2.1.2. Die Beziehungsneurose

Ich weiß, normalerweise ist der Begriff "Beziehungskiste" von den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Männlein und Weiblein besetzt, aber wer da glaubt, sie spiele in einer reinen Männerwelt wie einer Armee keine Rolle, der täuscht sich gewaltig.
"Nein, Mutti, nein", stöhnte der Soldat und zog sich die Bettdecke über den Kopf. "Nein, ich steh heut nicht auf und ich geh nicht in die Kaserne. Meine Untergebenen hassen mich! Meine Kameraden verachten und schneiden mich! Meine Vorgesetzten drücken mich, wo sie nur können! Und überhaupt, wo liegt der Sinn, in dem was ich mache? Nein, ich geh heut nicht in die Kaserne"

"Paperlapapp", antwortete die Mutter streng, " selbstverständlich stehst Du auf und gehst wie immer in die Kaserne! Schließlich bist Du sechsundvierzig Jahre alt, Oberstleutnant und Bataillonskommandeur!"

Generell lässt sich die Beziehungsneurose des Soldaten auf vier mögliche Ursachen zurückführen. Dabei muss die Feststellung getroffen werden, dass es zwei Ebenen gibt, in der sie praktisch nicht auftritt. Die Eine ist die unterste Hierarchieebene der Mannschaften: Sie halten sich durchweg in dem Bewusstsein, dasws die "Oberen" ja ohne sie nicht können, für die Größten und alle Vorgesetzten für jenen Körperteil auf dem man gemeinhin sitzt. Die Andere ist die der Generäle, so vom Brigadekommandeur aufwärts. Sie besitzen den Luxus, auf die Befindlichkeiten ihrer Umwelt keine Rücksicht nehmen zu müssen, sie gelten bereits als "politische Spitzenbeamte", und die Sorge um ihre Beziehungskiste beschränkt sich auf das zur jeweiligen Regierung passende Parteibuch (Loyalitätsprinzip)

Wie dem auch sei, die richtige Ursache für die Beziehungsneurose des Soldaten herauszufinden, bedeutet im Prinzip auch schon, sie zu bekämpfen. Sie sind:

  1. Der Soldat glaubt, er wäre bei Vorgesetzten, Kameraden und Untergebenen beliebt. Objektiv wünschen ihn jedoch alle zum Teufel, ohne es ihm direkt zu sagen. Unterschwellig fühlt er das, was ihn zu tiefst verunsichert.
  2. Der Soldat glaubt, er wäre bei Vorgesetzten, Kameraden und Untergebenen beliebt. Objektiv stimmt das, und jeder bestätigt ihm das. Das verunsichert ihn deshalb, weil es eigentlich nicht normal ist
  3. Der Soldat glaubt, er wäre allgemein unbeliebt. Objektiv stimmt das, und jeder zeigt es ihm. Nun schwankt er zwischen der Sehnsucht, beliebt zu sein, und einer abgrundtiefen Furcht vor Autoritätsverlust.
  4. Der Soldat hält sich selbst für allgemein unbeliebt. Objektiv mag man ihn jedoch sehr. Jeden, der ihm versucht, seinen Standpunkt auszureden, hält er nun für einen Kriecher und Schleimer, der auf seinen persönlichen Vorteil bedacht ist

Der in obigem Kasten geschilderte Fall ist ein klassisches Beispiel für eine Mehrfach-Beziehungsneurose. Der Patient, - hier ist es bereits gerechtfertigt, von einem solchen zu sprechen-, schätzt seine Schwierigkeiten in allen Punkten richtig ein.

Dabei ist hier die Situation ziemlich aussichtslos. Die beste Therapie wäre tatsächlich, im Bett zu bleiben.

Doch gleichzeitig mit dem Abklingen der Beziehungsneurose würde hier sofort ein neues Problem auftauchen, die Erkenntnis nämlich, dass den Kommandeur auf seiner Dienststelle niemand vermisst. (Das liegt am verborgenen Wirken dessen, der dort das wahre Sagen hat, dem S3 (Hauptfeldwebel).

So würde gleichzeitig mit dem Schwinden der Beziehungsneurose eine neue, noch viel heftigere "Mein-Gott,-was -bin-ich -überflüssig-Neurose" aufgebaut.

Etwas unverständlich ist die keinen Widerspruch duldende Haltung der Mutter. Durch ihre Dominanz kompliziert sie die Situation unnötig. Sie schürt damit die vorhandene Niemand-versteht-mich-Neurose.

So wird alles beim Alten bleiben: Eine Stunde später wird ein übelgelaunter Kommandeur auf seiner Dienststelle aufkreuzen und seinen verunsicherten Bataillonsstab aufmischen. Damit löst er einen neuen Schub der kollektiven Oh-Schreck,-der-Alte-ist-da-Neurose aus.

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