich-B unter der Nummer xyz" ist der so Belehrte in aller Regel so eingeschüchtert, dass er es gar nicht wagt, diese Aussage nachzuprüfen. Und sollte er es dennoch tun und käme zu einem anderen Ergebnis, so kann man sich immer noch auf den laufenden Änderungsdienst herausreden. Entweder hat dann der Belehrende oder der Belehrte eben die neueste Änderung noch nicht erhalten.

Der Kasus ist, dass alle Vorschriften einem ständigen Änderungsdienst unterliegen, angeblich um sie laufend zu aktualisieren und sie sich ändernden Gegebenheiten anzupassen.

Zu diesem Zwecke hält sich jede Truppenschule einen sogenannten Spezialstab ATV (Ausbildung/Technik/Vorschriften). In ihnen sitzen üblicherweise im Sinne des Parkinsonschen Gesetzes  (s. Karriereneurose) zu Ende beförderte ältere Soldaten. Sie sind infolge der Eigenschaften größtmögliche Truppenfremde und altersmäßige Unbeweglichkeit für diese Dienstposten hervorragend qualifiziert. Spötter übersetzten die Abkürzung ATV auch mit Alt-Teile-Verwertung.

Diese Soldaten klopfen nun den Vorschriftenbestand laufend nach folgenden Kriterien ab:

Eine Kommunikation zwischen den diversen ATV-Stäben findet nicht  statt, um der Gefahr auszuweichen, dass man aus Versehen einen Fachmann für ein bestimmtes Problem aufgabelt, das ergäbe dann ein Problem mit dem, was man schon erarbeitet hat. Dasselbe gilt auch für die Sachbearbeiter innerhalb ein- und desselben ATV-Stabes. Jeder Sachbearbeiter hält sein augenblickliches Projekt für so geheimhaltungsbedürftig, dass er häufig selbst nicht weiß was er tut. So passiert es häufig, dass in verschiedenen Stäben oder in verschiedenen Büros eines Stabes gleichzeitig an ein- und derselben Vorschrift oder Vorschriftengruppe Änderungen vornehmen, ohne voneinander zu wissen.

Dem Benutzer von Vorschriften im Truppenalltag (gerüchteweise soll es sie vereinzelt geben), dem dann (vielleicht) Widersprüchlichkeiten auffallen, bleibt nur, sich an die ihm bekannte, jeweils neueste Änderung zu halten, oder wie einst Peter Frankenfeld in einem Sketch, die Verantwortung von sich zu weisen: " Die Flugbahn des Geschosses über Wasser gehört nicht hierher, das ist Sache der Marine!"

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