2.3. Die Absicherungsneurose(n)
Im Bereich der kollektiven soldatischen Neurosen nimmt die Gruppe der Absicherungsneurosen eine ganz besondere Stellung ein. Das Militär leidet unter einem Sicherheitssyndrom, das sich über den gesamten Militärischen Alltag spannt. Dabei gibt es- neben dem persönlichen Sicherheitsempfinden auch das Problem der personellen und der materiellen Sicherheit.
Die grobe Unterscheidung ist zu treffen in:
Mag sein, dass führende Militärs unter dem Stichwort Absicherung noch ein paar andere Gesichtspunkte verstanden haben möchten, aber diese sind im Zusammenhang mit unseren Betrachtungen vernachlässigbar.
2.3.1. Die Schlüsselordnungsneurose
Der moderne Offizier heutzutage hat ein Vollstudium an einer Bundeswehr-Universität absolviert ehe er auf die Truppe losgelassen wird. Es ist nicht so richtig verständlich, warum das so ist, aber irgendwann hat die Oberste Führung einmal darauf bestanden, dass jeder Offizier mindestens ein akademisches Diplom seinem militärischen Dienstgrad zufügen können muss.
Nun ist gegen akademische Führungskräfte nicht prinzipiell etwas einzuwenden, aber es ist in der Realität eben so, dass eine große Zahl der auf diese Art Offizier gewordenen, diese Laufbahn nicht aus Überzeugung eingeschlagen haben, sondern deshalb, weil es ihre einzige Chance darstellte, unter Umgehung des Numerus Clausus überhaupt ein Studium zu beginnen. Ersatzweise mussten diese Studenten sich dann verpflichten, wenigstens zwölf oder fünfzehn Jahren Dienst in den Streitkräften zu tun, was dann in der Regel mit dem Range eines Hauptmanns und einer anschließenden Karriere eines Versicherungsvertreters endet. Das eigentliche Problem mit diesen Leuten ist, dass sie überwiegend der Auffassung sind, dass die Gattung Mensch erst beim militärischen Dienstgrad Leutnant, die Untergruppe intelligenter Mensch erst mit dem Nachweis eines akademischen Grades beginnt.
Dieser -moderne- Offizier ist nach Abschluss seines Studiums eines für seine Truppentätigkeit so wichtigen akademischen Grades wie etwa Diplom-Pädagoge, Diplom-Volks- oder Betriebswirt, Diplom-Informatiker oder gar Diplom-Hochenergie-Anlagen-Elektroniker.
Letzterer mag sich dann auf Grund seiner Ausbildung zwar für befähigt halten, seine Finger in die Schaltkreise eines Kernkraftwerkes zu stecken, kann aber in der Truppe nur mit Mühe einen Obergefreiten von einem Oberstleutnant unterscheiden. Aber, es führt kein Weg daran vorbei, irgend wann einmal muss er mit der Truppe auf Tuchfühlung gehen, das ist Teil seines Vertrags.
Es soll keine Kritik sein, aber was dem so auf die Truppe losgelassenen Oberleutnant oder Hauptmann fehlt, ist in erster Linie militärische Praxis. Jeder Unteroffiziersanwärter nach dem ersten Laufbahnlehrgang hat da mehr vorzuweisen.
Erfahrene Disziplinarvorgesetzte wissen das, und betrauen deshalb neu zuversetzten Akademiker in der Regel zur Einführung in die Truppenpraxis mit der Verfassung einer zweiten Habilitationsarbeit. Dadurch werden diese in den stand gesetzt, das Problem des Truppenalltags wenigstens theoretisch zu verstehen. Beliebte Themen dafür sind beispielsweise das Erstellen oder Neufassen von Stabsdienst- bzw. Geschäftsordnung oder - und hier beginnt die Neurose, die Überarbeitung oder Neufassung einer Schlüsselordnung
Zum Verständnis: Die (nicht mehr existierende) Nachschubeinheit, aus deren Bereich das nachfolgende Beispiel entlehnt wurde, verfügte über annähernd 2000 (in Worten zweitausend) Schlüssel für Türen, Tore, Hallen und Außenlager, Kraftfahrzeuge und Tankstellen und was weiß ich noch alles. Das Problem, und zu einer Lösung desselben erscheint ein Akademiker prädestiniert, ist, dass nun für jeden einzelnen Schlüssel festgelegt werden musste, wer wann und warum und wie zu ihm Zugang haben sollte und wo der Schlüssel aufzubewahren war, wenn er nicht gebraucht wurde. Die Lösung des Problems, dass aus verschiedenen Gründen bestimmte Leute zu bestimmten Räumen normalerweise keinen Zutritt haben durften, aber im Ausnahmefall, wie beispielsweise die Feuerwehr im Brandfalle, aber doch haben mussten, erwies sich dabei als eine Art Quadratur des Kreises.
Ehe wir zu einem solchen Lösungsvorschlag kommen, noch einige Betrachtungen: In genannter Nachschubeinheit war es Usus, jeden neu zuversetzten Offizier prinzipiell mit der Überarbeitung der bestehenden Schlüsselordnung zu betrauen. Die Vorteile dafür lagen auf der Hand:
Nun, ein Beispiel für einen Lösungsansatz. Dazu muss erläutert werden, dass besagte Einheit über einen kleinen Chemikalien-Lagerraum verfügte und darin über eine geringe Menge der Chemikalie Calzium-Hypochlorid (Chlorkalk), einem ziemlich problematischen Zeug, das früher einmal als Allheilmittel zur Seuchenbekämpfung eingestuft wurde. Nun, es galt also, dieses Calzium Hypochlorid vor unbefugtem Zugriff abzuschirmen, was sich in der Schlüsselordnung wie folgt niederschlug:
Der geneigte Leser mag nun nachrechnen, wieviel Leute der zivile Gerätverwalter allein mit der Schlüsselausgabe beschäftigen musste, um ein Fass mit Calzium-Hypochlorid aus dem Chemikalienlager zu entnehmen.
Bis zur Auflösung besagter Einheit gab es nie eine brauchbare Schlüsselordnung, für die Truppe hatte die ständige Neubearbeitung den Effekt des Xenonschen Paradoxon. ( das war der, der die Schnecke nicht einholen konnte, weil er immer, wenn er die Entfernung zwischen ihr und ihm zurückgelegt hatte, diese ja ihrerseits ein Stück weitergekrochen war.
| Merke:
Nichts ist so beständig, wie die Veränderung! s. auch: Vorschriftenneurose |
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