2.2.5. Die Haarschnitt-Neurose

Es gibt ganze Truppengattungen, in denen ist die Weite des geistigen Horizonts ihrer Angehörigen direkt proportional zur Länge des Haarschnittes.

K.S. 1982

In den sechziger Jahren und früher war alles ganz einfach:

Da gab es noch den aus der ehemaligen wilhelminischen Reichswehr abgekupferten Haar- und Barterlass, nach dem war beim Soldaten Bart sowieso verpönt, es sei denn, es handelte sich um einen mit Schuhwichse aufpolierten und akkurat zurechtgefriemelten Schnurbart. Ebenso verpönt waren Rundschnitt und Löckchen auf Männerköpfen, der Soldat trug Fassonschnitt, das Haar hatte kurz zu sein, die Ohren und der Kragen frei. Das mit den freien Ohren war, nicht zuletzt wegen des üblichen Gebrülls als Umgangstons, häufige Ursache für jene Modekrankheiten, die man heutzutage als Tinnitus bezeichnet, dem Ohrsausen.

Die Definition des Begriffes kurz lieferte de jeweils zuständige Spieß, und nach obigem Zitat war der geistige Horizont des Spießes an der vorherrschenden Haarlänge seiner Einheit abzulesen. Jeden Samstag (damals hatte die Truppe Samstag noch Dienst) lautete das meistgefürchtete Kommando: "Erstes Glied drei, zweites Glied einen Schritt vortreten! Kopfbedeckung ab! Haarschnittkontrolle!"

Und, so lange und so oft es der Spieß für richtig hielt, trug der Soldat immer wieder seine drei Mark zu damals noch existenten Kasernenfrisör, immer in der Hoffnung, es möge sich für die anstehende Wache am Sonntag noch jemand anderer finden. Denn, wer es nicht schaffte, bis zu einem gewissen Zeitpunkt Gnade vor des Spießes Auge zu finden, wurde unweigerlich kurzfristig zur Wache oder zum Bereitschaftsdienst eingeteilt.

Dann kam die Zeit, in der in der zivilen Mode der Igelhaarschnitt vorübergehend out war und das Diktat der Coiffeur ins andere Extrem verviel. Alsbald quollen bei Zivilisten die Haupthaare bis zu den Schultern und weiter, und Bärte, soweit sie denn überhaupt wuchsen, sprossen, als gälte es ein Casting um die Rolle des Reservejudas  bei den Oberammergauer Passionsspielen zu gewinnen. Einziges primäres Unterscheidungsmerkmal zwischen Männlein und Weiblein war zeitweise, dass die Damen ihre Lockenpracht wohl täglich wuschen, ihre männlichen Konkurrenten allenfalls jedes halbe Jahr.

Zunächst blieb die Bundeswehr vom Zeitgeist verschont, gab es doch den Haar- und Barterlass und seine Hüter, die Spieße. Unsere westlichen Nato-Partner, insbesondere die Holländer, modischen Erscheinungen schon immer etwas aufgeschlossener, sahen das weniger eng, alsbald entstand ein Niederlänsisch-Belgisch-Französiches Pferdeschwanz- und Dauerwellen-Bündnis, in dem lediglich die Bundeswehr sich als reichlich altmodisch und hinterwäldlerisch hervorstach und entsprechend belächelt wurde.

Nun begab es sich zu jener Zeit, dass jener Hamburger Innensenator, der sich einen Namen als Krisenmanager bei der norddeutschen Überschwemmungskatastrophe gemacht hatte, Verteidigungsminister wurde. Dieser, damals für Ministerverhältnisse verhältnismäßig jung und dynamisch und vor Allem gnadenlos modern, entschied, dass, wenn man schon nicht die Struktur des Bündnisses oder der Streitkräfte ändern könnte, man dies wenigstens am Haarschnitt tun sollte.

  1. Stufe: Die Bundeswehr, so befand der Minister sei ein modernes Instrumentarium unserer Gesellschaft und könne sich nicht in einer so haarigen Angelegenheit gegen den Zeitgeist stemmen: Der Haar- und Barterlass sei aufzuheben, dem Soldaten sei Wahlfreiheit in der Frisur zuzuerkennen. Es müsse lediglich ein gepflegtes Bild abgeben.

Welche Wonne! Endlich konnten die Wehrpflichtigen es ihren Niederländischen Waffenbrüdern gleich tun. Ware Löwenmähnen verzierten hinfort das olive Einerlei der Uniform. Die Kasernefrisöre gingen reihenweise pleite. Die Spieße gingen scharenweise in psychiatrische Behandlung. Nur die Hutindustrie boomte, brauchten die Soldaten doch durchweg größere Kopfbedeckungen, um das neue Volumen bändigen zu können.

Nun gibt es beim Militär jedoch auch im Frieden einige gefährliche Arbeitsplätze. Beim Technischen Personal geriet die eine oder andere Lockenpracht in Bohrfuttern verloren, bei der Kampftruppe blieb so mancher Skalp in zuklappenden Panzerluken hängen und selbst bei Rekruten musste gelegentlich eine Zigarettenpause zur Löschübung an haarspraygetränkten Kopfzierden umfunktioniert werden.

Die Haarnetzindustrie boomte. Die Spieße, die nun wenigstens teilweise ihre Autorität zurückbekommen hatten, beendeten großteils ihre Therapiesitzungen bei den Psychatern. Sie legten im Prinzip dieselben Maßstäbe an, wie sie sie schon gebrauchten, als sie auf die Frisur noch direkten Einfluss ausüben durften. Sie verteilten den neuen Ausrüstungsgegenstand ausgesprochen großzügig. Ich erinnere mich an einen Fähnrich  (hallo Yokko), der obwohl noch jung an Jahren, eine fast perfekte Billiardkugel sein Eigen nannte. Lediglich ein tief angesetzter, schütterer Haarkranz umrundete seine Denkwarze. Zu lang, befand der Spieß, und verdonnerte den Fähnrich zum Haarnetztragen. Ein Bild für Götter!

Die dünnen Haarnetze hatten einen entscheidenden Nachteil: Man Trug sie nicht gerne, denn die solchermaßen gebändigte Frisur wirkte, auch mitten im Sommer wie eine Fellmütze. Die Soldaten machten sich schnell die Tatsache zu nutze, dass die Dinger ja fast unsichtbar waren, sie verschwanden in immer kürzeren Abständen auf Nimmerwiedersehen. Zudem war das hauchdünne Gewebe nur wenig haltbar. Ein Hauptgefreiter ließ sich an einem einzigen Tag vier Haarnetze aushändigen und ruinierte sie alle vier ("Was kann ich denn dafür, dass mir das Zeugs an meinen rauhen Arbeiterhänden dauernd hängen bleibt und zerreist")

In kürzester Zeit gab es Nachschubprobleme. Nicht einmal die boomende Industrie konnte den nötigen Ersatz beschaffen. Immer mehr Soldaten bedeckten ihr Haupt beschämt mit Fehlteilzetteln, jenen Nachweisen, die bis heute vielerorts fehlendes Material ersetzen müssen.

Einen Nachteil hatten sie allerdings, die neuen Netze: Auf dem Kopf sahen sie bescheuert aus, egal, ob man sie mit oder ohne Kopfbedingung jedweder Art trug.

Die Spieße jubelten, waren sie doch wieder in ihren alten Stand versetzt. es dauerte zwar einige Zeit, bis sie die wiedergewonnene Macht so extensiv ausübten, wie sie das ursprünglich gewohnt waren. Aber seit Mitte der achtziger Jahre sind sie wieder so weit, was nachstehendes Beispiel beweist.

"Die Formulierung: "Das Haupthaar ist kurz zu tragen" ist mir zu ungenau", meinte der Spieß einer Fallschirmjäger-Ausbildungskompanie, "gemessen an einer Heftzwecke ist ein Streichholz relativ lang. Für mich sind acht Millimeter das höchste der Gefühle."

In vorauseilendem Gehorsam entschloss sich einer der Zugführer, bei seinen frisch eingezogenen Rekruten ein dem Spieß gefälliges einheitliches Teileinheitsbild herzustellen. Er stattete zwei seiner Gruppenführer, hochdotierte Fachleute auf dem Gebiet des Haarschnitts, mit Elektrorasierern und Fünf-Millimeter-Abstandhaltern aus und ließ seine Rekruten ausnahmslos scheren wie Schafe auf einer Schaffarm. Versuche Einzelner, einen ordentlichen Frisör zu konsultieren, wurden rigoros unterbunden. Und dies nicht etwa, um die Rekruten zu schikanieren, nein , man wollte ihnen nur ersparen, die mittlerweile kräftig gestiegenen Friseurpreise zu bezahlen.

Irgendwann bekam die Presse Wind von der Geschichte, die Sache wurde zum Skandal. Die Beteiligten wurden in aller Eile versetzt, wobei sie ausnahmslos die Stufen der Karrieretreppe hinauffielen.

Nur eines haben alle Bemühungen, die alten Zustände nach Wiedereinsetzung des alten Haar- und Barterlasses wieder herzustellen, nicht geschafft: Die zwischenzeitlich vorwiegend bei Dienstgraden der mittleren Führungsebene gesprossenen Vollbärte erwiesen sich langfristig resistent gegen alle Versuche, sie wieder loszuwerden. Nicht jeder hat sich damals einen Bart wachsen lassen, aber eines ist sicher: Wenn Sie heute einem ab Oberfeldwebel aufwärts begegnen, der einen Vollbart trägt, dann war der damals schon dabei und hat den langen Marsch durch die Instituonen überlebt.

Zurück zur Umschlagseite Zurückblättern  weiterblättern